KLANGMOMENT
gels verlagert wird. Dieser wird zum Ort des Austauschs zwischen beiden Musikern. Sängerin und Klavierspieler singen, spielen und klopfen sich über die Membran des Resonanzbodens zu. Ganz auf die Körperlichkeit des Singens zielt Schmetterlingsfang III für Tenor, Bassklarinette und Klavier von Carsten Hennig ab, wobei «Singen» hier nicht nur den melodischen Gesang umfasst, sondern alle durch die menschliche Stimme produzierten Laute und Geräusche. Textbasis ist die Beschreibung eines Schmetterlingsfangs, die Hennig einem alten naturwissenschaftlichen Lehrwerk zum Ausstopfen von Tieren entnommen hat. Durch fein dosierte Klänge und Geräusche lädt er den nüchternen Prosatext poetisch auf und lässt in einer ironiegeladenen, fantasievoll-imaginierten Miniaturszene die Figur eines verschrobenen Schmetterlingssammlers entstehen. Mit der Unbefangenheit eines der deutschen Liedtradition Fernstehenden nähert sich der Argentinier Oscar Strasnoy in seinem Liederzyklus Müller für Tenor und Klavier der Kunstliedtradition. Er bedient sich zugleich mehrerer mit dem Schubert-Lied eng verbundener Topoi (unter anderem das Wanderer-Motiv, das den Zyklus durchzieht). Textgrundlage sind Gedichte von Wilhelm, Hertha und Heiner Müller, die das Thema der Romantik, die zerstörte Liebe und Einsamkeit, behandeln. Sowohl in textlicher als auch in musikalischer Hinsicht (Behandlung von Schlüsselwörtern, Textausdeutung etc.) ist der Zyklus in hohem Maße dem Kunstlied Schuberts verpflichtet. Weit entfernt hiervon steht das LiPoLied für Stimme,Viola und Klavier von Martin Smolka, das aus einer anderen Tradition des Liedsingens kommt. In seiner minimalistischen Vertonung eines chinesischen Liebesgedichts interessiert den Komponisten in erster Linie das Spiel mit den klanglichen Dimensionen der Wörter (Assonanzen, Vokal- und Konsonantenfarben etc.). Bernhard Lang steht mit seinem vom Rap beeinflussten Songbook II für Bariton und Klavier der Tradition des Kunstlieds denkbar fern. Bei ihm wird vielmehr der Rhythmus der Wörter auf seine Fähigkeit zur Bildung von repetitiven Klangstrukturen abgeklopft. Das (Volks-)Lied spielte im Prozess der Nationalbildung eine wichtige Rolle und gilt seit Johann Gottfried Herder als Inbegriff kultureller Identität. In seinem Liederzyklus Berlinacht für Stimme und Klavier
geht Dennis Bäsecke-Beltrametti dieser identitätsstiftenden Kraft des deutschen Liedes in der heutigen Zeit nach und fragt nach dessen Potenz angesichts einer immer indifferenter werdenden globalen Gesellschaft. In einer Klangcollage lässt der Komponist stilistisch unterschiedlichste, im kulturellen Gedächtnis der Deutschen verankerte Liedzitate aufeinanderprallen (darunter Anton Wilhelm von Zuccalmaglios Kein schöner Land, Johann Wolfgang von Goethes Wanderers Nachtlied, Rio Reisers König von Deutschland, Wolf Biermanns Berlin, du deutsche deutsche Frau). Das Netz, das Bäsecke-Beltrametti aus vertrauten und unvertrauten Klängen schafft, erodiert, die Liedzitate verlieren ihre Kontur und lösen sich auf, bis am Ende nur Reste einstigen Gesangs, Geräusche, Laute und stimmlose Echos vom Klavier übrig bleiben.
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5 So formulierte Wolfgang Rihm den Schaffensprozess beim Liedkomponieren. Siehe dazu: Carolin Abeln: «Günter Schnitzler, Zwischen Struktur und Semantik – Wolfgang Rihm als Liedkomponist», in: Etwas Neues entsteht im Ineinander. Wolfgang Rihm als Liedkomponist, Karlsruhe 2012, S. 42. 6 «Sind noch Lieder zu singen?». Ein Projekt um das Lied in Deutschland nach 1945, 12.–15. März 2015 in Stuttgart. Neben den zwölf Uraufführungen wurden während des Festivals auch weniger bekannte Liedkompositionen der Nachkriegsära aus Ost und West aufgeführt.
POSTMODERNE FORMEN
Das Lied der Gegenwart ist unter dem Einfluss der Postmoderne vielfältiger, aber auch indifferenter und weniger greifbar geworden. Das deutsche Kunstlied bildet nicht mehr nur die alleinige Bezugsgröße für das heutige Liedschaffen. Der leichter gewordene Zugriff auf die Traditionen anderer Kulturen hat dem Lied neue fruchtbare Impulse verliehen. Unterschiedlichste kompositorische Stile und Techniken verschmelzen miteinander, die von der Avantgarde erprobten neuen Formen des Singens werden durchaus sinnvoll und produktiv in die Form des Liedes integriert. Bei alledem entscheidend bleibt jedoch, dass das Melosprinzip, das für das Lied noch immer als gattungsbestimmend angenommen wird, weitgehend gewahrt bleibt. n 1 Theodor W. Adorno: «Fragment über Musik und Sprache», in ders.: Musikalische Schriften I–III (Gesammelte Schriften Bd.16), Frankfurt am Main 1978, S. 252. 2 Peter Horst Neumann: «Wie der deutschen Lyrik das Singen verging. Von Eichendorff zu Paul Celan», in: Musiksprache-Sprachmusik. Symposium zum 70. Geburtstag von Peter Gülke, Zürich 2004 (= Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft) Neue Folge 25/2005, Bern 2006. S. 81; Hermann Danuser: «Einleitung», in: Musikalische Lyrik Bd. 1, hg. von dems., Laaber 2004, S. 23; Andreas Meyer: «Musikalische Lyrik im 20. Jahrhundert», in: Musikalische Lyrik, Bd. 2, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2004, S. 225. 3 vgl. dazu Arnold Schönbergs Aufsatz «Das Verhältnis zum Text» (1910), in ders.: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik (Gesammelte Schriften I), hg. von Ivan Vojtech, Frankfurt am Main 1979; Aribert Reimann: «Krise des Liedes? Zum Lied im 20. Jahrhundert», in: Musica 3/1981, S. 235–236. 4 Zu den gattungsspezifischen Unterschieden der antiken Begriffe «méle» und «lyriké» vgl. Herwig Görgemann: «Zum Ursprung des Begriffs ‹Lyrik›», in: Musik und Dichtung. Neue Forschungsbeiträge. Victor Pöschl zum 80. Geburtstag gewidmet, hg. von Michael von Albrecht und Werner Schubert, Frankfurt am Main 1990; Wolfgang Rösler: «Musikalische Lyrik in der Antike», in: Musikalische Lyrik 1, a. a. O., Laaber 2004.
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INFO n Aribert Reimann: Kinderlieder / Nacht-Räume / Neun Sonette der Louize Labé Christine Schäfer, Sopran; Liat Himmelheber, Mezzosopran; Axel Bauni, Aribert Reimann, Klavier WER 60183-50
n Wolfgang Rihm: Lieder für Bariton & Klavier. Lenz-Fragmente / 6 Gedichte von Friedrich Nietzsche / Wortlos / Neue Alexanderlieder / Wölfli-Liederbuch Holger Falk, Bariton; Steffen Schleiermacher, Klavier Dabringhaus und Grimm, MDG 4999464
n Wilhelm Killmayer: HölderlinLieder nach Gedichten aus der Spätzeit für Tenor und Orchester Peter Schreier, Tenor; Philipp Jungebluth, Kindersopran; RadioPhilharmonie Hannover des NDR, Bernhard Klee 2 CDs, WER 62452
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