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22.11.2016
11:27 Uhr
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Das City Pick ist Geschichte
Bye Bye Frittenfett! ch war noch nie nüchtern dort! Deswegen mag es der Bewertung womöglich ein wenig an Objektivität fehlen«, schreibt ein Kunde in einem der zahlreichen Online-Bewertungsportale. Ausgedehnter Alkoholkonsum, gepaart mit einem späten Heißhunger auf Frittiertes, hat hoffentlich dazu geführt, dass sich auch nach dem 29. Oktober 2016 (dem letzten Tag des »City Pick«) des Nachts noch hungrige Nachtschwärmer lallend an die verglaste Front klammern, um Pommes-Rotweiß oder irgendwas mit Gyros zu fordern. Für kulinarische Nuancen oder zuvorkommenden Kundenservice war die griechische Familie Ztoupis, die den Imbiss beinahe dreißig Jahre lang betrieb, sicherlich nicht bekannt. Was aufgrund der Brennpunkt-Klientel (Zecher, Penner, Fastfood-Masochisten und unbedarfte InterrailTouristen) auch wohl nicht erforderlich war. Das Alleinstellungsmerkmal war die 24/7-Mentalität. Als schamloser Kneipengänger war man der Überzeugung, diese etwas lieblos heruntergerock-
G
uten Tag, Herr Reichkanzler!« – wie Helmut Kohl sich 1997 wohl gefühlt hat, als er so auf der Hannover-Messe begrüßt wurde? Und das von keinem Geringeren als dem britischen Throngemahl Prinz Philip, bekannt für sein politisch unkorrektes Schandmaul. Weniger bekannt ist, dass damals schon jemand diesen Titel führte: Wolfgang Ebel aus WestBerlin, seit 1985 Chef der »Kommissarischen Reichsregierung«. Mit den staatsrechtlichen Wirrungen des Nachkriegsdeutschlands war er nicht nur als Bürger der Viermächtestadt vertraut, sondern ebenfalls als ehemaliger Mitarbeiter der DDR-Reichsbahn, die auch im Westen der Metropole die S-Bahn betrieb. Und so schien es ihm nur folgerichtig, sich als von den Allierten eingesetzter Reichsverkehrsminister, Staats- und Regierungschef zu begreifen, da diese seiner Selbsternennung nicht ausdrücklich widersprochen hatten. Mit dieser Pioniertat eröffnete er das Feld für ein neues Phänomen – die Reichsbürger. Lange belächelt, gelten sie mittlerweile als die Horrorclowns der Politik. Seit ein fränkischer Reichsbürger im Oktober einen Polizisten, der ihn entwaffnen wollte, tötete, gilt dieser Menschenschlag als neue Gefahr. Die meisten von ihnen beziehen sich auf die Weimarer Reichsverfassung oder diverse Verfassungen der Marke Eigenbau, die staatsrechtliche Gültigkeit besitzen sollen. Sie ›trollen‹ Verwaltungen und Gerichte durch Nichtachtung, geben teils eigene Pässe aus. (Nicht sehr originell, die »Republik Freies Wendland« der Atomkraftgegner bei Gorleben verfügte schon
08 · MAGAZIN
FOTO: KLAAS TIGCHELAAR
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te Imbissbude hätte immer geöffnet (in nüchterner Zeitrechnung: am Wochenende immerhin bis fünf Uhr morgens). Dort gab es schnell etwas zu essen, egal ob man aus dem Carpe torkelte, aus dem (längst geschlossenen) Ballhaus wankte, aus der (ebenfalls längst geschlossenen) Destille in die Wesselgasse emporkletterte, oder mit dem Zug aus Köln kommend noch eine Weile bis zum nächsten Nachtbus zu vertrödeln hatte. Die geplante Südüberbauung am Hauptbahnhof hat das Ende des Picks besiegelt; was zukünftig hier stehen wird, ist noch ungewiss.
Nicht das nun fehlende Fast-Food-Angebot ruft Wehmut hervor, sondern die grundsätzliche Veränderung, vor der sich ältere Menschen jenseits der 25 zunehmend fürchten. Auch wenn die Disco längst nicht mehr jedes Wochenende ruft, und die Jugend sich statt mit »Kölsch ein Euro«-Abenden lieber mit Bierpong und Craftbeer-Tastings verlustiert: Welcher Imbiss kann sich schon damit rühmen, dass ein treuer Fan (Michael Selle) bei Facebook eine liebevolle »Closing Party« initiiert? Vielleicht der Dank dafür, dass im Pick eine Pizza (»Pizza Micha«) nach ihm benannt wurde. [ K .T. ]
Heim ins Reich
Die Horrorclowns der Politik vor Jahrzehnten über eigene Dokumente und Insignien.) Reichsbürger neigen zu Paranoia und Verschwörungsdenken. So drücke der Personalausweis aus, dass es sich bei Bundesbürgern um das »Personal« der BRD-GmbH, eines nicht legitimierten Staates, handele. Der oben erwähnte Reichskanzler Ebel vertrat sogar die Auffassung, dass auf dem Perso – vor der Scheckkartenform – ein Teufelssymbol angebracht gewesen sei, aus Geschlechtsteilen bestehend. Ebel starb 2014. Nach dem Tod bedeutender Herrscherpersönlichkeiten kann es bekanntermaßen zu Erbfolgeauseinandersetzungen und sogar zu Reichsteilungen kommen. So begreifen sich verschiedene Akteure als legitime Nachfolger Ebels. »Reichsbankpräsident« Volker Ludwig habe diese Aufgaben übernommen, berichtet die Website des Reichsverfassungsrechtlichen Staates II. Deutsches Reich mit Sitz im thüringischen Kaff Krölpa. Dem Deutschen Reichsanzeiger, Organ der »Amtierenden Regierung« (Reichskanzlei in Borken) zufolge hat man ihn jedoch suspendiert und will ihn den Alliierten übergeben. Ferner soll Peggy Traber – aus einer jahrhundertealten Hochseilartistenfamilie – das Amt der Reichskanzlerin innehaben. Andererseits gab im Mai dieses Jahres Dagmar Tietsch
diese Funktion an Klaus-Dieter Weisheit weiter, der zuvor landespolitische Meriten als »Innenminister« des »Volksstaats Hessen« erworben hatte. Jeder Mensch ist ein Künstler, sagte Beuys, offenbar kann auch jeder Reichskanzler werden. Oder gleich Fürst, König, »Oberster Souverän«, Doppelkaiser und derlei in der reichsideologischen Szene vorfindliche Eigenbezeichnungen mehr. Massenmediale Aufmerksamkeit und grassierende Unzufriedenheit mit dem bestehenden System treiben der Reichsbürger-Szene mehr Interessierte zu, auch wenn sie im Kern überschaubar bleibt. Sogar in Bonn residiert ein hoher reichsbürgerlicher Funktionär: Der Heilpraktiker Thomas Mann vertritt den »Freistaat Preußen«. Er lehnt die »Staatssimulation« BRD ab und hat 2014 vor dem Reichstagsgebäude eine Kundgebung mitorganisiert, an der auch der umstrittene Mannheimer Barde Xavier Naidoo teilnahm. Die (wie Mann) in der Bundesstadt beheimatete Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht verwies den Selfmade-Potentaten kürzlich in seine Schranken, indem sie ihm untersagte, weiterhin Versicherungen wie die »staatliche preußische Krankenkasse« anzubieten. Hoffen wir mal, dass auch für ihn das Sprichwort stimmt: »So schnell schießen die Preußen nicht«. [ C H R I S TO P H L Ö V E N I C H ]
SCHNÜSS · 12 | 2016