Magazin IDENTITÄT

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ist seine Lächerlichkeit, von der er nun weiß. Ein Trottel, Landarzt Bovary – mit dem Bewusstsein eines Flaubert. Wie leben als Idiot? Während im Fall der Unmöglichkeit einer Liebesverbindung die Sympathien des Publikums klar auf der Seite der Liebenden waren, man wünscht, die Liebe möge alle Widerstände überwinden, hat der Verlassene keineswegs die Sympathien des Publikums auf seiner Seite. Im Gegenteil, man versteht den Verlassenden, rühmt seine Entschlusskraft, klatscht ihm Beifall, weil er nicht mit einem solch Unwürdigen zusammengeblieben ist, sich »nicht mehr selbst verleugnet«, sich »endlich wehrt« usw. (Das Publikum war vielleicht sogar Akteur. Zwar sind heute verfeindete Familien selten, nicht selten dagegen ist, dass die subkulturelle Ersatzfamilie, die Clique eines Liebenden Feind des anderen Liebenden ist, dass den Liebenden eine gemeinsame Welt fehlt, weil die Welt des Einen die Aufnahme des Anderen verweigert, dass die kritische Rede langsam verfängt, die Respektlosigkeit des Umfelds zur eigenen wird, der Liebende endlich nicht mehr liebt, sich trennen will, auch um sich wieder ganz mit den Freunden, die an die Stelle von Vater und Mutter getreten sind, zu vereinen.) Der Verlassene erhält den Rat, sich die Sache eine Lehre sein zu lassen, an seiner »Beziehungsfähigkeit zu arbeiten«, »erwachsen zu werden«. Jene, die sich nicht erholen von dem Schlag, sich das Leben nehmen, die Geliebte töten, Amok laufen, sind pathologische Fälle, Unzeitgemäße – den Herausforderungen der modernen Gesellschaft nicht gewachsen. Die Liebesverbindung ist oft die einzige Bindung, die einen Menschen auf Grundlage gegenseitiger Beanspruchung und Bezeugung des alltäglichen Lebens mit einem anderen vereint. Ohne Liebesverbindung lebt der Mensch mit ausschließlich anspruchsarmen Freundschaften und vorübergehenden Kontakten. Sein Leben bleibt unbezeugt. Die Wertverleihung, die nur unter Voraussetzung der vollen Beanspruchung und alltäglichen Bezeugung geschehen kann, entfällt. Was ist die Anerkennung eines Freundes wert, der nichts von mir fordern darf, weder meine Moral noch meine Gefühle auf die Probe stellt, mein Leben nur aus meinen einseitigen, vieles verschweigenden Berichten kennt, meine Stimmungen und Zustände nicht ertragen muss, weder die Last meiner Reden noch die Last meines Schweigens zu tragen hat, nie Opfer meiner Wut, meiner Kälte wird, mein Scheitern nur aus meinen Berichten kennt, nicht als der mit mir Lebende und von mir Abhängende auch die Konsequenzen meines Scheiterns zu ziehen hat, die Konsequenzen meiner Trägheiten und Geschäftigkeiten, meiner Geldnot, meiner Sucht, meines Größenwahns, meiner Hoffnungslosigkeit. Der Freund, mit dem ich nur im Gespräch bin, nie in einer Dynamik, Dialektik, Eskalation, dem ich paarstundenweise begegne, von dem ich mich jedes Mal rechtzeitig verabschiede, bevor er mich aufregt, ich ihn aufrege, dieser Freund kennt mich nicht, er kann mich also auch nicht anerkennen.

Doch der Geliebte kennt mich. Er ist im Besitz der Wahrheit. Sein Urteil, das er mit dem Verlassen ausspricht, gilt. Es ist nicht mehr die Flut der Verliebtheit, es ist die Ebbe der Verliebtheit, die heute eine ungeheuerliche Kraft ist. Wie die Flut einst die Grenzen zwischen den Familien, die Klassengrenzen und die Grenzen der Moral für ungültig erklärte, so erklärt die Ebbe die verlassene Person für ungültig, für wertlos. Das Sichverlieben mag auf einer Illusion beruht haben – das Ende der Verliebtheit ist ein Urteil, das in Kenntnis der Wirklichkeit gefällt wird und dem der Verlassene sich anschließen wird. Als Verlassener erfährt der Mensch die Wahrheit über sich selbst. Jeder, der verlassen wurde, trägt diese Wahrheit ein Leben lang in sich. Er wird für den Rest seines Lebens der Verlassene bleiben. Das Verlassenwordensein ist so etwas wie der Nährboden des modernen Individuums, ewig fruchtbares Substrat.

»Doch der Geliebte kennt mich. Er ist im Besitz der Wahrheit. Sein Urteil, das er mit dem Verlassen ausspricht, gilt.« Weder Vater noch Mutter noch Freunde noch Vorgesetzte sprechen diese Wahrheit aus, nur der Verlassende tut es. Er tut es sogar, wenn er nichts sagt, wenn er schweigend geht. Andere Verlassende sprechen, sind sehr beredt. Was immer getan und gesagt worden ist, was unterlassen und ungesagt geblieben ist, sie erinnern sich daran genau, sie benennen es. Sie sind in der Lage, ihre Gefühle für den, den sie verlassen, akkurat zu beschreiben, ihn aufgrund von Erfahrung meisterhaft zu porträtieren. Für manche wird es die erste Gelegenheit sein, ihre Beobachtungsgabe, ihren scharfen Verstand, ihre Wortgewalt der Welt zu offenbaren. Die Wahrheit bekommt ihr Gewicht, sie wird unvergesslich, weil sie die Ursache ist für das Verlassenwerden. Wie die Freiheit zu gehen, ist die Wahrheit ein unbestrittener Wert. Der Moment des Verlassenwerdens ist der Wahrheitsmoment schlechthin, vielleicht der wichtigste Augenblick im Leben der Heutigen. Der Verlassene ist ein sexuell, sozial und ästhetisch Durchgefallener, erfährt den échec social total, absolutes Scheitern. Wie wünschte er, er hätte vor dem Anderen bestanden. Der Andere lebt weiter. Kein Zorn, keine Bitterkeit. Weder beschäftigt der Verlassene sein Gefühl noch sein Denken. Nicht ein Fragezeichen. Das Vergessen tut sein Werk. Alle Sinne geöffnet; Neues strömt hinein. Keine Vorstellung wäre weiter von der Realität entfernt, als dass er sich tötete um meinetwillen. Man kann von ihm behaupten, was Kafka von dem Raubtier sagt, das den Hungerkünstler ersetzt: »Ihm fehlte nichts.« Dieser Text ist ein Originalbeitrag für das Magazin des Schauspiel Köln.

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