Schauspielhaus Zürich - Journal #11

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Ein Brief an Herrn Brecht

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räzis, verständlich und gegenwärtig, Ihre Worte. Sie verfügen über das poetische, sachliche und polemische Vokabular. Ihr Markenzeichen ist stets Klartext („Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.“), bis heute. Warum schweigen Sie? Sie taten’s schon einmal, als die bunte „Schweizer Illustrierte“ Sie vor der PuntilaUraufführung am Schauspielhaus Zürich zu den Juni-Festwochen 1948 nach was Amüsantem fragte. Denn schliesslich sei die Inszenierung eines Lustspiels ernste Arbeit. Ja, Sie hatten’s als Stückeschreiber auch vorher hier nicht leicht, wahrlich nicht! Nur dank hartnäckigstem Einsatz und listenreichem Engagement eines Ensembles von Emigranten um Kurt Hirschfeld, überwand die Stadt Zürich den ersten Boykott Ihrer Stücke – gleich zwei Mal wurde der Sensationserfolg „Die Dreigroschenoper“ 1929 abgesetzt – und mauserte sich mit den grossen Uraufführungen peu à peu zu einer veritablen „Brecht-Stadt“. Wie Sie’s ja selber erlebt haben, verfolgt und gejagt damals von allen Geheimdiensten, als man Ihnen hier schliesslich einen Wohnsitz auf Zeit nicht vorenthalten konnte. Bis heute

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mehr als erstaunlich, dass dieses neue Volksstück um das finnische Gutsbesitzergrossmaul und seinen Privatchauffeur entgegen aller internationalen Proteste der „Freunde Finnlands“ – Sie galten ja nach dem Zweiten Weltkrieg plötzlich als „verhätscheltes Schosskind aller Theaterleiter und Dramaturgen“ – dann doch nicht abgesetzt wurde. Grün und blau müssten Sie sich ein paar Jahre später geärgert haben, als beim grossen Durchbruch als Weltautor Ihnen Max Frisch die Gefahren der „durchschlagenden Wirkungslosigkeit“ des modernen Klassikers aufzuzeigen versuchte. Bitte nehmen Sie gefälligst zur Kenntnis, dass Sie heute nicht mehr wirklich der sprichwörtlich streitbare und unbequeme Zeitgenosse sind, der Sie einst laut einem Schweriner Domprediger auch nach dem Tod noch zu sein hofften. Und wissen Sie warum und wieso? Das ist so unglaublich, Brecht, das können Sie nicht ahnen. Weil Ihre treusten und ergebensten Verfechter – man nennt sie ehrfürchtig auch „Brechtianer“ – Ihr damaliges experimentelles Gegenwartstheater seit einem guten halben Jahrhundert bewahrt haben. Genau! Weder


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