WO H N U N G S EI G ENTU M S G EM EI N SC HAF T VEITS D O R FER WEG 5, 4210 GALLN EU KI R C H EN
DER ERSTE EINDRUCK ➜
I N H A LT Inhalt / Impressum
2
Vorwort
3
Theorie
4
Architektur
6
Innenräume
10
Projektbeschreibung
12
Soziales
13
Ökonomie
14
Ökologie
16
Psychologie
18
Miteinander leben
18
Raum regt an
19
Raum eröffnet neue Räume
21
Raum braucht Ordnung
22
Wohnform fordert
25
Mit Kindern leben
27
Kindertheater
30
Ein Sommertag
32
Die Bewohner
34
Chronik
35
I M P R E S S U M
TEXTKONZEPT: ALOIS STÖGER UNTER MITHILFE ALLER BEWOHNER. GRAFIK UND SATZ: JOHANN WEISBÖCK • LITHOS UND VERVIELFÄLTIGUNG:
2
TEXT.BILD.MEDIA • FOTOS: FAMILIEN VOM VEITSDORFERWEG 5, LUFTAUF-
NAHME: ZUR VERFÜGUNG GESTELLT VON DER STADT GALLNEUKIRCHEN.
VW5
UNSERE BESCHRIEBENE WOHNANLAGE LIEGT IM NORDWESTEN VON GALLNEUKIRCHEN
V O R W O R T Im Jahr 2001 wurden wir auf den Wettbewerb des Landes Oberösterreich zum Thema „Familienfreundliches Wohnen und Wohnumfeld in Oberösterreich“ aufmerksam. Bei einer Gemeinschaftssitzung wurde der Entschluss gefasst, bei diesem Wettbewerb einzureichen. Auch das 10-jährige Bestehen unserer Wohnanlage war ein Anlass, das Leben im Veitsdorferweg 5 genauer unter die Lupe zu nehmen. Unter
den
Kindern,
ist
Bewohnern, eine
hohe
insbesondere
den
Identifikation
mit
der Wohnform spürbar geworden. Die Kinder präsentieren sich auf den Seiten 32 und 33. WOHNUNGSEIGENTUMSGEMEINSCHAFT VEITSDORFERWEG 5
3
T H E O R I E Die Auseinandersetzung mit dem Thema bringt drei Leitbegriffe zu Tage. Familie – Raum – Leben. Alle Begriffe sind in ihrer Bedeutung einem zeitlichen Wandel unterlegen. Familie
wird
in
unserer
Gesellschaft
noch
immer mit patriarchalischen Erfahrungen verbunden. Der Landeswettbewerb „Familie braucht Raum zum Leben“, „Familie braucht Lebensraum“ setzt an der Familie an. Familie ist die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gemeinschaft, wobei das Gemeinsame in den Vordergrund gestellt wird. Raum definiert sich durch seine Grenzen. Das Erleben von Grenzen ist auch für die Entwicklung von Beziehungen wichtig. Leben
vollzieht
Räumen.
4
sich
in
Beziehungen
und
T H E O R I E
Manche Unzufriedenheit mit dem Leben in der Kleinwohnung führte zu einer Auseinandersetzung mit den uns möglichen Lebensformen und zur Vision von einem eigenen Wohnprojekt. In der Kleinstfamilie werden Kinder meist von den Frauen betreut, während ihre Partner den Tag mit Lohnarbeit verbringen. Diese Form der Arbeitsteilung spaltet die Familie und führt manchmal zu Frustrationen auf allen Seiten. Unzufriedenheit mit Wohnungsgenossenschaften, die den Bezug zum Bewohner verloren haben, regten dazu an selbstbestimmt Wohnbau zu betreiben. Die Idee eines eigenständigen Wohnprojektes wurde von uns aufgegriffen und mitentwickelt.
Über Inserate suchten wir weitere Interessierte für unser mitbestimmtes Wohnprojekt.
5
A R C H I T E K T U R
6
7
ARCHITEKT ADALBERT BÖKER ➜
A R C H I T E K T U R Der Architekt war auch ein Begleiter, ein Anreger, manchmal Provokateur und ein Sammler der vielen verschiedenen Gesichtspunkte, die die Lebenswelt von unterschiedlichen Menschen verbinden sollen. Das Ergebnis ist die Verknüpfung der verschiedenen Gesichtspunkte des Einzelnen und der gesamten Gruppe, begrenzt durch die Möglichkeiten der Technik und der Finanzen. Der Entwicklungsprozess war eine Anregung für uns alle. Wünsche und Wertvorstellungen wurden angesprochen, Bilder vom Glück wurden tangiert, Lebenskonzepte wurden verdeutlicht.
A L S
A R C H I T E K TO N I S C H E
E L E M E N T E
W U R D E N
G R U N D -
V E R E I N B A R T :
• Gemeinsame Nutzung der Außenanlagen, mit dem Recht auf einen abgegrenzten, der familiären Nutzung überlassenen Garten • Gemeinsame Nutzung von Kinderspielgeräten und -anlagen sowie die Errichtung eines Volleyballfeldes als freien Spielraum • Schaffung eines Gemeinschaftsbereiches für gemeinsame Aktivitäten (Gemeinschaftsraum) • Errichtung einer gemeinsamen Werkstätte • Gemeinsamer Fahrradabstellraum zur optimalen Nutzung des Fahrrades • Die einzelnen Wohnungen sind durch Gänge so zu verbinden, dass in Hauskleidung jede andere Wohneinheit erreichbar ist • Individuell gestaltete Innenräume nach den Bedürfnissen der Familie • Baukosten, welche die Förderungsrichtlinien des Landes OÖ. nicht überschreiten • Eigenleistung der Bewohner ist erwünscht, jedoch nicht verpflichtend vorgesehen • Abstimmung der äußeren Baukörper in der Gemeinschaft • Kostenzuordnung soweit wie möglich • Reduktion von möglichen Konflikten Diese Grundelemente wurden verwirklicht.
8
A R C H I T E K T U R
Am Beginn des Projektes standen zentrale Fragen wie: • Was braucht der/die Einzelne? • Was gehört in die Familie? • Was kann gemeinsam organisiert werden? • Wollen
wir
individuell
Eigentümer
eines
Grundstücks sein oder wollen wir den Raum gemeinsam nutzen?
Wir haben uns für eine gemeinsame Nutzung entschieden und das Projekt in Wohnungseigentum gestaltet.
9
EMPORE IM GEMEINSCHAFTSRAUM – SPIELBEREICH FÜR KINDER ➜
I N N E N R Ä U M E Die Innenräume wurden nach den Bedürfnissen der Bewohner mit den Erfahrungen des Architekten in Einklang gebracht. Keine Wohnung gleicht der anderen. Alle Wohnungen haben unterschiedliche
Grundrisse.
Die
einzelnen
Gestaltungselemente sind ebenfalls sehr verschieden. Gleich ist ihnen, dass ein Trend zum Holz und zur Offenheit erkennbar ist.
Ziegel
als
heimischer
Baustoff
bezieht
sich
auf traditionelle Wohnkultur. Beton und Holz werden den statischen Bedürfnissen entsprechend verwendet. Stahl dient als Abgrenzung und Schutz bei den Treppen.
Raum wird bestens genutzt. Räume, die dem Gemeinsamen dienen, werden der Gemeinschaft zur Verfügung gestellt. So entstehen für alle Familie nutzbare Räume in bester Qualität.
10
I N N E N R Ä U M E
Durch das Pultdach gibt es zwar keinen Dachboden dafür viel gut belichteten Raum zum günstigen Preis.
Flexibilität ist möglich. Der Gemeinschaftsraum hat bereits mehrere Gestaltungen erlebt. Derzeit findet wieder eine neue Planung statt. Veränderungen in der Familiengröße und des Alters bewirken natürlich eine neue Raumverteilung in den einzelnen Wohnungen. Hier sind die Grenzen bedeutend enger, jedoch sind immer wieder Anpassungen möglich.
11
ANSICHT VON DER STRASSE IN RICHTUNG HAUPTEINGANG ➜
P R O J E K TB E S C H R E I B U N G Das Projekt wurde in verdichtetem Flachbau auf einem rund 2.700 m 2 großen, leicht ansteigenden Grundstück errichtet. Sieben Familien haben ihre Wohnungen
als
Reihenhäuser
konzipiert.
1
2
Ein
großzügiger Korridor, der die Häuser verbindet, dient bei Schlechtwetter als rund 180 m 2 großer Spielraum. Die Wohnanlage wird durch einen ca. 70 m 2 großen Gemeinschaftsraum (zuzüglich Spielempore)
für
unterschiedliche
Nutzungen,
einer gemeinsamen Werkstätte sowie gemeinsamer Wirtschaftsräume aufgewertet.
3
4
1 EINGANG IN DEN GEMEINSCHAFTSRAUM 2 EINE SPIELEMPORE FÜR UNSERE KINDER IM GEMEINSCHAFTSRAUM 3 DER KORRIDOR VON DER MITTE AUS IN RICHTUNG HAUPTEINGANG 4 DER KORRIDOR VON DER MITTE ZUM AUSGANG ZUR GUSEN HIN
12
S O Z I A L E S
Mitbestimmtes Wohnen setzt am Sozialen an. Jede Mitbewohnerin, jeder Mitbewohner ist gefordert zu kommunizieren, sich einzubringen. Der Bau setzt eine Lernbereitschaft nach allen Seiten voraus. Soziale Investitionen kommen in Form von Erfahrungen, von neuen Freundschaften und von gegenseitiger Hilfe mehrfach zurück. Die neuen Beziehungen zu den bereits hier wohnenden Nachbarn haben wir als spannend DER VOLLE GEMEINSCHAFTSRAUM BEIM ERSTEN NACHBARSCHAFTSFEST
erlebt. Gemeinsam mit ihnen feierten wir das sogenannte „Baustellenfest“, bei dem schon die ersten
Kontakte
geknüpft
wurden.
Das
Ge-
schenk der Nachbarn – ein junger Baum – haben wir als Symbol der neuen Verwurzelung gerne angenommen.
13
ALOIS STÖGER BEIM BRUNNENGRABEN ➜
Ö K O N O M I E Die Schaffung von Wohnraum ist die wahrscheinlich größte Investition im Leben einer Familie. Daher war es notwendig, die Bedürfnisse gut zu kennen um die wichtigen Dinge zu verwirklichen und die weniger wichtigen Dinge für spätere Möglichkeiten offen zu lassen. Es galt zu klären, inwieweit durch eine gemeinsame Nutzung die Kosten reduziert werden können. Eckpfeiler waren die Richtlinien des Landes Oberösterreich, in denen die förderbaren Wohnkosten festgelegt sind. Diese Richtlinien wurden zum Bestandteil des Werkvertrages mit dem planenden Architekten. Sie wurden auch eingehalten.
14
EIN GROSSER GEMEINSAMER BEREICH FÜR VIELE AKTIVITÄTEN
Ö K O N O M I E
Als
besonders
ökonomisch
erweist
sich
die
Nutzung der Gemeinschaftsflächen. Uns stehen große Flächen zur Verfügung, die bezogen auf die einzelnen Wohneinheiten nur wenigen Quadratmetern Grund entsprechen. Die Pflege der großen Gemeinschaftsflächen ist leistbar, da sie durch alle Familien wahrgenommen wird. Jede Familie muss höchstens zweimal im Jahr Rasen mähen und zwei Wochen im Jahr Schnee schaufeln. Die Anschlüsse an die öffentliche Versorgung wurden durch die gemeinschaftlichen Nutzungen billiger. Die Werkstätte, in der wir unser Werkzeug gemeinsam nutzen, wurde zu einem Kommunikationsbereich.
EINIGE BEISPIELE FÜR ÖKONOMISCHE EINRICHTUNGEN
15
UNTERSCHIEDLICHE FASSADENVORBAUTEN AUS HOLZ ➜
Ö K O L O G I E Wir wollen die Räume optimal nutzen, den bebauten Raum den familiären Bedürfnissen
ZIEGELDÄCHER AUF ALLEN UNSEREN HÄUSERN
entsprechend anpassen sowie befestigte Flächen möglichst gering halten. Die Verwendung von umweltverträglichen Baustoffen aus der näheren Umgebung (Holz, Granit ...) war unser Ziel. Viele Entscheidungen wurden nach Umweltgesichtspunkten getroffen.
Ein Experiment war die von der OÖ. Umweltakademie geförderte Regenwassernutzungsan-
GRANITSTEINE IM EINGANGSBEREICH
lage. Wir bauten diese für WC-Spülung, Gartenanlagen und Waschmaschinen ein.
Gemeinsame Organisation reduziert auch den Verkehrsbedarf
der
Familien.
So
ist
durch
Koordination beim Kindertransport zum Kindergarten und zur Schule, bei gemeinsamen Ausflügen und am Weg zur Arbeit die Verkehrsbelastung für die Umwelt geringer.
16
EINE REGENWASSERPUMPENANLAGE IN DER WERKSTATT
Ö K O L O G I E
Der Gemeinschaftsraum ermöglicht auch VerEIN KINDERGEBURTSTAG IM GEMEINSCHAFTSRAUM
anstaltungen im Haus, sodass keine Verkehrsmittel benötigt werden. Es gibt auch ein Gemeinschaftsauto, das von drei Familien benützt und finanziert wird. Die Situierung des Fahrradabstellraumes neben der Eingangstüre auf gleicher Ebene erlaubt die problemlose Nutzung des Fahrrades. Zusätzlich wurde von der Gemeinde in diesem Wohnviertel eine 30 km/h-Zone eingerichtet.
EIN AUSFLUG, BEI DEM DER VERKEHRSBEDARF REDUZIERT WERDEN KONNTE
EIN FAHRRADRAUM MIT ZENTRALEM ZUGANG NEBEN DEM HAUPTEINGANG
17
DEN STANDPUNKT ANDERER HÖREN ➜
P SYC H O L O G I E Mitbestimmt ist nicht immer selbstbestimmt. Es gilt den eigenen Standpunkt zu wahren und dabei den Standpunkt der anderen zu hören, zu integrieren. Oft – aber keinesfalls immer – haben sich durch diesen Prozess sogenannte „win-win“-Situationen ergeben. Jeder hat auch Niederlagen erfahren. Geschwindigkeit spielt im Kommunikationsprozess eine große Rolle. Schnelle Entscheidungen sind weniger demokratisch, bei langsameren ist die Beteiligung aller besser möglich. Entscheidungen werden nicht immer mit rationalen Gesichtspunkten verknüpft. Eine Vorerfahrung, ein emotionaler Vorbehalt beeinflussen den Prozess. Wir haben viele solcher Situationen erlebt, uns diesen gestellt und einen für uns gangbaren Weg gefunden.
18
M I T E I N A N D E R
L E B E N
R A U M
R E G T
A N
Wenn ein geeigneter Raum vorhanden ist, ist der Aufwand für Veranstaltungen gering. Alle Kindergeburtstage werden gefeiert. Die runden Geburtstage der Erwachsenen haben sich zu Events entwickelt, bei denen die Gäste – meist Freunde und Kollegen der Geburtstagskinder – von den kreativen Aktionen der Familien im Hause immer wieder überrascht sind.
19
M I T E I N A N D E R
L E B E N
G E M E I N S A M E
F E I E R N
CONTAINERBLUMEN BELEBEN DEN GANG ➜
B E S TA N DT E I L E
D U R C H S
F I X E
G A N Z E
Der Gang als Kommunikationszentrum.
• Das Jahr beginnt mit einem Gulaschessen.
Immer wieder trifft man sich. Beim Zeitung
• Ein Schitag wird im Jänner ausgemacht.
holen in der Früh, beim Gang zur Waschmaschine, zur Schule oder zur Arbeit. Nicht selten werden hier kurzfristig Fahrgemeinschaften vereinbart. Dieser Raum dient im Winter zur Aufstellung der Containerblumen, dem Erlernen des Dreiradler fahrens, für die ersten Fahrversuche mit den Rollerskates, für Hockeymatches, für Tischtennisspiele und Wettläufe.
Gegenseitige Anregungen erfolgen im Sport. Durch die Situierung des Objektes in der Nähe des Sportzentrums gelingt es, die Einrichtungen Freibad, Tennisplätze etc. optimal zu nutzen. Im Winter spuren wir entlang der nahe gelegenen Gusen eine Loipe. Ein Fitnesstraining im Gemeinschaftsraum motivierte uns zum Besuch des Fitnesscenters. Beim Langsamlauftreff werden Wettbewerbstermine bekannt – und der eine oder die andere wurde bereits beim GusentalGenussmarathon gesehen. 20
U N D
• Ostern wird mit einer Nachtwanderung zur Auferstehungsfeier und anschließendem Frühstück begangen. • Der Schulschluss ist eine Motivation zu einem Gartenfest. • Der engere Familienkreis wird zum Beispiel bei Taufen und anderen kirchlichen Festlichkeiten ausgeweitet. Zu diesen Feiern werden auch die Nachbarn in die Kirche und den Gemeinschaftsraum eingeladen. • Wandertage, Frauen- und Männerrunden ziehen sich durchs ganze Jahr. • Jeden Freitag um 15 Uhr treffen sich die Bewohner zum Kaffee und reden über Alltägliches. Dieser Kommunikationspunkt verführt geradezu zur gemeinsamen Teilnahme an Kulturveranstaltungen, zum Austausch über Entwicklungen im Ort, zur Politik und natürlich auch zum Tratsch. • Der Nikolaus kommt in den Gemeinschaftsraum. • Natürlich wird das Jahr mit einem Silvesterfest verabschiedet.
J A H R
R A U M N E U E
E R Ö F F N E T R Ä U M E
Der Gemeinschaftsraum wird für verschiedene Veranstaltungen genutzt. Er wird von Freunden und Bekannten gerne in Anspruch genommen. Dieser Raum fördert die Integration der Institutionen der gesamten Gemeinde. Unsere Bewohner arbeiten in mehreren kirchlichen Arbeitskreisen und in verschiedenen Vereinen (SPÖ, Gemeinderat,
Laufgemeinschaft
und
Eltern-
verein) führend mit. Ein Treffen im Wirtshaus erübrigt sich, weil hier Besprechungen in privater Atmosphäre abgehalten werden können.
Unsere Räume zeichnen sich durch Flexibilität aus. Der Gemeinschaftsraum und der Gang werden verschiedenen Nutzungserfordernissen angepasst. Sogar Veranstaltungen von Universitätsinstituten fanden hier schon statt.
An der Fassade ist einer unserer Bezugspunkte zur Welt erkennbar: Durch eine Funkantenne sind alle hier wohnenden Familien mit dem Internet verbunden. 21
LEBEN IST NICHT IMMER VOLLSTÄNDIG PLANBAR ➜
R A U M B R A U C H T O R D N U N G Leben ist nicht immer vollständig planbar. Die unendlichen Möglichkeiten des Zusammenlebens
zwingen
zur
Regelung
der
Entschei-
dungsmechanismen. Als Strukturelement wurden bereits in der Planungsphase die Gemeinschaftssitzungen entwickelt. In der Bauphase wurden sie meist von Männern besucht und vom
Architekten
geleitet.
Nach
Bezug
der
Wohneinheiten kam es zu einer Veränderung. Die sich in der Bauphase entwickelte Arbeits-
EINE GEMEINSCHAFTSSITZUNG IN DER PLANUNGSZEIT
teilung wurde aufgelöst und durch neue Aufgaben ersetzt. Es wurde eine autonome Leitung gewählt. Wir vereinbarten die Verwaltung des Wohnprojektes durch eine Familie für jeweils ein
Kalenderjahr
im
Rotationsprinzip.
Jede
Familie ist periodisch für das Gesamte verantwortlich. Einmal im Monat findet eine Gemeinschaftssitzung, geleitet von der Verwalterfamilie, statt. Entscheidungen sind erstmals nur
EINE GEMEINSCHAFTSSITZUNG – FAST ZEHN JAHRE NACH DEM EINZUG 22
R A U M
dann
B R A U C H T
verbindlich,
O R D N U N G
wenn
sie
einstimmig
er-
folgen. Im Falle der Uneinstimmigkeit ist die Angelegenheit zu vertagen, erst nach weiteren drei Wochen ist eine mehrheitliche Abstimmung verbindlich.
Gemeinschaft kostet Geld. Die Anschaffungen werden über ein gemeinsames Konto abgerechnet.
Gemeinsames
gehört
gemeinsam
gepflegt.
Ein klarer Plan regelt die Reinigung. „Putztage“ im Frühjahr und im Herbst beginnen meist mit einem gemeinsamen Frühstück, das die MotivaAUCH KINDER FÜHLEN SICH FÜR DIE PFLEGE DER GEMEINSCHAFTFLÄCHE ZUSTÄNDIG
tion zur Bewältigung der Aufgaben erhöht.
23
TAROCKIEREN GEHÖRT ZUM FIXEN BESTANDTEIL DES GEMEINSCHAFTSLEBENS ➜
R A U M
B R A U C H T
O R D N U N G
Das Leben in der Familie wird durch Haustiere bereichert. Diese brauchen eine konsequente
Pflege
und
können
auch
Probleme
schaffen. Haustiere, welche sich auch in den Gemeinschaftsbereichen
aufhalten
bzw.
auf-
halten können, benötigen die Zustimmung der Gemeinschaft. Wenn bei uns nach der Susi oder dem Ferdinand gerufen wird, dann wird nicht nach Verstecken-spielenden Kindern gesucht, sondern nach Katzen. Auf einem von uns gepachteten Grundstück –
FERDINAND
SUSI
ADSCHI ...
... UND DIE HÜHNER
zwischen unseren Gemüsegärten und der angrenzenden Gusen – haben Kaninchen und einige Hühner einen Stall. Miteinander leben – miteinander lernen. Kinder erleben mehr Spaß an der Hausübung, wenn sie diese gemeinsam machen. Die Wohnform fördert auch solche Interessen. Erwachsene lernen z. B. das Tarockieren. Es ist DAS Kartenspiel, welches zum fixen Bestandteil des Gemeinschaftslebens wurde.
24
W O H N F O R M F O R D E R T Diese mitbestimmte Wohnform fordert alle Mitbewohner heraus. Sie kann auch überfordern. Wir haben eine Familie als Mitbewohner verloren, weil sich herausgestellt hatte, dass die Verbindlichkeit für sie zu hoch war. Der Auszug und die Auseinandersetzung mit den Veränderungen hat jedoch für das gesamte Projekt eine Neubewertung und Vertiefung der Beziehungen ermöglicht.
Einander helfen konnten wir uns beim Gusenhochwasser am 6. August 2000. Durch gemeinsames Arbeiten ist es uns in dieser Stress-Situation gelungen, ein Eindringen des Wassers in den Wohnbereich zu verhindern. Der Garten war zwar nicht zu retten, trotzdem konnten wir uns an diesem Abend noch zu einer Geburtstagsfeier zusammenfinden. Am nächsten Tag unterstützten alle Mitbewohner die Nachbarn GEMEINSAM ZUPACKEN HIESS ES, ALS DIE GUSEN AM 6. AUGUST 2000 ÜBER DIE UFER TRAT
bei der Schlammbeseitigung.
25
UNSER EINZIGER FIXER HOLZZAUN – RUND UM DEN GEMÜSEGARTEN ➜
W O H N F O R M
Eine
spannende
F O R D E R T
Diskussion
entsteht
immer
wieder rund um das Thema Zäune. Wo grenzen wir uns ab? Wo wollen wir offen bleiben? Ein im Bedarfsfall aufstellbarer Zaun schützt die Kinder vor den Gefahren der Straße. Rund um den Gemüsegarten haben wir den einzigen fixen Holzzaun.
Mit den Nachbarn im Wohnviertel pflegen wir regelmäßigen Kontakt. Aus dem sehr gelungenen Baustellenfest entwickelten sich weitere Straßenfeste.
Im gemeinsamen Austausch ist es leichter die örtlichen Gegebenheiten zu nutzen, Initiativen aufzugreifen und durchzuführen und einander zu unterstützen. Besonders hilfreich ist die vorhandene Infrastruktur zur Festgestaltung.
26
M I T K I N D E R N L E B E N Eines der Ziele unseres Projektes war eine kinderfreundliche Wohnform. Wir wollten unsere Kinder integrieren und Möglichkeiten schaffen auch im Alter gut hier leben zu können. Wer Menschen in den Mittelpunkt stellt, muss alle Lebensphasen – also Kleinkinder, Schulkinder, Jugendliche, Erwerbstätige,
Alte,
Kranke
–
und
geschlechts-
spezifische Besonderheiten gleichermaßen berücksichtigen. Daher verstehen wir kinderfreundliches Wohnen als Motor für altengerechtes Wohnen.
Kinder
brauchen
einerseits
Klarheit
und
Be-
ständigkeit, andererseits Platz für Kreativität. Das nahe Gusenufer ermöglicht viele offene Spielsituationen. Der Hügel, die Schaukel, die Sandgrube, der Basketballkorb und die Feuerstelle sind auch für die Erwachsenen Fixpunkte im Garten.
27
GEMEINSAMER SPIELRAUM WIESE ➜
M I T
K I N D E R N
L E B E N
Der Wohnbereich der Kleinfamilie konnte durch den gemeinsamen Spielraum erweitert werden und die Vorteile der individuellen Förderung durch die Eltern erhalten bleiben. Den Wert des gemeinsamen Lebensraumes kann man an den Entwicklungen der Kinder und ihrer sozialen Integrationsfähigkeit in der Schule erkennen. Nicht selten verwenden die Kinder die Modelle der Gemeinschaftssitzung zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten in Schule und Wohnprojekt.
28
M I T
K I N D E R N
L E B E N
Unter unseren Kindern ist auch ein schwerstbehindertes Mädchen. Marisa wird so akzeptiert wie sie ist und nimmt natürlich auch an den gemeinschaftlichen Aktivitäten teil. Das Leben und der Umgang mit ihrer Behinderung lässt
MARISA IN EINER GEMÜTLICHEN KINDERRUNDE
Berührungsängste Einrichtungen
der
verschwinden.
Die
guten
Behindertenbetreuung
in
Gallneukirchen erleichtern die Förderung in der Familie.
Die Jugendlichen haben auch schon ihre kaufmännischen Fertigkeiten trainiert. Das Projekt „AMA“ – nach den Anfangsbuchstaben von Arno,
DIE JUGENDGRUPPE AMA BEI EINEM IHRER AUFTRITTE
Mario
und
Astrid
benannt
–
wurde
gegründet. Dienste wie z. B. Babysitten, Gangwischen, Einkaufen, Rasenmähen wurden von ihnen angeboten. Produkte wie hit-ice und hit-
EIN MODELL DER JUGENDGRUPPE AMA AUS KARTON GEBASTELT
FOTO: ADALBERT BÖKER, ARCHITEKT
drink wurden auf einem von ihnen gestalteten Plakat angepriesen. „AMA“ tanzte auch und spielte Theater.
29
WOLFGANG PLÖCHL – DER INITIATOR DES KINDERTHEATERS ➜ 30
K I N D E R T H E AT E R Ein Siedlungsfest im Sommer 1994 war Anlass,
Nach diesen beiden Stücken kamen wir so rich-
uns mit unseren Kindern in der Welt des Thea-
tig auf den Geschmack. Im Jahr 1996 erarbeiten
ters zu versuchen. Wir spielten die Mäuse-
wir ein Stück von Georg Bydlinski „Der him-
geschichte des „Frederik“, die wir mit einem
beerrote Drache“. Diesmal wurde das ganze
eigenen
Uraufführung
Stück und die eigens dafür komponierten Lieder
fand in unserem Gemeinschaftsraum statt. An-
auf Kassette aufgenommen. Wir spielten das
schließend spielten wir das Stück noch für den
Stück mehrere Male auf der Pfarrhofbühne, die
Kindergarten St. Josef und bei einer Kinder-
produzierten Kassetten waren schnell verkauft.
messe.
1997 bearbeiteten wir das Stück „Ein Schnabel
Durch den Erfolg ermuntert wagten wir uns
voll für Hoppala“ von Mira Lobe – wozu wir
1995 an die Rabengeschichte von Schreiber-
von der Caritas Gallneukirchen einen Auftrag
Wicke „Als die Raben noch bunt waren“. Wir such-
erhielten.
ten einen Namen für unsere Kindertheater-
komponiert und auf CD aufgenommen. Die
gruppe. In Anlehnung an unsere Wohnform
erste Aufführung fand beim Gallneukirchner
nennen wir uns seither „Projekis“. Auch dies-
Marktfest statt. Im November spielten die „Pro-
mal wurde das Stück durch zwei Lieder und erst-
jekis“ im Rahmen eines dreitägigen Caritasfe-
mals auch mit zwei Tänzen bereichert. Außer-
stes im ausverkauften Pfarrsaal ein weiteres
dem nahmen wir die Lieder und die Musik der
Mal.
Tänze in einem Tonstudio auf. Die Aufführun-
Im folgendem Jahr 1998 realisierten wir ein
gen fanden im Pfarrsaal für die Volksschule 1
integratives Stück. Die „Projekis“ spielten mit
und im Rahmen des Pfarrfestes statt.
der Gallneukirchner Theatergruppe „Malaria“
Lied
ergänzten.
Die
Zum
Stück
wurden
sieben
Lieder
LINKE BILDREIHE, VON OBEN NACH UNTEN: „FREDERIK“ „ALS DIE RABEN NOCH BUNT WAREN“ „DER HIMBEERROTE DRACHE“ „EIN SCHNABEL VOLL FÜR HOPPALA“
„TRANQUILLA TRAMPELTREU“
des Diakoniewerkes und einem Instrumental-
Nach einjähriger Pause spielten wir mit unseren
ensemble der Musikschule Gallneukirchen ein
jüngeren Kindern im Jahr 2000 im Rahmen des
Stück von Michael Ende „Tranquilla Trampel-
Pfarrfestes noch „Die Abenteuer von Knozi &
treu“. Die Uraufführung fand in der Gusenhalle
Knazi“.
statt und war ein voller Erfolg. Deshalb mussten
Zusammenfassend war unser Kindertheater für
wir am 16. Jänner 1999 unsere „Tranquilla“ im
alle Beteiligten eine große Bereicherung. Wir
Pfarrsaal noch einmal „marschieren“ lassen.
haben mit unserem Gemeinschaftsraum, der
Auf Einladung spielten wir das Stück noch in
Werkstatt und dem Gang sehr gute Vorausset-
Peuerbach und Treffling. Zum krönenden Ab-
zungen zum Proben. Neben den engagierten
schluss führten wir im Juli „unsere Tranquilla“
Kindern waren auch die Eltern mit Schneidern
noch beim großen Spielefest im Kinderwelt-
von Kostümen, mit Kulissen malen und schie-
museum
das
ben, mit Beleuchtung und natürlich mit der
Schildkrötenstück noch dreimal vor großem
Betreuung der manchmal sehr aufgeweckten
Publikum zeigten.
und
Den Reinerlös unserer Theaterprojekte spende-
beschäftigt.
Schloss
Walchen
auf,
wo
wir
auch
etwas
aufgeregten
Kinderschar
ten wir immer für soziale Zwecke. So überreichten wir im Sommer 1999 35.000 Schilling an Frére Han Yol von der Gemeinschaft von Taizé. Es wurde damit Reis für die Ärmsten in Nordkorea angekauft.
31
KINDER ZEICHNETEN IHR DAHEIM ➜ 32
E I N S O M M E R TA G I N D E R W O H N G E M E I N S C H A F T Die Sonne ist gerade damit beschäftigt langsam
voll ausgenutzt. Wenn es das Wetter erlaubt,
aufzugehen. Die Vögel versüßen durch ihren
wird sie in kürzester Zeit in ein Schlammbad
Gesang den frühen Morgen. Ein neuer Tag hat
verwandelt. Wenn dann mit Hilfe des Garten-
begonnen. Zur Zeit schläft noch alles im Veits-
brunnens zumindest das Schlimmste von den
dorferweg 5. Schließlich erwachen schon die
Händen und Füßen abgespült wurde, sollte man
ersten Frühaufsteher. Die Haustüren bleiben
sich mit einer Runde „Räuber und Gendarm“
jedoch noch verschlossen. Nach einiger Zeit
vom kalten Grundwasser, das der Brunnen von
werden nach und nach Autos müde aus der
sich gibt, aufwärmen.
Garage gefahren um Einkäufe und Ähnliches zu
Sobald das nur 300 Meter entfernte Freibad
erledigen. Manche nutzen ihre Terrassen, um
seine Türen geöffnet hat, findet sich schnell-
in den ersten Sonnenstrahlen zu frühstücken.
stens eine kleine oder auch größere Gruppe, die
Nun versammeln sich immer mehr Kinder aller
das Erlebnisbad inklusiver Rutsche, dessen Was-
Altersgruppen auf dem größten Gemeinschafts-
sertemperatur um die 24 Grad Celsius beträgt,
grund, genannt die „große Wiese“. Man unter-
dem kalten Brunnenwasser vorzieht.
hält sich über Gott und die Welt, erzählt über
Da die beginnende Mittagshitze immer mehr
spannende Abenteuer, denkt zum Beispiel an
zunimmt und sich die Warteschlange an der
den letzten Gemeinschaftsausflug oder träumt
Kassa von Stunde zu Stunde verlängert, ziehen
von Urlaub, Ferien und stellt sich die Frage:
wir es vor, gemütlich unsere Sachen zu packen
„Was wäre wenn? Oder wie wird das sein?“ Die
und langsam durch den Hinterausgang zu ver-
von
Sandgrube
schwinden. Mittlerweile verspüren die meisten
haben auch schon die ältesten Jugendlichen
schon den täglichen Mittagshunger. Für die-
unseren
Eltern
gebuddelte
jenigen ist es dann eine Erlösung, wenn sie von
Sobald die Hitze nachlässt werden Mannschaf-
den Eltern zum Mittagessen gerufen werden. Für
ten für ein tägliches Fußballmatch gewählt. Der
andere ist es oft weniger gut, wenn sie so von
Sprecher bzw. das Tonband des oft parallel
lustigen Vorhaben aufgehalten werden. Diese
laufenden Fußballspieles der Sportvereinigung
bewegen sich dann erst, nachdem sie in etwa
Gallneukirchen (SVG), am drei Häuser weiter-
dreimal gerufen wurden, zögernd und jam-
gelegenen Fußballplatz übernimmt, wenn auch
mernd in Richtung heimatlichen Esstisch.
unbewusst,
An den Nachmittagen unternehmen oft einzel-
oder zu besonderen Anlässen werden in der
ne Familien Bekanntenbesuche oder Ausflüge.
Dämmerung am Gusenufer Grillabende oder
Die, die zurückbleiben trödeln dann wieder
einfach nur ein gemütliches Zusammenkom-
gesättigt auf der großen Wiese ein. Aufgrund
men der Bewohner am Lagerfeuer veranstaltet.
der gnadenlosen Sonne verziehen wir uns in
Da jedes der Kinder nach und nach von der
den angenehm kühlen Verbindungsgang.
Müdigkeit eingeholt wird, bleibt nach kurzer
Da es kaum Sinn ergibt sich zum Freibad
Zeit nur eine kleine Gruppe unermüdlicher
durchzukämpfen, weil man dort ohnehin keine
Erwachsener über, die am wärmenden Feuer
Chance hat sich zu bewegen, geschweige denn
einen für manche stressigen Tag ausklingen
einen Platz zu ergattern, muss der Garten-
lassen – während ihre Kinder wahrscheinlich
schlauch herhalten. Der Gemeinschaftsgrund
schon vom nächsten Tag im Veitsdorferweg 5
wird zur Liegewiese. Um sich vor Langeweile zu
träumen.
schützen wird die Gusen zum Erlebnisbad um-
Erarbeitet von den Kindern Astrid, Elisabeth, Teresa, Magdalena, Jakob,
funktioniert und erkundet.
Paul, Florian, Matthias, Mario. Geschrieben von Astrid.
unsere
Unterhaltung.
Manchmal
33
UNSERE VERTRAUTEN TIERISCHEN MITBEWOHNER ➜ 34
D I E
B E W O H N E R
DIE BEWOHNER DER HIER BESCHRIEBENEN WOHNANLAGE – VERSAMMELT AM SOGENANNTEN „REITERKOGEL“
C H R O N I K Standort: 4210 Gallneukirchen, Veitsdorferweg 5 Planung und Bauleitung: Projektgruppe 4100 •
Arch. Dipl. Ing. Adalbert Böker, Ottensheim Bauherr: die einzelnen Bewohner für sich und gemeinsam als Gruppe Ideenentwicklung: ab Juni 1988 Interessentensuche und Planung: 1988 bis 1991 Baubeginn: August 1991 Fertigstellung: 1993 Einzug der Familien: November 1992 bis März 1993
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