Brennpunkt Gesundheitspolitik Nr. 2/2017

Page 1

2 | 2017

In Qualität und Effizienz investieren Rationalisierung ja, Rationierung nein

Hindernis Kantonsgrenzen Unser föderaler Staatsaufbau gibt den Kantonen im Gesundheitswesen grossen Gestaltungsspielraum.Aufgrund der Patientenströme, die nicht an den Kantonsgrenzen Halt machen, muss der «Kantönligeist» hinterfragt werden. Es geht darum, in Versorgungsregionen zu denken und Überversorgung zu vermeiden. Heinz Brand, Präsident santésuisse

Qualität und Effizienz müssen zum Leitfaden unserer Gesundheitsversorgung werden. Überflüssigen, wirkungslosen und qualitativ ungenügenden Leistungen muss hingegen der Kampf angesagt werden.

schaftlichkeit und Qualität in der Krankenversicherung ebenfalls zu unterstützen. Gerade im ambulanten Bereich fehlen den Patienten heute vergleichende Qualitätsmessungen und -kriterien, um den Arzt nach fachlichen Kriterien auswählen zu können.

Aktuell spielt Bundesbern mit dem Gedanken, die Kosten der Krankenversicherung mit Globalbudgets zu deckeln. Die Vorstellung, notwendige und wirksame Leistungen dereinst mit Globalbudgets zu beschränken, dürfte von der Bevölkerung kaum goutiert werden.

Bundesrätliche Qualitätsvorlage verbessern statt ablehnen Die Schweiz tut also gut daran, in die entsprechende Qualität und Effizienz zu investieren. Wem unser Gesundheitssystem wichtig ist, kann sich nicht ernsthalt gegen bessere Qualität und entsprechende Transparenz einsetzen. Früher oder später sind wir alle persönlich auf unser Gesundheitssystem angewiesen.

Ärzte müssen sich bewegen Dass sich nun die Ärzte gegen Globalbudgets und Rationierung wehren, ist verständlich und wird von santésuisse unterstützt. Wer A sagt sollte aber auch B sagen: Die Ärzte sollten auch mithelfen, überflüssige, wirkungslose und schädliche Leistungen aktiv zu vermeiden, damit undifferenzierte «Rasenmäher -Methoden» wie Globalbudgets und Rationierung gar nicht erst mehrheitsfähig werden. Es stünde der FMH deshalb gut an, die Vorlage für mehr Wirt-

INHALTE Im Westen nichts Neues!

2

Föderalismus ja – aber mit mehr Augenmass

3

In Kürze

4


2  BRENNPUNKT _ santésuisse

Im Westen nichts Neues! Unglaubwürdiger Anlauf zur Kantonalisierung der Krankenversicherung

Wiederholte demokratische Entscheide auf nationaler Ebene passen ihnen nicht ins Konzept. Die Staatsräte Mauro Poggia (MCG) und Pierre-Yves Maillard (SP) wollen die Macht der Kantone im Gesundheitswesen massiv ausweiten und die Krankenversicherer enteignen und entmündigen. Viel wirkungsvoller wäre es, die föderalistisch verursachten Überkapazitäten in der medizinischen Versorgung abzubauen. Das schlechte Wetter kommt aus dem Westen, sagt man. Und so verheissen auch die von Genf und Lausanne her kommenden neusten Tiefdruckgebiete in Sachen Krankenversicherung nichts Gutes: Zum vierten Mal innert 20 Jahren soll mit Volksinitiativen das faktische Ende der privatrechtlich organisierten Krankenkassen herbeigeführt werden, die seit weit über hundert Jahren der Bevölkerung finanzielle Sicherheit bei Krankheit garantieren. Kantonalisierung der Krankenversicherung Erst im vergangenen Jahr hatten die beiden Staatsräte offensichtlich die Fédération romande des consommateurs (FRC) vorgeschickt, um ihr Vorhaben auf eine breitere Basis zu stellen. Nachdem dies nicht gelang und die FRC das Anliegen infolge der fehlenden Unterstützung insbesondere in der Deutschschweiz ad acta legte, müssen die beiden Staatsräte jetzt selber aktiv werden, um den Einfluss ihrer Kantone maximieren zu können.

Universitätsspital Lausanne © CEMCAV-CHUV

Kantone gegen Prämienzahler Der Einsatz der Kantone für tiefere Prämien ist wenig glaubwürdig: Zum einen setzen sie sich bei den Tarifverhandlungen regelmässig zu Gunsten höherer Abgeltungen für «ihre» Klinken ein, insbesondere ihrer Universitätsspitäler. In der Vergangenheit wurde zuweilen sogar darauf verwiesen, dass die Krankenversicherer die höheren Tarife für die Klinken ja mit «etwas höheren» Prämien kompensieren könnten.

Die Kantone verweigern die gleiche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen. Zum anderen setzen die Kantone aktuell auf eine beschleunigte Verlagerung von stationären zu ambulanten Leistungen. Mit sogenannten «Operationslisten» wollen sie vorschreiben, welche Eingriffe ambulant gemacht werden müssen, weil sie in diesem Fall keinen Kostenanteil zu bezahlen haben. Die gleiche Finanzierung von

Leistungen, die ambulant oder stationär erbracht werden können, verweigern die Kantone. Sie würde eine gerechte Verteilung der Einsparungen und Kosten zwischen Prämienzahlern und Kantonen ermöglichen. Überbordender Föderalismus heizt Prämienanstieg an Der überbordende Föderalismus ist schon heute eines der Kernprobleme des schweizerischen Gesundheitswesens. Gerade die Kantone Genf und Waadt sind dafür Paradebeispiele: Beide führen eigene Universitätsspitäler, was die Prämien- und Steuerzahler zusätzlich hunderte von Millionen Franken kostet. « Die Machtkonzentration und Interessenkonflikte von Kantonen wie Genf und Waadt sind ein Teil der Misere und nicht die Lösung«, sagt deshalb Verena Nold, Direktorin von santésuisse. Nicht besser verhalten sich diese beiden Kantone, wenn es um den schweizweiten Qualitätswettbewerb im Spitalbereich geht. Mit happigen Subventionen zu Gunsten ihrer eigenen Spitäler (Kanton Genf) oder protektionistischen Quotendiskussionen (Kanton Waadt) hintertreiben sie aktiv den Qualitätswettbewerb mit ausserkantonalen Spitälern. Die Folge ist eine latente Strukturerhaltung, die unnötige Kosten zu Lasten der Prämien- und Steuerzahler zur Folge hat.


santésuisse _ BRENNPUNKT  3

Kantönligeist verhindert Reformen Föderalismus ja – aber mit mehr Augenmass

Zwischen «Garantieren» und «Bevormunden» bewegen sich die Kantone mit ihrer Interpretation des Verfassungsauftrags zur Gesundheitsversorgung. Stossend ist aber vor allem die ungleiche Finanzierung der ambulanten und stationären Leistungen. Hier sollten die Kantone endlich Hand bieten zu besseren Lösungen. Unser Gesundheitssystem krankt an Ineffizienz und Fehlversorgung. Damit einher geht ein jährlicher Kostenanstieg, dem die Löhne und Renten nicht zu folgen vermögen. Kantone könnten Abhilfe schaffen Dabei haben es die Kantone in der Hand, die Schweiz zu einer deutlich effizienteren und qualitativ besseren Versorgung zu führen. Einige Kantone halten sich jedoch lieber an Ihrer Macht fest, anstatt das System zu verbessern. Mit einer überkantonalen Angebotsplanung könnten die Milliarden verschlingenden Überkapazitäten und Prestigeprojekte abgebaut werden. Mit einem Bekenntnis zur gleichen Finanzierung aller Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) wäre ein erster Schritt getan, damit die grundsätzlich sinnvolle Verlagerung von stationären zu ambulanten Leistungen nicht mehr zu Lasten der Prämienzahler erfolgen würde und zudem Sparanreize für die gesamte OKP entstünden. Teurer Alleingang der Kantone Aktuell macht es den Anschein, dass die Kantone weder zu Gunsten der überregionalen Planung noch der gleichen Finanzierung aller

OKP-Leistungen einen Schritt machen wollen. Die Folgen der ungenügenden interkantonalen Versorgungsplanung gehen finanziell zu Lasten der Prämien- und Steuerzahler, welche die Überkapazitäten berappen müssen. Aber nicht nur das: Die Prestigemedizin der Kantone leidet oft unter zu tiefen Fallzahlen, womit die Patientinnen und Patienten auch noch gleich den schwarzen Peter puncto Qualität einziehen. Die einzige funktionierende Übereinkunft zwischen den Kantonen bei der Versorgungsplanung scheint weiterhin darin zu bestehen, sich nicht dreinreden zu lassen.

Eine überkantonale Angebotsplanung würde Überkapazitäten abbauen.

Patientenströme halten sich nicht an Kantonsgrenzen Bei der Beratung der neuen Spitalfinanzierung hatte sich das Parlament klar für eine schweizweite Sichtweise und gegen die kantonale Abschottung entschieden. Die Kantone hatten dies bekämpft und wollten gar keine ausserkantonale Wahlbehandlungen ihrer Bürgerinnen und Bürger mitfinanzieren. Es ist an der Zeit, dass der Gesetzgeber den

Kantönligeist dort in Schranken weist, wo er den schweizweiten Qualitätswettbewerb mit Planwirtschaft und Strukturerhaltung behindert. Längerfristig stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie lange die Prämien- und Steuerzahler die föderale Über- und Fehlversorgung noch zu bezahlen bereit sind. Vor allem bei komplexeren medizinischen Eingriffen hält sich die Bevölkerung immer weniger an die Grenze des eigenen Kantons. Und warum soll man für etwas bezahlen, das man nicht braucht oder das qualitativ zweifelhaft ist? Licht in die «Blackbox» der Patientenströme santésuisse ist der Ansicht, dass die medizinische Versorgungsplanung nach den real existierenden Versorgungsregionen erfolgen sollte statt nach Kantonsgrenzen. Notabene steuert der Kantönligeist heute weitgehend eine Blackbox. Die realen Patientenströme wurden gar nie aufgearbeitet. Auch die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat in ihrem kürzlichen Positionspapier «Steuerung der Anzahl und der Verteilung von Ärztinnen und Ärzten» betont, dass zuerst eine entsprechende Datengrundlage geschafften werden sollte, bevor die Steuerung der Versorgung überhaupt Sinn mache. Aufgrund dieser Überlegungen wird santésuisse der Öffentlichkeit noch dieses Jahr eine Studie präsentieren, welche Licht in die schweizweiten Patientenströme bringen wird.


4  BRENNPUNKT _ santésuisse

In Kürze SP OT T DROSSEL

BLOG-TELEGR AMM Physiotherapie-Tarifstruktur muss überarbeitet werden

Wir wären nicht überrascht, wenn der Bundesrat dem Spion Daniel M. bald eine neue Aufgabe in der Aufsicht zur Krankenversicherung zuweisen würde: Wo beim Berechnen von Prämienregionen und im Umgang mit kleinsten Krankenkassen Sachverstand und Fingerspitzengefühl gänzlich fehlen, ist der Mann sicher goldrichtig. Pessimisten befürchten sogar, Daniel M. könnte die Kostendaten von Nordrhein-Westfalen einschleusen, um die angekündigten neuen Prämienregionen für den Kanton Bern zu berechnen. Optimisten sehen das weniger dramatisch, da die bis diesen Sommer angekündigte neue Berechnungen kaum schlimmer ausfallen könnten als der erste Vorschlag des Amtes. Der eidgenössisch anerkannte Schlapphut könnte fortan auch unverdeckt gegen jede Krankenkasse ermitteln, welche es tatsächlich noch wagt, im Alltagsgebrach Karteikarten, Schreibmaschinen oder Faxgeräte einzusetzen. Selbst wenn sich dann noch der Nachrichtendienst einschalten sollte, wäre das einerlei: Dass die Krankenkasse Turbenthal wegen solcher «Vergehen» vor das Bundesverwaltungsgericht gezerrt wurde, ist an Unverhältnismässigkeit ohnehin nicht mehr zu überbieten.

Während das BAG den Turbenthaler also vor den Kadi zieht, könnten andere, die Weltgeschichte schreiben wollen, von ihm lernen: Er ist der einzige, bei dem sensible Daten selbst vor den Hackern in Moskau sicher sind. An russische Machtpolitk erinnert auch die Empfehlung des GDK-Vorstandes, die gleiche Finanzierung von stationären und ambulanten Leistungen bereits im Grundsatz abzulehnen. Das Gremium erhält den Kaktus für ein Übermass an Ignoranz und Machtpolitik. Falls unsere Kakteen nicht bereits rationiert wären, kämen auch jene Kreise in die Kränze, die aus Eigeninteresse unaufhörlich verbreiten, dass sich die reiche Schweiz die aktuellen Prämienaufschläge noch viele Jahre ohne Abstriche leisten könne. Wir fragen uns, was die Bevölkerung, insbesondere viele Familien, welche die Prämien nicht mehr bezahlen können, von solchen Aussagen hält.

Weil sich die Krankenversicherer und Physiotherapeuten nicht über die Tarifstruktur in der Physiotherapie einigen konnten, hat der Bundesrat am 22. März 2017 beschlossen, einzugreifen und eine leicht geänderte Tarifstruktur für die Physiotherapie in die bis am 21. Juni 2017 dauernde Vernehmlassung zu schicken. Diese würde Anfang 2018 in Kraft treten. Für santésuisse ist wichtig, dass die neue Tarifstruktur nicht erhebliche Mehrkosten zulasten der Grundversicherung und damit der Prämienzahler verursacht. So sind die Kosten für physiotherapeutische Leistungen zwischen 2011 und 2015 um über 40 % auf aktuell eine Milliarde Franken gestiegen. Im gleichen Zeitraum stiegen die Gesamtkosten zulasten der Krankenversicherung mit rund 20 % weniger rasch. Es ist zudem eine starke Zunahme der Anzahl Praxen zu beobachten. Mit der steigenden Zahl der Physiotherapiepraxen ging seit 2011 eine Zunahme der Physiotherapiesitzungen um 46 % einher. Die zu beratende Tarifstruktur schlägt beispielsweise neue Fakturierungsregeln, eine Reduktion der Tarifpositionen und eine Festlegung der Physiotherapie-Sitzungsdauer vor. Gemäss Bundesrat sollen diese Massnahmen negative Anreize mindern und zu mehr Transparenz beitragen.   http://santesu.is/sepnw

bleibt denoch fröhlich eure Spottdrossel

IMPRESSUM  santésuisse – Die Schweizer Krankenversicherer, Römerstrasse 20, Postfach, 4502 Solothurn, T 032 625 41 41, E mail@santesuisse.ch, W www.santesuisse.ch


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.