SISSY dreizehn — Homosexual’s Film Quarterly

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wir verreisen

Queer und erwachsen berlinale / Jean Christophe Husson

Von A n dr é W en dl e r

Die schönsten Entdeckungen des Berlinale-Queer-Programms – und ein paar grundsätzliche Überlegungen.

„Keep The Lights On“ von Ira Sachs (2012)

s Es kommt die Zeit im Leben der meisten queeren Menschen, wo Coming-Out und erste nicht-heterosexuelle Erfahrungen lange vorbei sind und die damit verbundenen Fragen und Probleme ihre Dringlichkeit verlieren. Das queere Kino befasst sich gern mit solchen Erweckungsszenarien, vielleicht, weil sich dann das straighte Publikum einreden kann, es habe für alle eine Zeit des Normal-Seins gegeben. Mit großer Genugtuung und auch Überraschung habe ich im diesjährigen Berlinale-Programm eine Reihe queerer Filme gesehen, in denen keine Gründungsmythen diverser Identitäten heruntergebetet werden, sondern in denen erwachsene queere Menschen erwachsene Probleme haben, die auch jede_r andere haben könnte, die aber eine spezifisch queere Farbe bekommen. Jaurès ist einer dieser Filme, der glücklicherweise und völlig zu Recht den Spezialpreis der TeddyJury bekommen hat. Der Regisseur zeigt einer Kollegin einen Film, den er in der Wohnung seines ehemaligen Geliebten Simon gedreht hat. Zu sehen sind afghanische Flüchtlinge, die vor dem Fenster am Kanal kampieren müssen, weil sie illegal in Frankreich sind und ein Ende ihrer Illegalität nicht in Sicht ist. Gleichzeitig erzählt er ihr von seinem Geliebten, dem Schmerz und der Freude, die ihre in vielerlei Hinsicht besondere Beziehung produziert hat. Die Spannung, die sich zwischen den intimen Überlegungen zur Liebe zweier Männer, von denen einer schon Opa ist, und der distanzierten Beobachtung der Flüchtlinge ergibt, ist nicht immer leicht zu ertragen. Sie zeigt aber, das queeres Begehren niemals jenseits der räumlichen und zeitlichen Zufälle urbanen Lebens existiert und fortwährend mit Dingen konfrontiert ist, die vordergründig scheinbar wenig miteinander zu tun haben. Jaurès verkneift sich dabei Plattitüden über das Politische der persönlichen Beziehungen und fordert seine Zuschauer_innen dazu auf, sich zu den Zutaten seines filmischen Experimentierkastens selbst in Beziehung zu setzen. Der Gewinner des Teddy Awards, Keep the Lights on, weiß von derartigen formalen Experimenten nichts. Es ist ein ziemlich geradeheraus erzählter Spielfilm über die Beziehung zweier Männer, die über etwa zehn Jahre begleitet wird. Die beiden gehen durch alle Phasen, die sich in einer Beziehung denken lassen. Vieles von dem, was den beiden begegnet, von der Frage nach Treue oder Polyamorie, Verbindlichkeit, Lachen und Leiden, könnte in ähnlicher Form in fast jeder Beziehungskonstellation auftauchen. Der Film schafft es aber, diese generellen Beziehungsfragen immer wieder um spezifisch großstädtisch-schwule Belange zu ergänzen. An der komischen und unerträglich traurigen Beziehung von Eric und Paul ist alles allgemein und spezifisch zugleich. Beziehungsarbeit ist damit immer auch die Justierung der spezifischen Situation am jeweiligen Erwartungshorizont. Im Kino bilden die klassischen Beziehungsnarrative noch immer diesen Horizont. Keep the Lights on hat diese Erzählungen immer im Hinterkopf und serviert sie einmal in Reinform,

um ihnen beim nächsten Mal in einer gewitzten Volte auszuweichen. Im Forum der Berlinale haben zwei Filme, die man unbedingt zusammen sehen muss, einmal dem Zustand heterosexueller Ehen und Beziehung auf den Zahn gefühlt. What is Love und Beziehungsweisen haben offenbar bis ins Letzte verstanden, was daraus folgt, wenn eine éducation sentimentale unter den Bedingungen des Kinos absolviert wird. In beiden Filmen werden Paarbeziehungen durch das Kinoauge betrachtet: Einmal sitzen Schauspieler_innen als Paare in Paartherapien, einmal spielen Familien Szenen aus ihrem Leben, als seien sie darin nur die Statisten. Die Begegnung der beiden Filme ist spannend: An den echten Personen hängen ihre realen Probleme wie ausgetragene übergroße Kleidungsstücke. Die Schauspieler hingegen stecken in ihren Rollen wie in Maßanzügen. Die Liebesund Beziehungskonzepte, die in beiden Filmen vorgeführt werden, bleiben immer auf Film und Kino bezogen. Calle Overweg hat die Geschichten, die den Improvisationen seiner Schauspieler_innen als Grundlage dienen, von ihm geschätzten Filmen entnommen. Die Bilder von Ruth Mader sehen aus wie neueste Berliner Schule. Wir können, so scheinen sich beide Filme gegenseitig zu kommentieren, jenseits kinematografischer Techniken und Repräsentationen gar nicht mehr verstehen, was Pärchen sind und wie sie funktionieren. Das wäre nun aber, bei aller Konventionalität der Anordnungen in beiden Filmen, eine ziemlich weitreichende These. In jedem Darkroom, in jedem Ehebett, bei jedem Date, bei jeder Trennung, schliefen, stritten, küssten, fickten, weinten Kinobilder, Kinofiguren, Kinokonzepte, Kinoliebhaber_innen mit. In anderen Filmen der diesjährigen Berlinale finden wir ähnliche Konstellationen: Die Beziehung der beiden Jungs in Westerland lässt sich nur verstehen, wenn man sie nicht nur vor dem Hintergrund der gleichnamigen Landschaft begreift. Man muss das ganze Repertoire affektiver Liebeslandschaften des amerikanischen Western oder des Heimatfilmes mitdenken, um zu verstehen, warum Beziehungen in den Tönen der gefrorenen Nordsee etwas anderes sind als solche aus der Glut des Südens. Die Wiederaufführung von Tom Kalins Swoon hat uns daran erinnert, wie untrennbar bestimmte Paarbeziehung an die Kinobilder ihrer Zeit gebunden sind. Der Film reflektiert nämlich nicht nur die politischen Fragen seiner Entstehungszeit, sondern mindestens genauso intensiv die Konventionen schwuler Beziehungsbilder der 1920er Jahre, in denen er spielt. Filme wie diese haben uns in diesem Jahr daran erinnert, dass mit queeren Inhalten und Figuren allein kein queeres Kino zu machen ist. Queeres Kino muss immer beiden gerecht werden: den Queers und dem Kino. Filme, die beide Register ziehen können, sind für mich erwachsenes queeres Kino. Daran sollten sich nicht nur die Filmemacher_innen von Zeit zu Zeit erinnern, sondern auch die Auswahlkommissionen der Filmfestivals mit verstärkt queeren Ansprüchen. s 37


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