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«Ich mag türkische Läden» Bea Wyler, die einzige Schweizer Rabbinerin, isst am Pessachfest Aargauer Rüblitorte, reduziert ihren Fleischkonsum und schätzt die jüdische Streitkultur. Interview: Christiane Binder | Fotos: Jos Schmid

Bea Wyler, geboren 1951, wuchs in Wettin­ gen AG auf. Nach dem Studium der Agronomie in Zürich leitete sie als erste Frau das Wissen­ schaftsressort der «Basler Zeitung». Später studierte sie in London und New York, Berlin und Jerusalem jüdi­ sche Theologie. 1995 wurde sie in Deutschland der erste weib­ liche Rabbiner. 2004 kehrte sie in die Schweiz zurück, wo sie heute als Rabbi­ nerin tätig ist.

Der Sicherheitsangestellte an der Pforte der Israe­ litischen Cultusgemeinde ICZ an der Zürcher Lava­ terstrasse, auf deren Areal sich das Restaurant O ­ live Garden befindet, blickt streng. «Mit wem sind Sie verabredet? Bea Wyler?» Er notiert den Namen, greift zum Telefon. «Warten Sie, bis Sie abgeholt werden.» Nach ein paar Minuten kommt die Rab­ binerin. Zur Begrüssung überreicht sie ein Glas selbst gemachte Cassismarmelade. Saisonküche: Wissen Sie schon, was Sie essen wollen? Bea Wyler: Mein Bruder sagt, hier gebe es das beste Wiener Schnitzel. Da die Auswahl an koscheren fleischigen Restaurants klein ist, ist der erste Rang relativ. Ich möchte endlich die Gelegenheit nutzen, es zu probieren. Was ist der Unterschied zu einem anderen Schnitzel? Es ist von koscherem Kalbfleisch und in Pflanzenöl gebacken. Was versteht man unter koscheren Speisen? Das sind Nahrungsmittel, die nach der Kaschrut, also den jüdischen Speisegesetzen zubereitet wurden. Bei diesen Gesetzen geht es darum, Heiligkeit zu üben, wozu sich der Alltag sehr gut anbietet. Beim Verzehr von Fleisch müssen drei ­Aspekte stimmen: das richtige Tier, die richtige Schlachtung und die richtige Zusammensetzung auf dem Teller. Erlaubt ist das Fleisch von wiederkäuenden Paarhufern, also Rind, Ziege, Schaf. Auch Geflügel geht. Fisch ist in der Kaschrut kein Fleisch. Die Tiere müssen nach jüdischen Vorschriften geschlachtet sein. Schliesslich dürfen wir Fleisch nicht mit Milchprodukten in einem Gericht oder einer Mahlzeit mischen. Deswegen gibt es «milchige» und «fleischige» Restaurants. Und deswegen ist das Schnitzel nicht in Butter gebraten – und eigentlich kein Wiener Schnitzel.

Ist es schwierig, sich in der Schweiz an die Kaschrut zu halten? Die Trennung von Fleisch und Milch ist Gewohnheitssache, sie geht einem buchstäblich in Fleisch und Blut über. Zugegeben, mit nur drei oder vier koscheren Metzgereien in der Schweiz ist es etwas schwierig beim Fleisch. Das lässt sich aber ­organisieren. Mein Mann und ich haben zudem ­einen Garten und produzieren einiges an Gemüse und Beeren selbst. Und auf dem Markt sowie in den Geschäften gibt es alles frisch zu kaufen. Besonders mag ich die türkischen Läden, in denen ich Bohnen- und Erbsensorten finde, die auch in der israelischen Küche eine wichtige Rolle spielen. Das Schnitzel kommt, dazu Pommes allumettes und Gurkensalat, von Bea Wyler mit Kennerblick in­spi­ ziert, probiert und für gut befunden. Man sieht, dass Sie etwas vom Essen verstehen. Ich koche und backe sehr gerne. Ich experimen­ tiere auch sehr gern. Und mein Keller ist voll von home-made Konserven aller Art. Mein Mann und ich essen wenig Fleisch. Nicht nur, weil es etwas umständlich ist, koschere Ware zu beschaffen, sondern auch, weil das umweltverträglicher ist. Ich achte darauf, woher unsere anderen Lebensmittel kommen und wie sie produziert werden – auch aus Kaschrut-Gründen! Ich bin aber keine orthodoxe Bio-Tante. Aber Agrarthemen sind Ihnen doch wichtig? Ich habe an der ETH Zürich in Agronomie ab­ geschlossen. In den 70er-Jahren standen ökolo­ gische Fragen aber noch nicht so im Vordergrund wie heute. Nachhaltigkeit war sozusagen kein Thema. Ich habe mich immer dafür interessiert, wie man die Welt-Ernährungslage verbessern könnte, wurde aber ernüchtert, als ich begriff, dass dies ein politisches Problem ist und nicht ein bio­ logisches.

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Gibt es koscheres Fleisch auch in Bio-Qualität? Nicht hierzulande. Für manche Juden bedeutet dies ein Gewissenskonflikt: Sie möchten Fleisch von artgerecht gehaltenen Tieren essen, aber auch die religiösen Vorschriften befolgen. Wie kann man diesen Konflikt lösen? Die Religiosität scheitert nicht an einem Fleischgericht. Es ist eine Gewissensfrage, die jeder und jede für sich beantworten muss.

­ auptgang H Wiener Schnitzel mit Pommes allumettes und Gurken­ salat Dessert Apfelstrudel mit Glace aus Sojamilch Getränk Mineralwasser

Sie selbst haben Traditionen durchbrochen und wurden 1995 als erste Rabbinerin Deutschlands in Oldenburg sowie Braunschweig angestellt. Traditionen können sich ändern. Einer Tradition verpflichtet zu sein, bedeutet ja nicht, dass man starr sein muss. Jüdische Tradition zeichnet sich in ihrer Geschichte durch grosse Dynamik aus. Sie fanden erst mit Anfang 30 richtig zur jüdischen Religion. Wie kam das? Ich bin als Kind zwar in den jüdischen Religionsunterricht gegangen und habe sehr schöne Erinnerungen an Sabbat-Feiern in unserer Familie. Während meiner ersten Studienjahre habe ich mich aber von der jüdischen Praxis entfernt, ohne sie je ganz aufzugeben. Erst die intellektuelle Auseinandersetzung mit meiner Tradition hat sie mir wieder näher gebracht. Als es möglich wurde, dies auch professionell zu betreiben, habe ich mich dazu entschlossen. Dafür musste ich aber weit reisen, denn eine Rabbinerausbildung für Frauen gab es nicht überall. Ordiniert wurde ich 1995 am ­Jewish Theological Seminary of America in New York. Ich war mir aber sicher, dass ich als Berufsjüdin in Europa tätig sein wollte. Was begeistert Sie am Judentum? Die jüdisch-rabbinische Tradition ist eine Streitkultur. Die Suche nach «der» Wahrheit bringt es mit sich, immer wieder neu zu hinterfragen und nach gültigen und praktikablen Antworten zu suchen. Es gibt – ausser Beten – viele andere gottesdienstliche Aktivitäten. Auch Lernen ist eine ­solche, weil die Auffassung entstanden ist, dass Wissen zur richtigen Tat, zum gottgefälligen Lebenswandel führt. Das allein ist faszinierend genug, sich in dieses System hineinzubegeben. Worin besteht Ihre Arbeit als Rabbinerin? Als Gemeinderabbiner betreut man eine Gemeinde mit allem, was dazu gehört. Als Seelsorger begleitet man Menschen in schwierigen Situationen. Als Lehrer unterrichtet man Kinder und Erwachsene.

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Bea Wyler: «Die jüdische Küche hat sich über Jahrtausende an neue Gegebenheiten angepasst. Warum sollten die nächsten 50 Jahre Globalisierung daran etwas ändern?»

Als Rabbiner leitet man Gottesdienste und predigt. Und natürlich gehören Hochzeiten und Beerdigungen dazu. Ich habe in meinem Rabbinat immer den Schwerpunkt auf das Lernen gelegt, also die Auseinandersetzung mit der Tradition im weitesten Sinne. Zudem gibt es auch Gelegenheiten, die jüdische Tradition journalistisch zu beackern. Letzten Monat war das Pessachfest. Welche Rolle spielen dabei Essen und Trinken? An Pessach erinnern wir uns an die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten. Der Auszug aus Ägypten ist eigentlich ein Flüchtlingsdrama, das dank göttlichem Eingriff zu einem guten Ende kam. So erzählen wir die Geschichte von Leiden und Unterdrückung, freuen uns über die Befreiung und singen Dankeslieder. Die festliche Mahlzeit steht im Mittelpunkt. Mazzen, das ungesäuerte Brot, das die Israeliten assen, weil sie keine Zeit mehr hatten zu backen, ist ein Hauptelement. Zur Erinnerung an die Bitternis gehören bittere Lebensmittel dazu: Meerrettich, Chicorée und R­ u­ cola. An das Pessachlamm erinnert ein symbo­ lischer gebratener Knochen auf dem Tisch. Vier Becher Wein symbolisieren die vier Stufen der Befreiung. Und ein Mus aus Nüssen, Äpfeln, Rosinen sowie Gewürzen erinnert an den Lehm, mit dem


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die Israeliten Backsteine herstellen mussten. Was es sonst noch zu essen gibt, richtet sich nach den Traditionen in den Familien. Kochen Sie auch an Pessach? Ja. Je nachdem, wo und bei wem wir feiern, gibt es aber manchmal «nur» Teile des festlichen Mahls vorzubereiten. Darf man die Rezepte auch modernisieren? Warum denn nicht? Ich habe mehrere alte Re­zepte adaptiert. Zum Beispiel Zimmes, eine Mischung von Rüebli, Zwiebeln, Äpfeln und Dörrpflaumen, langsam gekocht, gab es bei uns daheim nicht. Ich koche das heute, weil wir es gern haben und weil mein Mann aus Osteuropa stammt. Beim Dessert sind wir aber traditionell: Es gibt Aargauer Rüeblitorte. Ohne sie ist Pessach nicht komplett.

In der Zeit der Globalisierung ändern sich die Essgewohnheiten. Wird es die traditionelle jüdische Küche noch in 50 Jahren geben? Die jüdische Küche hat sich über Jahrtausende immer wieder an neue Gegebenheiten angepasst, auch geografisch. Die Juden Marokkos kochten und kochen anders als die Juden Litauens. Warum sollten die nächsten 50 Jahre Globalisierung daran etwas ändern? Das System einer Ernährung, die sich an göttlichen Konzepten orientiert, hat sich bewiesen, auch wenn sich lange nicht alle Juden strikte daran halten.

«Ich bin keine orthodoxe BioTante.»

Ein Dessert? Bea Wyler möchte einen Apfelstrudel mit Glace. Doch schon beim ersten Bissen legt sie die Gabel zur Seite. Zu pappig und süss, findet sie. Das sagt sie auch der Bedienung – bestimmt, aber so höflich, dass die Kritik nicht als Affront erscheint. Eher wie ein Rat, es künftig besser zu machen.

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