PRIVATAUFNAHMEN – Vergessene Schätze aus den privaten Fotoalben aus dem Flörsbachtal

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P r i vat aufnahmen

Edition Scheune Sieben



Vergessene Schätze aus den privaten Fotoalben aus dem Flörsbachtal

Über Kinderkutschen und Grossraumwunder · Erster Schultag Für die Kamera posieren · Blickachsen · Gelb/Orange/Rot/Grün In der Mühlgasse · Kittelschürze und Muster · Mit den Tieren Drinnen · Im Schnee · B 276

Edition Scheune Sieben





PRIVATAUFNAHMEN Bilder von Menschen anzuschauen, die man nicht kennt, viele von ihnen nicht mehr am Leben; in verstaubte Kisten mit vergilbten Fotos gucken, in Gesichter blicken, an die sich teilweise noch nicht einmal mehr die Angehörigen erinnern – kann das interessant sein? Das Ausstellungsprojekt begann, ehe die eigentliche Idee geboren war, genau genommen mit zwei Fotobüchern, die mich meine Nachbarin zu gestalten bat. Früher waren das Alben, in die man Fotos einklebte und handschriftlich kommentierte. Meine Nachbarin, geboren Ende der 30er Jahre, entdeckte dieses neuzeitliche Medium für sich und wollte zwei ihrer Söhne gern ein solches Buch schenken. Sie traf eine Vorauswahl der Fotos, zum Teil klitzekleine Papierabzüge, die nur ahnen ließen, wie viele Details in ihnen steckten. Allein das weckte meine Neugier. Was mögen diese Bilder wohl alles an Geschichte und Geschichten preisgeben, wären sie einmal eingescannt und vergrößert. In einem nächsten Durchgang wurden die Fotos also auf einem großen Monitor gesichtet und wir waren erstaunt über die vielen Details und mit ihnen kamen die Geschichten. So erfuhr ich viel über sie und über das Leben im Dorf, in das ich vor ein paar Jahren gezogen bin. Vor der Erfindung der Digitalaufnahme hatte Fotografieren seinen Preis und der Besitz einer Kamera war noch in den 70ern keineswegs selbstverständlich. Ein Film hatte eine limitierte Anzahl von Negativen, spätere Papierabzüge waren teuer, und dank dieser Einschränkung wurden die abzulichtenden Motive mit Bedacht gewählt. Da das so war, lässt sich in den Bildern lesen, was wichtig und von Bedeutung war. Oftmals ging es um Ereignisse, die einen bestimmten Punkt im Leben markierten. So kommt es, dass sich die Aufnahmen in den Privatalben in der Motivwahl oft ähneln. Wenn die Familien sich zu denselben Anlässen, in ähnlichen Situationen und immer vor dem gleichen Denkmal ablichten lassen1, kann von einem Stereotyp die Rede sein. Und wenn wir feststellen, dass wir alle zur gleichen Zeit die gleichen unmöglichen Frisuren und Hosen mit Schlag trugen, so amüsiert das. Aber nicht nur im Hintergrund der Fotografien, in der Architektur, dem Leiterwagen, Ochsenkarren, später den Traktoren und Automobilen, der Mode und der Accessoires, 1 Elke Schomann, Fotoausstellung, SGK-Halle Flörsbach, Nov. 2014


lässt sich der Wandel der Zeit ablesen, sondern auch in der Art, wie fotografiert wurde und in der Interaktion zwischen dem Fotografen und seinem „Modell“. So wurden die Familienangehörigen in den vierziger Jahren aus Gründen der Lichtverhältnisse zumeist auf die Wiese vor dem Haus platziert und mussten dort bis zur Aufnahme stillhalten. In den 50er Jahren indessen kommt die Pose ins Spiel. Jetzt ist es nicht mehr nur wichtig, dass man auf dem Bild drauf ist, sondern wie und dafür wird sich in Pose geworfen. Man will gefallen, vermutlich auch demjenigen hinter der Kamera. Mit der Auswahl der Fotos in der Ausstellung wird der Fokus auf die 50er bis 70er Jahre gelegt. Ein paar Aufnahmen aus früheren Jahren sind aus thematischen Gründen dazu genommen. Das vergangene Jahrhundert ist für mich aus fotografischer Sicht das spannendste. Im Zeitalter des Smartphones fotografiert fast jeder andauernd und alles Mögliche. Die Bilder werden massenhaft erzeugt und darin oft beliebig. Auf dem Computer abgespeichert, verlassen sie diesen auch meistens erst gar nicht – ein gutes Beispiel, wie die digitale Welt die Analoge ausradiert. Und mit dem Selfie brauche ich auch gar keinen Fotografen mehr; ich fotografiere mich ja andauernd selbst. Damit verliert sich aber auch der subjektive Blick durch die Kamera, aus dem sich Haltung und Sichtweise ablesen ließe. Die überwiegenden Fotos aus den Privatalben richten den Blick auf ihre Verwandten oder Bekannten. Landschaftsaufnahmen sind seltener. Die Aufstockung des Hauses wurde gelegentlich dokumentiert, gemeinsames Arbeiten und Picknickpause während der Ernte. Doch dann gibt es die Glücksfälle unter den Fotos, wo der Blick der Aufgenommenen von etwas anderem als der Kamera in Anspruch genommen wird. Diese Fotos sind unter dem Begriff „Blickachsen“ zusammengefasst und es lohnt sich, diese näher zu betrachten. Ebenso lohnt es sich zu fragen, wer denn die ganzen Fotos gemacht hat, die da in alten Pappkartons und rostigen Dosen liegen. Wer auch immer auf den Auslöser gedrückt hat, es handelt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit um die jeweiligen Vorfahren. Und interessant wird es in dem Moment, wenn es nicht nur darum geht WAS aufgenommen wurde, sondern WIE der Fotograf auf sein Motiv blickt. Etwa bei der Aufnahme mit dem Jungen im Schnee, der beim Füttern der Tauben ganz versunken diese aus der Nähe betrachtet. Dem Fotografen war die Szene gleich zwei Aufnahmen wert und es gelingt etwas Seltenes: Die Seele des Jungen spiegelt sich in dieser Momentaufnahme


und die Person hinter der Kamera wusste darum. Die Liebe zu den Tauben hielt übrigens bis ins spätere Alter – noch vor zwei Jahren flogen sie ihre Runden über Kempfenbrunn und kündigten sich durch den Schattenwurf ihres Flügelschlags an, der ihnen meistens vorauseilte. Dann gibt es seltsame Schnappschüsse wie etwa einer Frau, die einen Vogel zeigt, auf einem anderen Bild streckt sie die Zunge raus. Oder ein Gruppe Jugendlicher im Gebüsch, fast alle von ihnen liegen auf dem Bauch, warum weiß man nicht. Auch diese Fotos sind nicht nur reines Abbild, sie speichern eine Geschichte, über die man allerdings nur rätseln kann. Ein Bild fanden wir, welches eine junge Frau mit einem Heurechen zeigt. Mit Kittelschürze und Kopftuch marschiert sie frohen Schrittes an genau dem Haus vorbei, in dem wir jetzt leben. Die Aufnahme wird Anfang der 40er Jahre entstanden sein und beruht wohl eher auf einem zufälligen als auf einem geplanten Foto. Sie lächelt und ich muss die Person gar nicht kennen, um darin die Schönheit dieser Aufnahme zu sehen. Die Vorstellung, dass dieser Augenblick vor rund 80 Jahren genau dort stattfand, wo ich heute stehe, berührt mich. Fotos aus dem vergangenen Jahrhundert machen Geschichte nachvollziehbar und gegenwärtig. Oft liegen sie unbeachtet herum und landen schließlich in der Mülltonne, wo sie nicht hingehören. Es handelt sich eben nicht nur um „Privataufnahmen“, sondern um ein Vermächtnis. Mein Dank gilt den Nachbarn, die bereitwillig ihre Fotos zur Verfügung stellten. Ein großer Teil der ausgestellten Aufnahmen aber stammt aus der Sammlung von Elke Schomann. Bereits 2010 hat sie begonnen von Haus zu Haus zu gehen und nach alten Fotos zu forschen, um sie 2014 in der Ausstellung unter dem Titel „Flörsbach in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts“ zu zeigen. Die Exponate lagern seitdem in einem Haushalt in Kempfenbrunn, wo ich sie mir ansehen durfte. Ein Konvolut aus 3000 Fotos wartet nun darauf ergänzt und in andere Formen gebracht zu werden. Die Überlegungen gehen in die Richtung eines Online-Archivs, damit die Geschichte der 4 Dörfer erhalten bleibt und möglichst vielen zur Verfügung steht. Sabine Hartung im Flörsbachtal, März 2019



Kinderkutschen – Grossraumwunder






Erster Schultag





FĂźr die Kamera posieren







Blickachsen









Gelb/Orange/Rot/GrĂźn









In der Mühlgasse







KittelschĂźrze und Muster






Mit den Tieren


Drinnen



Im Schnee



WĂźrzburger Strasse / B 276



„Pauls Gretl“, Margarethe Bonhard


Mühlgasse 7, ca. 1940


Der Katalog erscheint anläßlich der Ausstellung Privataufnahmen, vergessene Schätze aus den privaten Fotoalben aus dem Flörsbachtal, 13.–28. April 2019 Herausgeber Scheune Sieben Kunst · Ausstellungen · Projekte Mühlgasse 7, 63639 Flörsbachtal info@scheune-sieben.de Konzept und Gestaltung Sabine Hartung Redaktion Olivia Thomas Auflage 100 © 2019 Scheune Sieben Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fotograf*innen, sofern bekannt…

Besonderer Dank an Erna Fischer, Erika und Hermann Amend, Wolfgang Fischer und Elke Schomann



www.scheune-sieben.de


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