Rundbrief 2-1999

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ISSN 0940-8665 35. Jahrg./ Dezember 99, DM 7,5

Nachbarschaftsheime, Bürgerzentren, Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit

Rundbrief 299 • Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen

„Motorspielzeug 2000“

„Die Welt und ihre Sterne“


Rundbrief 2/99

35. Jahrgang _______________ Dezember 1999

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort von Eva-Maria Antz, Guido Feldhausen, Peter Röger, Birgit Weber ________ S. 1 Lokale Agenda 21 in Hessen - Vertane Chancen? von Christine Becker______________________________________________________ S. 2 Welches Schweinderl hätten Sie gern? von Heinz Altena_________________________________________________________ S. 6 Übersicht über einige programmatische und konzeptionelle Aussagen zu öffentlichen Fördermaßnahmen zur Stadtteilentwicklung und zur Gemeinwesenarbeit bzw. stadtteilbezogenen sozialen Arbeit von Heinz Altena_________________________________________________________ S. 9 Was kann Gemeinwesenarbeit zur Teilhabe leisten? von Dieter Oelschlägel _________________________________________________ S. 16 Nachbarschafts-, Selbsthilfe- und Familienzentren in Berlin Arbeitsgrundsätze, Ausstattung, flächendeckende Versorgung und Neustrukturierung von Georg Zinner ______________________________________________________ S. 23 AUS DEN EINRICHTUNGEN Auf dem Weg zum Stadtteilverbund Wedding von Ruth Ditschkowski __________________________________________________ S. 29 Aktivierende Befragung im Soldiner Kiez von Irene Beyer ________________________________________________________ S. 31 Das Fürst Donnersmarck-Haus von Thomas Golka _____________________________________________________ S. 33 Einblicke in fünf Jahre Nachbarschaftsarbeit in Marzahn von Sigmar Nowotsch __________________________________________________ S. 34 Gesundheits- und soziale Dienste domino e.V. in Berlin-Siemensstadt von Volker Karstens/Wolfram Quack/Rainer Schünemann ______________ S. 37 Unternehmungen mit Migrantinnen der 1. Generation von Monika Wagner-Krämer ___________________________________________ S. 39 Ein Ort der heimatlichen Gefühle vom Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V.______________________________ S. 41 MAGAZIN ____________________________________________________________ S. 43 Exchangeable - interkulturelles Lernen von Marion Mohrlok Mädchen-TV von Annette Gowin Marx meets Madonna von Jens Clausen War es wirklich so? von Brigitte Zander REZENSIONEN _______________________________________________________ S. 47 Ehrenamt und Bürgerengagement • Ehrenamt und Nutzermitwirkung • Goldene Regeln zur Arbeit mit ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern • Anerkennung/Ehrung • Freiwilliges Engagement und die Anforderungen an eine fachlichrationelle Unterstützungsstruktur von Georg Zinner ______________________________________________________ S. 48 Das Ehrenamt zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Ehrenamtliche als Sparfaktor? von Jürgen Altmann ____________________________________________________ S. 52

Der RUNDBRIEF wird herausgegeben vom VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT E.V. Slabystr. 11, 50735 Köln Tel 0221 / 760 69 59 Fax 0221 / 760 79 05 E-mail: VskaKoeln@T-Online.de Kontaktbüro Berlin: Tucholsky Strasse 11 Tel 030 / 280 96 107 Fax 030 / 280 96 108 Redaktion: Renate da Rin, Birgit Weber Gestaltung: Both Grafik Der RUNDBRIEF erscheint zweimal jährlich Einzelheft: DM 9,50 incl. Versandkosten ISSN 0940-8665


2000 VORWORT

Titelillustrationen: oben: „Motorspielzeug 2000“ Max, 8 Jahre Lieblingsfarbe: rot Traumberuf: Doktor Hobby: Fahradfahren, schwimmen Cool: Backstreet Boys unten: Sandy, 6 Jahre „Die Welt und ihre Sterne“ Lieblingsfarbe: rosa Traumberuf: Zahnärztin Hobby: Ballett, Musik Cool: Gepard

Rechtzeitig zur Jahrtausendwende erscheint der Rundbrief 2/99

Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, jetzt einen Blick in das vergangene Jahrundert erwarten, müssen wir Sie leider enttäuschen. Dieser Rundbrief ist eher ein Spiegel der aktuellen Situation. Er verbindet theoretische Erläuterungen mit konkreten Projekten. Er stellt Modelle vor, die bei der Zuordnung und Strukturierung helfen können, und berichtet von Erfolgen in der Praxis, die oft in dem scheinbaren „Durcheinander“ von „Das Alte gilt nicht mehr und das Neue ist noch nicht“ die Motivation geben, trotzdem oder gerade deswegen weiter zu machen. Zugegeben, so ganz hat uns der Jahrtausendwechsel nicht kalt gelassen:

Besonders bedanken möchten wir uns an dieser Stelle bei Eva Becker, die in den letzten Jahren ehrenamtlich wichtige Redaktionsarbeit für den Rundbrief geleistet hat. Leider ist ihr dieses Engagement aus zeitlichen Gründen nicht mehr möglich. Nach wie vor freuen wir uns auf Ihre Meinung zu diesem Rundbrief und Ihre Beiträge für die zukünftigen Rundbriefe. Nicht böse sind wir Ihnen, wenn Sie uns weiterempfehlen, im Gegenteil, es würde uns sehr freuen und bestätigen. Wir wünschen Ihnen noch erfolgreiche, lustige und spannende Wochen in 1999 und natürlich alles Gute für 2000! Eva-Maria Antz Guido Feldhausen Peter Röger und Birgit Weber

Wir haben Kinder aus dem Hort in der Slabystraße 11, also direkt unter unserem Büro, gebeten Bilder zu dem Thema „Das Jahr 2000“ zu malen. Eine Auswahl dieser Bilder - mit Angaben zu den KünstlerInnen -

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illustrieren diese letzte Ausgabe unseres Rundbriefs in diesem Jahrtausend.

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von Christine Becker

Lokale Agenda 21 in Hessen – Vertane Chancen? Verband für sozio-kulturelles Leben

1992 unterzeichneten mehr als 170 Staaten auf der Weltkonferenz für Umwel und Entwicklung in Rio de Janeiro die Agenda 21. Sie verpflichteten sich dami dem Gedanken der „einen Welt“ und de „nachhaltigen Entwicklung“. Die Kommunen sind nach Kapitel 28 dieses Aktionsplans dazu aufgefordert, eine „Lokale Agenda zu entwerfen. Unter Beteiligung der Bürger der Unternehmen, der Kirchen, der Gewerk schaften, Verbände und anderer gesell schaftlicher Gruppen sollen in einem Prozeß „zukunftsfähige“ Ziele für die Stadt formu liert werden, die der Vorgabe des Kapitels 28 der Agenda 21 entsprechen: „Von städ tischem Handeln soll kein Schaden für die EINE WELT ausgehen. Über praktische Erfahrungen aus de Planung und Umsetzung dieses Agenda Prozesses berichtet Christine Becker

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Investitionen in die Zukunft müssen nicht Investitionen in Straßen, Gebäude oder historische Marktplätze sein. Immaterielle Investitionen wie die Unterstützung und Qualifizierung von Menschen und der Aufbau von Kooperationen und Netzwerken sind sehr viel schwerer zu kalkulieren. Maßnahmen zur Förderung des Gemeinwohls, der Aufbau und die Pflege von Gemeinschaften, Nachbarschaften, Bürgerinitiativen, die Unterstützung von „Hilfe zur Selbsthilfe“ und neuen Formen der Mitgestaltung des öffentlichen Lebens werden nicht ausreichend unterstützt und publik gemacht. Was hat das aber mit der Agenda 21 zu tun? Eine Frage, deren Hintergrund hier beleuchtet werden soll. Ich habe als Moderatorin in zwei ländlichen Städten gearbeitet, die ihren Lokalen Agenda 21-Prozeß begonnen haben. Da ich selbst Soziologin und Politikwissenschaftlerin bin, mit meinem Büro aber auch Wirtschaftsunternehmen und Wirtschaftsverbände berate, hatte man mich für die Moderation und Begleitung von Arbeitsgruppen zu den Oberthemen „Soziales, Politik, Wirtschaft“ unter Vertrag genommen. Durch Umstände, die ich hier in dem Artikel beschreibe und kommentiere, gibt es diese Gruppen mittlerweile nicht mehr oder sie mußten sich andere Themen suchen. Die Hintergründe sind so klar und genauso bedauerlich, daß ich sie der kritischen und praxiserfahrenen LeserInnenschaft des Rundbriefs des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit bekannt machen möchte. Der Verband für sozial-kulturelle Arbeit und seine Mitgliedsorganisationen leisten in vielen Städten wichtige Arbeit zur Erfüllung der Agenda 21-Ziele, womöglich ohne sich dessen so dezidiert bewußt zu sein.

Die Agenda 21 von Rio, verabschiedet 1991 und als nationale Handlungsrichtlinien auch für Deutschland akzeptiert, propagiert die Behandlung von Problemen aus den Bereichen Soziales, Ökonomie und Ökologie - und zwar gleichberechtigt. Die umfassende Umsetzung in der Bundesrepublik läßt allerdings noch immer auf sich warten. In den Bundesländern geht man die Thematik ganz unterschiedlich an, in allen wird die Koordination der Agenda 21-Arbeit aber durch die Umweltministerien geleistet. So ist Bayern ein Beispiel dafür, daß man bis hinunter auf die Ebene der Städte und Gemeinden sehr viel erreichen kann,

wenn der Orientierungsrahmen für die Prozesse und Projekte im wesentlichen von oben herab vorgegeben und straff organisiert ist. In Nordrhein-Westfalen hingegen besteht die Unterstützung durch die Landesregierung darin, daß sie den politischen Willen zur Agenda-Arbeit öffentlich macht, ansonsten in erster Linie auf die von unten gewachsenen Strukturen baut, diese jedoch ganz gezielt fördert und vernetzt. Hier soll nun ausführlich über die Arbeit an der Agenda 21 berichtet werden, wie sie in Hessen praktiziert wird. Bis zur Landratswahl im Februar 1999 wurde das Umweltministerium in Hessen durch Ministerinnen der Grünen geleitet. Mit dem Beginn des Haushaltsjahres 1998/1999 waren die Mittel aus der in Hessen damals - unter der rot-grünen Landesregierung - noch gegebenen Grundwasserabgabe zur Finanzierung von Agenda 21-Prozessen auf kommunaler Ebene zur Verfügung gestellt worden. Diese Prozesse werden als „Lokale Agenda 21“ bezeichnet, hier im Artikel abgekürzt mit LA 21. Die Verwendung der Gelder aus der Grundwasserabgabe zwang zu einer sehr einschränkenden Zweckbindung: Sie durften nur für die Bearbeitung ökologischer Fragen und zur Thematisierung von Fragen zur Ressourcenschonung verwendet werden. Schon da war abzusehen, daß die Arbeit an rein sozialen Fragen, aber auch an der Förderung von Kulturprojekten ohne ökologischen Bezug und an Projekten zur Wirtschaftsförderung aus diesen Landesmitteln nicht finanziert werden kann. Die hessischen Kommunen haben sich aus unterschiedlichen Motiven zur Teilnahme an diesem „hessischen Weg“ entschlossen. Allerdings gibt es auch einige Städte und Gemeinden in Hessen, die zwar die Charta von Aalborg unterschrieben haben und die sich damit auch verpflichten, die Agenda 21 von Rio anzuerkennen; aus wohlerwogenen Gründen haben sie jedoch auf die Finanzierung ihrer LA 21-Arbeit durch die Landesregierung verzichtet. Imagegewinn dürfte der Hauptgrund für die meisten Kommunen sein, ihren LA 21Prozeß zu beginnen. Ein anderer Grund liegt aber sicher auch in einem Mißverständnis, das zunächst für die entsprechenden Stadtverordnetenbeschlüsse sorgte, die zur Förderung notwendig waren: Es hieß, daß Städte mit ca. zehn- bis zwölftausend Einwohnern 50.000 DM Fördermittel für

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ihre LA 21 erhalten. Welch ein willkommener Segen für die leeren Stadtkassen. 50.000 DM für ein Jahr festgelegt, ... dann könnte man davon ja schon einen Teil der Kanalisation erneuern oder endlich neue Stühle für das Dorfgemeinschaftshaus anschaffen etc. Das Erwachen für diese Kommunen kam dann, als sich das RKW (Rationalisierungskuratorium der Deutschen Wirtschaft) in Hessen zu Gesprächen mit den Bürgermeistern und Umweltbeauftragten anmeldete. Das RKW ist von der Landesregierung mit der Verwaltung der Fördermittel beauftragt, soll die ordnungsgemäße Verwendung des Geldes sicherstellen und die LA 21-Prozesse evaluieren. In diesen Gesprächen erfuhren die politisch Verantwortlichen und deren Fachleute für Umweltfragen dann, daß die Fördergelder, also z.B. 50.000 DM, nur für die Honorare von externen Moderatoren und Begleitern von Arbeitsgruppen in der Stadt, für Informationsmaterial und für eine konsequente Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung gestellt werden. Also doch kein Geld für die städtischen Konten. Aber nun hatte man ja schon ganz euphorisch in der heimischen Presse vermelden lassen, daß man bei diesem neuen Prozeß an der Gestaltung der Zukunft unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten mitmacht. Man war also im Zugzwang und es hieß jetzt das Beste daraus zu machen. Es mußten Moderatoren ausgesucht werden, denen man zutraute, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Mit anderen Worten: Warum nicht die Gelegenheit nutzen und mit Hilfe der Moderatoren Beteiligungsmöglichkeiten optimieren, die man schon hat, die aber nicht ausreichend genutzt werden. Solche Beteiligungsmöglichkeiten gibt es vor allem bei der Ausweisung und Planung von neuen Siedlungsund Gewerbe- oder Industriegebieten, von Straßen und von größeren Gebäudekomplexen von öffentlichem Interesse (Einkaufszentren, Logistikzentren, Autohöfe). Bei der Planung solcher Projekte bedienen sich alle Kommunen externer Planungsbüros, in denen i.d.R. Geographen, Ingenieure und Architekten Prognosen anstellen und nach gesetzlichen Vorlagen und übergeordneten Rahmenplänen Gutachten schreiben und Zeichnungen und Pläne anfertigen. Dieses Material dient dann den politischen Gremien als Entscheidungsgrundlage, muß aber auch öffentlich ausgelegt werden, damit die Bevölkerung (Betroffene, Anlieger, Nachbarn) Einsicht nehmen


und ggf. Einspruch anmelden kann. Leider wird dieses Instrument der Mitwirkung bei der Stadtentwicklung nicht ausreichend genutzt. Leider kommen viel zu viele Beschwerden erst dann, wenn der erste Bagger schon die Erde auf- oder ein bestehendes Gebäude niedergerissen hat. Dann melden sich plötzlich um das Allgemeinwohl besorgte Bürgerinnen und Bürger beim Bürgermeister und beschweren sich. Der Mechanismus, der dann in Gang kommt, sieht ungefähr so aus: Bürger beschwert sich beim Bürgermeister, der ganz fürsorglicher und verständnisvoller Vater - ruft seinen Bauamtsleiter, um der Sache auf den Grund zu gehen. Der Bauamtsleiter (selbst oft ein ehrenvoller Sohn der Stadt) verweist auf die Gutachten und die rechtlich wasserdichte Planung des externen Planungsbüros. Die werden ja extra dafür bezahlt und können jetzt für das Geld auch den schwarzen Peter zugewiesen bekommen. Dann wird oft ein zumindest vorläufiger Baustopp erwirkt, Investoren werden ins Rampenlicht der öffentlichen Diskussion gezogen, weitere Gutachten müssen geschrieben werden - das alles kostet Zeit und damit noch mehr Geld und es schädigt den Ruf der verantwortlichen Politiker und der Verwaltung. Rechtzeitige und ausführliche Aufklärung und Beruhigung der Bevölkerung durch die Planer der Planungsbüros als Moderatoren von LA 21-Arbeitsgruppen und außerhalb von aktuellen Planungsverfahren und Konflikten scheint also das Mittel der Wahl. Mit viel gutem Willen kann man ja auch den Flächenverbrauch für Versiegelung im Straßenbau und den Boom zum Bau von Einfamilienhäusern unter die „Veränderung der Konsumgewohnheiten“ der Agenda 21 von Rio subsumieren.

Anscheinend hatte das RKW aber versäumt, den Bürgermeistern rechtzeitig und ausreichend klar zu machen, daß Arbeitsgruppen, bei denen sich nach einer Anlaufphase herausstellt, daß sie tatsächlich „nur“ an sozialen Fragen, an Fragen der Sicherheit, der Jugendarbeit, des Miteinanders der Generationen arbeiten möchten, von der Stadt selbst oder durch Sponsoren und Spenden gefördert werden können. Eine andere Arbeitsgruppe zu den Oberbegriffen „Soziales und Politik“ hatte sich als Schwerpunktthema den Aufbau einer vertrauensvolleren Zusammenarbeit mit ihrer Stadtverwaltung und mit ihren Kommunalpolitikern ausgesucht. Die Gruppe

setzte sich zusammen aus Männern und Frauen, die in der Kinderbetreuung, als Ehrenamtliche in Kultur- und Sozialvereinen und in Naturschutzgruppen immer wieder die Erfahrung gemacht haben, daß all ihre privaten Initiativen am Unwillen, aber auch an der Unfähigkeit eines Großteils der Angestellten der Stadtverwaltung zur Kooperation und zur aktiven Mitgestaltung scheiterten. Den meisten Kommunalpolitikern bescheinigte man das gleiche. Diese Themen bargen natürlich ungemein viel Konfliktstoff. Selbst fähige Politiker und nach modernen Gesichtspunkten geschulte Verwaltungsleute hätten sicher vor großen Problemen gestanden, diese Arbeitsgruppe als Herausforderung und als Chance zu verstehen und zur Optimierung ihrer Arbeit zu nutzen. So aber hielten sich VertreterInnen der Politik so gut wie ganz aus den Gesprächen heraus und die Mitarbeiter der Verwaltungen saßen, sofern sie sich zur Teilnahme bereit erklärten, natürlich zwischen den Stühlen und waren in dem Dilemma, sich gegenüber ihren Vorgesetzten ja doch noch loyal verhalten zu müssen. So kam es, daß eine Gemeindepädagogin auf Grund ihrer kritischen Äußerungen hinsichtlich der Wahrnehmung der Probleme von Jugendlichen in der Stadt vor den Personalrat geladen wurde und eine Abmahnung bekam. Andere Verwaltungsmitarbeiter kamen zu den Treffen des Arbeitskreises mit der für alle wahrnehmbaren Absicht, die Gespräche zu belauschen und dann in der Verwaltung darüber zu berichten, also die „Meckerer zu verpfeifen“.

Der gesamte Bereich der sozialen Arbeit wird in den ländlichen Kommunen in den wenigsten Fällen als „Chefsache“ betrachtet. Weder in die gezielte Schulung und laufende Qualifizierung noch in den Aufbau von Netzwerken oder auf die Teilnahme an Arbeitskreisen („Runden Tischen“) wird Wert gelegt. Als Fachleute für den Bereich Soziales wurden für die LA 21-Arbeitsgruppen „Soziales, Politik“ und zur Einbringung dieser Themen in die Stadtverwaltung und die zuständigen politischen Gremien die Gemeindepädagoginnen bzw. Jugendpflegerinnen benannt. Diese Personen arbeiten in den kleineren ländlichen Kommunen häufig unter folgenden Bedingungen: 1. Sie übernehmen Querschnittsaufgaben, die zu einem Großteil im Bereich der

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freiwilligen Leistungen der Kommunen liegen (Bsp.: Jugendzentren, Ferienspiele); daher tut deren Klientel - Jugendliche, sozial schwache Familien, soziale Randgruppe gut daran, das städtische Angebot möglichst kritiklos, aber dankbar anzunehmen. 2. Sie sitzen häufig zwischen mindestens zwei Stühlen: An welcher Gruppe sollen sie sich orientieren? An der Verwaltung mit ihren strikten Vorgaben und Erwartungen an Arbeitszeit, Antrags- und Formularwesen? Oder an ihrer eigentlichen Klientel: den sozial Schwachen, an den Bedürfnissen und Wünschen von Kindern und Jugendlichen, an den Bedürfnissen von Randgruppen? 1 3. Sie fühlen sich häufig vom Rest der Verwaltung im Stich gelassen und empfinden sich als EinzelkämpferInnen. 4. Sie haben z.T. einen ganz eigenen Arbeits- und Kommunikationsstil entwickelt, der meist nicht in das Bild von Verwaltung paßt, der sich jedoch an ihrer Klientel orientiert bzw. durchaus auch noch aus der Zeit der Ausbildung an der Universität oder Fachhochschule mitgebracht worden ist. 5. Sie sind häufig fachlich besser (akademischer) ausgebildet und inhaltlich motivierter als der Rest des Personals in der Verwaltung. 6. Auf Grund der häufig völlig unklaren Er wartungen hinsichtlich des Anforderungsprofils bzw. der Stellenbeschreibung und der Unmöglichkeit, völlig gegensätzlichen Zielgruppen und Erwartungen gerecht zu werden, gibt es eine

rlier t Man ve t iste Zei e m e i d damit, n Zeit daß ma en will. n n i w e g inbeck John Ste

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6. überdurchschnittliche hohe Fluktuation, die eine kontinuierliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Einrichtungen und Personengruppen unmöglich macht. 7. Hieran wird das konzeptionelle und das Führungsdefizit in vielen Verwaltungen herkömmlicher Art und bei politisch Verantwortlichen auf dieser Ebene deutlich. 8. Im Unterschied zu den Umweltbeauftragten/-beratern der Kommunen, die ja in Partnerschaft mit entsprechenden Bürgermeistern zum schönen, heilen, harmonischen und gesunden Bild der Stadt (der Pflege von romantischen Mythen) und zum Image der Stadt beitragen können, kämpfen die Fachleute für das Soziale auf der anderen Seite: Sie sind nämlich genau diejenigen, die sich um Menschen kümmern, die Opfer der sozialen und der ökonomischen Krise der Städte (auch in den ländlichen Regionen) sind. 9. Die Probleme in der Arbeit dieser SozialarbeiterInnen, JugendpflegerInnen etc. in den Kommunen lassen sich vergleichen mit denen der StreetworkerInnen. Auch für GemeindepädagogInnen, SozialarbeiterInnen etc. gilt: Die Entscheidungen zum Einsatz von Streetwork u.ä. fallen zumeist erst dann, „wenn die Probleme unübersehbar geworden sind bzw. die Öffentlichkeit daran Anstoß nimmt. Nicht die Probleme der Jugendlichen, sondern die Probleme mit den Jugendlichen und die Beruhigung der Öffentlichkeit stehen dann im Vordergrund. ... Nicht selten hat Streetwork reine Alibi-Funktion.“ Ein großes Problem sind neben zu hohen auch falsche Erwartungen an die Streetwork. „Ihre Aufgabe wird oftmals in der Reduzierung der Probleme der Öffentlichkeit mit der nicht der Norm entsprechenden Zielgruppe gesehen. Es wird erwartet, daß eine durch subkulturelle und verhaltensauffällige Gruppen ungestörte Innenstadt (besonders Fußgängerzonen und Geschäftspassagen) von den Straßensozialarbeiter/innen hergestellt wird. Die Sicherstellung von Ruhe und Ordnung, die Befriedung von Gewalttätigkeiten und die Anpassung an die Gesellschaft werden als Aufgaben der Streetwork definiert.“ - Ähnliches erwartet man wie gesagt in den kleineren Kom-

munen von den „ganz normalen“ GemeindepädagogInnen bzw. JugendpflegerInnen.

Nachdem aus den genannten Gründen die Weiterarbeit der beiden von mir betreuten Arbeitsgruppen nicht weiter gefördert werden konnte, fiel die eine Gruppe sofort auseinander, die andere hat sich dafür entschieden, stärker an ökologischen Themen zu arbeiten, mit einem Biologen als Moderator. Um die aus Sicht aller Beteiligten nach wie vor bestehenden Probleme trotz allem weiter im Auge zu behalten, aber auch um die strukturellen Defizite der gängigen Agenda 21-Arbeit auszugleichen, habe ich mich bereit erklärt, auf die Suche zu gehen nach anderen Partnern für Kooperationen und Fördermitteln. Über die Stiftung Mitarbeit kam ich dabei auf die verschiedenen Aktionen, Gruppen und Stiftungen, die Bürgerengagement, Gemeinwesenarbeit und Demokratieentwicklung zum Ziel haben. Zusammen mit anderen Frauen und mit einigen überparteilichen Einrichtungen und privaten Initiativen in unserer Region bereite ich derzeit zwei Projekte vor: Das erste heißt „Netzwerk BürgerInnen-Projekte zur Agenda 21“ (NBP), es greift die Erfahrungen aus der bisherigen LA 21-Arbeit in den von mir betreuten Kommunen und die Verbesserungsvorschläge auf, geht jedoch über die engen Stadtgrenzen hinaus und will interkommunale Kooperationen fördern. Das zweite Projekt heißt „Agentur Regionalentwicklung“ und zielt auf die Förderung von Projekten aus den Bereichen „sanfter Tourismus“, Direktvermarktung, Förderung der öffentlichen Infrastruktur, Freizeitangebote und Kultur. Mit Hilfe des gezielten Einsatzes von Internet und anderen Telekommunikationstechniken sollen Konzepte umgesetzt und laufende Aktivitäten koordiniert werden, es soll zu Verbesserung der Kooperation zwischen haupt- und ehrenamtlich Tätigen beitragen und die Arbeit von Verbänden und Interessengruppen unterstützen. Ganz besonders wichtig ist bei beiden Projekten die Förderung von „Public-PrivatePartnerships“ und das Überwinden von Grenzen in Politik und Verwaltung in der Region. So will ich darauf hinarbeiten, daß Maßnahmen zur Integration von Jugendlichen aus anderen Kulturkreisen (Hausaufgabenhilfe, Hilfe bei der Suche nach Ausbildungsplätzen), aber auch die Förderung von Kulturangeboten der städtischen Jugend-

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zentren (freie Theatergruppe, Kunst-AG) zusammen mit Instituten der Universität Gießen und mit Studierenden dort erarbeitet und durchgeführt werden.

Hier in der Provinz, im ländlichen Raum in Hessen, macht man derzeit schon (oder noch) vor der Gegenwart die Augen zu. Die Bereitschaft und Fähigkeiten, die Zukunft der Städte und der GemeinwesenStrukturen aktiv zu gestalten, müssen dringend gefördert und unterstützt werden. Dazu bedarf es aber auch des Lernens an positiven Beispielen. Ein guter Anfang wäre es, in Zukunft gemeinsam mit erfolgreichen, praxiserprobten Projekten und Gruppen, die über den Verband sozial-kultureller Arbeit in Verbindung miteinander stehen, den Austausch von Erfahrungen und Informationen zu pflegen. 1 Die Probleme in der Arbeit dieser SozialarbeiterInnen, JugendpflegerInnen etc. in den Kommunen lassen sich vergleichen mit denen der StreetworkerInnen. Vgl. dazu „Streetwork, Jugendarbeit zwischen allen Stühlen?“, Dokumentation der „Ideenwerkstatt Streetwork“ vom 3. und 4. Mai 1993 in Bonn, Hg. Stiftung Mitarbeit. Brennpunkt- Dokumentationen zu Selbsthilfe und Bürgerengagement Nr. 21, 2. Unveränderte Auflage, Bonn, 1994, hier: Praxisprobleme, S. 37 - 53.


Welches Schweinderl hätten Sie gern? Sozialräumliche Konzepte haben Konjunktur

von Heinz Altena

Den Bürgerinnen und Bürgern ist es

ziemlich egal, ob sie durch ein Stadtteil-

bzw. Quartiersmanagment oder eine

Gemeinwesen- bzw. stadtteilbezogene

soziale Arbeit beglückt werden. Für sie ist

Einigen GemeinwesenarbeiterInnen scheint es jedoch noch lange nicht egal zu sein, welche Namen die Konzepte haben. Wie ich dem letzten Rundbrief (Beitrag von Miriam Ehbets) und dem Internet (diverse Artikel im MieterEcho) entnehmen konnte, wird das Thema „Quartiersmanagement“ in Berlin heftig debattiert. Das ist gut, doch es reicht nicht, mittels Wörterbuch das Quartiersmanagement zu diskreditieren und die Berliner Gemeinwesenarbeit als bewährt und zukunftsorientiert in den Himmel zu loben (vgl. Ehbets 1999, S. 35). Auch die Gemeinwesenarbeit kommt nicht umhin, sich eines QM (=Qualitätsmanagements) zu bedienen - oder zumindest ihre Leistungsfähigkeit zu dokumentieren.

es ziemlich egal, wie das „Schwein“

Ach, wie war das einst so schön, als die GWA (und ihr modernisierter Essener Ableger, die stadtteilbezogene soziale Arbeit) eine Monopolstellung auf dem Gebiet der sozialräumlich- und ganzheitlich orientierten Arbeitsweisen hatte(n). Im sicheren Gefühl, - den grundsätzlich einzig richtigen Ansatz zu haben, - von denen da oben nicht akzeptiert zu werden, - eine exotische Nischenexistenz zu haben, - Mißerfolge (wenn es überhaupt welche gab) den Umständen zuschreiben zu können,

Quartier management Stadtteilmanagement

aussieht - Hauptsache es ist für sie was

Passendes drin!

Stadtteilbüro

Gemeinwesenarbeit

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haben es sich die ProtagonistInnen erlaubt, jahrelang über die wahre Methode (Theorie?) der GWA zu streiten. Die Szene freute oder erboste sich über Streitgespräche und -schriften zwischen Gelehrten, an GWA-Foren und Kongressen, an abweichlerischen Community Organizators usw. Sehr viele hatten den Knall nicht gehört oder wollten ihn nicht hören, der in den 90er Jahren doch viele soziale Institutionen und Professionen aufweckte. Im KJHG (1990/91) werden der „Lebensweltbezug“, die „Beteiligung“ und die „Hilfeplanung“ zum Gesetz. Der 8. Jugendbericht von 1990 beschreibt die handlungsleitenden Strukturprinzipien der Jugendhilfeplanung: Sozialraumorientierung statt quantitativer Flächendeckung, Lebensweltorientierung statt Einrichtungsplanung, offensive Prozeßplanung statt statischer Festschreibung, Einmischung statt Abgrenzung, (fach-)politischer Diskurs statt Konfliktvermeidung und Beteiligung statt Ausgrenzung (vgl. Kreft, D./Mielenz, J. 1996, S. 320). Anspruch und Wirklichkeit klaffen zwar häufig auseinander, aber immerhin! Durch die Verwaltungsreformbemühungen der Kommunen in den 90er Jahren sollte mehr Bürgernähe und ein effektiveres und effizienteres Verwaltungshandeln erreicht werden. In vielen Städten wurde im Rahmen der „neuen Steuerung“ der soziale Dienst nach sozialräumlichen Kriterien neu organisiert. Aufschlußreiche Schilderungen dieser Bemühungen finden sich in der aktuellen SOZIAL EXTRA 10/99. Natürlich bedeutet eine Regionalisierung sozialer Dienste nicht automatisch auch eine andere Arbeitsweise, aber immerhin! In Hamburg, Bremen und NordrheinWestfalen wurden seit Mitte der 90er Jahre staatliche und stattliche Förderprogramme zur Stadtteilentwicklung ins Leben gerufen. Berlin und eine Gemeinschaftsinitiative des Bundes und der Länder folgen 1998 bzw. 1999. Mit den ressortübergreifenden und sozialräumlich orientierten Programmansätzen wurden auch Stellen in Stadtteilbüros als StadtteilkoordinatorInnen oder StadtteilmanagerInnen geschaffen. Keine Stellen für GemeinwesenarbeiterInnen? Aber immerhin! Mit den öffentlichen Programmen wurde einem alten Antrag der Gemeinwesenarbeit nach größerer finanzieller Unterstützung für benachteiligte Wohngebiete stattgegeben.

Ein schier nicht enden wollender Geldstrom fließt seit geraumer Zeit in eine Reihe von Stadtteilen. Allein NRW förderte in den letzten sechs Jahren 26 „Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf“ in 22 Städten mit insgesamt über 750 Millionen. Der Bund stellt jährlich 100 Millionen für sein Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die soziale Stadt“ zur Verfügung. Die Europäische Union unterstützt mit ihren Strukturfonds bestimmte benachteiligte Gebiete mit weiteren Millionen Ecu. Keine Mittel für die Gemeinwesenarbeit? Aber immerhin!

Ich möchte mich allerdings nicht allein auf einen Professor verlassen, zumal ihm von anderer Seite nachgesagt wird, daß er aus Marketinggründen immer „trendy“ sein will (vgl. Oelschlägel 1997, S. 37). Die Beweisführung sollte schon etwas breiter angelegt sein. Eine vergleichende empirische Untersuchung (heute bei derartigen Projekten auch Evaluation genannt) von Projekten der einen oder anderen Provenienz kann ich natürlich nicht bieten. Aber es gibt einiges Schriftliche von diesem Programm und jenem Projekt, das uns in die Lage versetzt, Vergleiche anzustellen.

Zugegeben: Gemeinwesenarbeit ist keine kommunale Jugend- oder Sozialarbeit, keine Stadtplanung und keine Managementlehre. Aber einiges deutet darauf hin, daß vieles, was jetzt andere machen, sehr gut ins Konzept der GWA passen würde. Die GWA diskutiert erst einmal über Begriffe. Aber immerhin!

Also habe ich den Text der öffentlichen Ausschreibung zum Quartiersmanagement in Berlin, einen Leitfaden zur Ausgestaltung der Gemeinschaftsinitiative „Soziale Stadt“ und eine Broschüre des NRW-Ministeriums zum ressortübergreifenden Handlungsprogramm „Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf“ gesichtet und mit verschiedenen Aussagen von Oelschlägel und Hinte sowie mit der Selbstdarstellung des Vereins SO 36 verglichen.

Das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit und die Förderprogramme des Bundes und der Länder zur Stadtteilentwicklung sind kompatibel! Worauf stützt sich meine Behauptung, daß GWA und die staatlichen Programme mit ihrem Stadtteil-/Quartiersmanagement sehr viel miteinander zu tun haben? Ich könnte es mir ganz einfach machen und sagen, schaut nach bei Hinte. Der Professor mit der kecken Feder schrieb jüngst Folgendes: „Stadtteilmanagement wurde entwickelt in konsequenter Fortführung des „Arbeitsprinzips Gemeinwesenarbeit“ (Boulet u.a. 1980), der auf dieser Grundlage entwickelten „stadtteilbezogenen sozialen Arbeit“ (Hinte 1995) und der in derlei Projekten gewonnenen Erkenntnis, daß der enge Bereich des Sozialen nur ein Teilsegment ganzheitlicher Stadtteilarbeit darstellt, so daß die in den 70er Jahren entwickelten Theorien und Prinzipien eine Fortentwicklung zum „Stadtteilmanagement“ (Hinte 1992) nahelegten. Heute gibt es nur noch wenige Versprengte, die, verfangen im Geiste der 70er Jahre, mit einem entsprechend biederen methodischen Instrumentarium ihre notorische Erfolglosigkeit kultivieren, die grundsätzlich „die anderen“ zu verantworten haben (s. etwa Projektgruppe Gemeinwesenarbeit 1997).“ (Hinte 1998, S. 156)

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Ein Vergleich der Ziele und Aufgaben und eine Überprüfung der wesentlichen methodischen und inhaltlichen Ansprüche sollten Auskunft darüber geben, wo es Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten oder Differenzen gibt. Soviel vorab: Es gibt sie, die Unterschiede, aber weniger im Inhalt, mehr in der Form. Greifen wir mal ein paar Beispiele heraus: Bekanntlich sind für die GWA der Raumbezug und die ganzheitliche Sichtweise wesentliche Kriterien: * „Mit seinen Analysen und Strategien bezieht sich das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit auf ein „Gemeinwesen“, auf den Ort (und das ist zumeist eine sozialräumliche Einheit: Quartier, Institution etc.), wo die Menschen und ihre Probleme aufzufinden sind. Wesentlich ist dabei die ganzheitliche Betrachtungsweise. (Oelschlägel 1997, S. 37) * „Sozialraumbezug setzt auf eine Vielfalt von Zugängen zu unterschiedlichen Dimensionen des Stadtteils, auf eine möglichst ganzheitliche Sicht von Bürgern in ihren jeweiligen Lebenslagen und bemüht sich um Lebensfeldorientierung in allen Arbeitsvollzügen des institutionellen Alltags.“ (Hinte 1994, S. 52) Die Bundes- und Landesprogramme sehen das genauso:


* „Merkmale (des Leitprogrammes) sind der Gebietsbezug und die Förderung der Gesamtmaßnahme.“ (Bund, S. 12) * „Handlungsschwerpunkte (...) sind (...) ein ganzheitlicher Ansatz zur Lösung der örtlichen Probleme anstelle isolierter und fachlich spezialisierter Problembetrachtungen. (NRW, S. 7) * „Das Quartiersmanagement soll im Quartier präsent und für die Bewohner erreichbar sein.“ (S. 2) und: „Das Instrument Quartiersmanagement soll prozeßhaft eine Integration und Vernetzung aller Strategien und Aktivitäten befördern.“ (Berlin, S. 1) Tauschen Sie einmal die Begriffe Gemeinwesenarbeit/Gemeinwesen gegen Quartiersmanagement/Quartier und versuchen Sie die Sätze neu zu lesen. Merken Sie den Unterschied? Ich nicht!

Zukunftsperspektive machen sollen.“ (Bund, S. 9) * „Ziel des Quartiersmanagements ist, entsprechend der Komplexität von Problemlagen in den Quartieren eine integrierte Entwicklung zu initiieren, die eine nachhaltige soziale, wirtschaftliche, städtebauliche und ökologische Entwicklung im Verbund bewirken soll.“ (Berlin, S. 1) Auch hier sehe ich keine gravierenden Widersprüche. Und so lassen sich Stück für Stück gute Absichten und hehre Ziele konstatieren. Alle wollen aktivieren, vernetzen, beteiligen und die Selbsthilfepotentiale stärken. Natürlich sind alle Ansätze ressortübergreifend, partizipativ, prozeßhaft und nachhaltig. Die Handlungsfelder sind zahlreich und kooperiert wird mit allen. Die Programme hören sich gut an. Die praktische Umsetzung ist jedoch häufig schwierig. Erfolge und Mißerfolge müssen dokumentiert und kommuniziert werden und das mit der notwendigen Gelassenheit und Offenheit.

Kommen wir zu den Zielen von Gemeinwesenkonzepten bzw. -projekten: * „Ziel dieses Konzepts (des sozialräumlichen Arbeitsansatzes, der Verfasser) ist die Verbesserung von Lebensbedingungen, vornehmlich in benachteiligten Wohnquartieren. (Hinte Die durchgängige Entwicklung zu einer 1998, S. 156) sozialräumlichen Sichtweise in unterschiedli* „Als allgemeine Intention gemeinwechen Politik- und Handlungsfeldern ist zu besenarbeiterischer Bemühungen kann grüßen. Damit wird es möglich, den realen die Verbesserung defizitärer Struktuörtlichen Verhältnissen (Stärken und ren im Gemeinwesen gelten.“ (MohrSchwächen) ein adäquates Handeln zur lok u.a. 1993, S. 198) Seite zu stellen. Es wird zu einem besseren * „Zielsetzung des Stadtteil-Vereins SO Verständnis der Akteure untereinander 36 war und ist es, mit den BürgerInführen und zu einem stärkeren Miteinander. nen zusammen unter dem Motto ‚Hilfe Die Gemeinwesenarbeit muß sich dieser zur Selbsthilfe‘ einen Beitrag zur Verneuen Situation stellen, muß sich mit ihren besserung und zunehmend auch zum Talenten und Instrumenten einbringen. Die Schutz und Erhalt der Wohn- und LeRolle des Zaungastes steht ihr nicht (zu). bensverhältnisse im Altstadtquartier ‚SO 36‘ (...) zu leisten.“ Wir können und müssen voneinander lernen, (Die Gemeinwesenardie Stadtteile Gewinner werden! beit (GWA) des Vereins SO 36, S. 1) Zum Vergleich die Ziele der staatlichen Förderprogramme: * „Die Gemeinschaftsinitiative ‚Soziale Stadt‘ erhebt den Anspruch, Quartiersentwicklungsprozesse in Gang zu setzen, welche die sozialen Problemgebiete zu selbständig lebensfähigen Stadtteilen mit positiver

Literatur: Behrendt, Thomas: „Von der Bürgerbeteiligung zur Dienstleistungs-GWA“, Standort und Entwicklungstrends in der GWA des Vereins SO 36, Berlin-Kreuzberg, in: Binne, Heike u.a. (Hrsg.): Gemeinwesenarbeit Die Gemeinwesenarbeit (GWA) des Vereins SO 36 - Kurzer Abriß zur Geschichte und Arbeit des Vereins, o.O, o.J. Ehbets, Miriam: Quartiersmanagement. Gedanken zu einem neuen Wort, in: Verband für sozial-kulturelle Arbeit, Rundbrief 1/99, S. 34ff Hinte, Wolfgang: Stadtteilentwicklung durch Dialogmanagement, in: Forum der Arbeit (Hrsg.): Nach der Kohlezeit. Stadtteile im Wandel, Aachen 1994, S. 46ff Hinte, Wolfgang: Zwischen Lebenswelt und Bürokratie, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 3/97, S. 41ff Hinte, Wolfgang: Bewohner ermutigen, aktivieren, organisieren - Methoden und Strukturen für ein effektives Stadtteilmanagement, in: Monika Alisch (Hrsg.): Stadtteilmanagement, Opladen 1998, S. 153ff Kreft, D./Mielenz, J.: Jugendhilfeplanung, in: Kreft, D./Mielenz, J. (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit, 4. Auflage, Weinheim/Basel 1996, S. 319ff Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf. Ressortübergreifendes Handlungsprogramm der Landesregierung NordrheinWestfalen, Düsseldorf 1998 (zitiert NRW) Leitfaden zur Ausgestaltung der Gemeinschaftsinitiative „Soziale Stadt“, in: VSOP Rundbrief 3/98 S. 8ff (zitiert Bund) Mohrlok, M. u.a.: Let´s organize! Gemeinwesenarbeit und Community Organization im Vergleich, AG SPAK M 113, München 1993 Öffentliche Ausschreibung Quartiersmanagement = http://www.sensut.berlin.de/SenSUT/ entwicklung/quartier/right1.htm (zitiert Berlin) Oelschlägel, Dieter: Der Auftrag ist die Gestaltung von Lebensverhältnissen, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 3/97, S. 37ff SOZIAL EXTRA 10/99, Schwerpunktthema: Alles im Fluß, Verwaltungsreformen in Jugend- und Sozialämtern - Eine Zwischenbilanz

damit

Quartier

Wohngebiet Gemeinwesen Stadtteil

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 2 99


von Heinz Altena

Übersicht über einige programmatische und konzeptionelle Aussagen

öffentlichen Fördermaßnahmen zu

zur Stadtteilentwicklung und zur Gemeinwesenarbeit bzw. stadtteilbezogenen sozialen Arbeit

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 2 99

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Bundesprogramm: Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt

Landesprogramm NRW: Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf

zitiert nach: Leitfaden zur Ausgestaltung der Gemeinschafts-

zitiert nach: Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur und

initiative "Soziale Stadt", in: VSOP Rundbrief 3/98 S. 8ff

Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf. Ressortübergreifendes Handlungsprogramm der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1998

Ziele

„Die Gemeinschaftsinitiative ‚Soziale Stadt‘ erhebt den Anspruch, Quartiersentwicklungsprozesse in Gang zu setzen, welche die sozialen Problemgebiete zu selbständig lebensfähigen Stadtteilen mit positiver Zukunftsperspektive machen sollen.“ (S. 9) „Das Ziel des neuen Programmansatzes verknüpft eine nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation der betroffenen Menschen in benachteiligten Stadtquartieren durch eine aktive und integrativ wirkende Stadtentwicklungspolitik mit einer Effizienzsteigerung öffentlicher Maßnahmen durch frühzeitige Abstimmung und Bündelung öffentlicher und privater Finanzmittel auf Stadtteilebene.“ (S. 12)

Handlungsfelder Politikfelder Bereiche

„Dazu zählen insbesondere die Politikfelder:

„Zielsetzung: Die Besonderheit des Landesprogrammes ist in einer problemorientierten Koordination und Integration der Fachinhalte zu sehen, die weit über den bisherigen Rahmen hinausgehen und die Grenzen des Ressortdenkens überwinden. Auf diese Weise sollen in den benachteiligten Stadtteilen Kumulations- und Synergieeffekte freigesetzt werden, die bei einer sektoralen Förderung ausbleiben würden. Vor dem Hintergrund veränderter finanzieller Rahmenbedingungen steht die Entwicklung ideenreicher, zielgenauer und hocheffizienter Maßnahmebündel sowie die intelligente Kombination vorhandener Investitions- und Förderhilfen im Mittelpunkt.“ (S. 6)

„Es geht um folgende Handlungsfelder:

• Wohnungswesen und Wohnungsbauförderung

• Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik

• Verkehr

• Wirtschaftsförderung/Lokale Ökonomie • Wohnungsbau

• Arbeits- und Ausbildungsförderung

• Stadterneuerung

• Sicherheit

• Umwelt/Ökologie

• Frauen

• Soziale und kulturelle Infrastruktur/Stadtteilzentren

• Familien- und Jugendhilfe

• Soziale Netze und kulturelle Aktivitäten

• Wirtschaft

• Integration/Zusammenleben im Stadtteil • Schule im Stadtteil

• Umwelt

• Kinder und Jugendliche

• Kultur und Freizeit" (S. 12)

• Stadtteilbezogene Gesundheitsförderung/Sport und Bewegung • Kriminalprävention im Stadtteil

"Als Haupteinsatzbereiche sind zu nennen:

• Stadtteilmarketing/Image“ (S. 7)

• Bürgermitwirkung, Stadtteilleben • Lokale Wirtschaft, Arbeit und Beschäftigung • Quartierszentren • Soziale, kulturelle, bildungs- und freizeitbezogene Infrastruktur • Wohnen

„Wesentliche Kennzeichen des integrierten Handlungsprogrammes sind ein ganzheitlicher Ansatz zur Lösung der örtlichen Probleme anstelle isolierter und fachlich spezialisierter Problembetrachtungen, die Beteiligung der Bewohnerinnen und Bewohner und die Vernetzung der Aktivitäten vor Ort sowie die Verknüpfung der politischen Handlungsebenen (Stadtteil, Bezirk, Rat der Stadt, Landesregierung).“ (S. 7)

• Wohnumfeld und Ökologie“ (S. 14)

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Soziale Stadtentwicklung "Quartiersmanagement"

Gemeinwesenarbeit, stadtteilbezogene soziale Arbeit

zitiert nach: Öffentliche Ausschreibung Quartiersmanagement =

zitiert aus verschiedenen Veröffentlichungen (s. Text)

http://www.sensut.berlin.de/SenSUT/ entwicklung/quartier/right1.htm

„Ziel des Quartiersmanagements ist, entsprechend der Komplexität von Problemlagen in den Quartieren eine integrierte Entwicklung zu initiieren, die eine nachhaltige soziale, wirtschaftliche, städtebauliche und ökologische Entwicklung im Verbund bewirken soll.“ (S. 1) „Das Instrument Quartiersmanagement soll prozeßhaft eine Integration und Vernetzung aller Strategien und Aktivitäten befördern. Ziel ist es, die Bewohner selbst zu Akteuren der Quartiersentwicklung zu machen, dabei ist es Aufgabe des Quartiersmanagements, die Entstehung von Projekten zu initiieren und zu fördern.“ (S. 1)

„Als Ziel gilt: GWA muß Beiträge zur tendenziellen Aufhebung und Überwindung von Entfremdung leisten, also die Selbstbestimmung handelnder Subjekte ermöglichen.“ (Oelschlägel 1992, S. 757) „Ziel dieses Konzepts ist die Verbesserung von Lebensbedingungen, vornehmlich in benachteiligten Wohnquartieren, einerseits durch Aktivierung, Organisation und Training von Betroffenen (-Gruppen), andererseits durch Akquirierung, Bündelung und Management von Ressourcen innerhalb der Verwaltung – und bei anderen Institutionen zur Entwicklung spezifischer, auf die Bedürfnislagen der Wohnbevölkerung bezogener Projekte.“ (Hinte 1998, S. 156) „Als allgemeine Intention gemeinwesenarbeiterischer Bemühungen kann die Verbesserung defizitärer Strukturen im Gemeinwesen gelten.“ (Mohrlok u.a. 1993, S. 198) „Zielsetzung des Stadtteil-Vereins SO 36 war und ist es, mit den BürgerInnen zusammen unter dem Motto ‘Hilfe zu Selbsthilfe’ einen Beitrag zur Verbesserung und zunehmend auch zum Schutz und Erhalt der Wohn- und Lebensverhältnisse im Altstadtquartier ‚SO 36’ (...) zu leisten. Diese Aufgabe erstreckt sich laut Satzung ‘auf die Vielfalt sozialer, kultureller, pädagogischer, räumlicher und wirtschaftlicher Strukturen“ (Selbstdarstellung des Vereins SO 36, S. 1)

„Die wesentlichen, integrativ zu bearbeitenden Handlungsfelder sind: • Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik • Wirtschaftsförderung und Stadtteilökonomie • Wohnen, Wohnumfeld und Umwelt • Soziale und kulturelle Infrastruktur • Soziale Integration/Zusammenleben im Quartier • Schule und Bildung • Gesundheitsförderung“ (S. 1)

„Zu den Leistungen des Quartiersmanagements gehören folgende Bereiche:

„Konkrete Aufgaben gemeinwesenbezogener sozialer und kultureller Arbeit sind dann u.a. • Zurverfügungstellung nützlicher Dienstleistungen, Ressourcenarbeit • Erweiterung der Handlungsfähigkeit durch Aktivierung zu gemeinsamem Handeln • Schaffung entsprechender Infrastrukturvoraussetzungen: niederschwellige Stadtteilläden, Stadtteilkonferenzen, Stadtteilmoderatoren Zusammengefaßt heißt das strukturbezogene Stadtentwicklungsarbeit in benachteiligten Stadtteilen – das ist mehr als Sozialarbeit, das bündelt Stadtentwicklung, Wirtschaftsförderung, Jugendhilfeplanung, Wohnungspolitik nach dem Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit.“ (Oelschlägel 1997, S. 38)

A. Stadtteilkoordination (...) B. Organisation der Bewohneraktivierung (...) C. Projektinitiierung (...) D. Mitwirkung an der Erfolgskontrolle“ (S. 1f)

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Bundesprogramm: Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt

Landesprogramm NRW: Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf

zitiert nach: Leitfaden zur Ausgestaltung der Gemeinschafts-

zitiert nach: Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur und

initiative "Soziale Stadt", in: VSOP Rundbrief 3/98 S. 8ff

Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf. Ressortübergreifendes Handlungsprogramm der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1998

Merkmale, wie:

„Merkmale (des Leitprogrammes) sind der Gebietsbezug und die Förderung der Gesamtmaßnahme.“ (S. 12)

raumbezogen

„Handlungsschwerpunkte (...) sind (...) ein ganzheitlicher Ansatz zur Lösung der örtlichen Probleme anstelle isolierter und fachlich spezialisierter Problembetrachtungen." (S. 7) „Von Kommunen (...) erwartet die Landesregierung ‚innovative Handlungskonzepte mit ganzheitlichen umfassenden Lösungsansätzen und Strategien!“ (S. 7)

ressortübergreifend integriert

„Das Programm zielt auf die Förderung von Projekten, die fachübergreifend an den lokalen Problemen orientiert sind." (S. 7)

ganzheitlich prozeßhaft nachhaltig innovativ

Aktivierung Hilfe zur Selbsthilfe Selbstorganisation Bürgerbeteiligung Partizipation

„... wird es zum zentralen Anliegen der Stadtteilentwicklung, das eigenständige Stadtteilleben wieder aufzubauen, den sozialen Verbund wieder herzustellen, alle vorhandenen örtlichen Potentiale zu stärken und die Bewohner dazu zu motivieren, in Initiativen und Vereinen mitzuwirken und sich dauerhaft selbst zu organisieren.“ (S. 9) „Unterstützung vieler Möglichkeiten, die Bürger durch Selbsthilfe an Maßnahmen der Stadtteilentwicklung zu beteiligen.“ (S. 10) „Den Gemeinden obliegt es, eine umfassende Bürgermitwirkung sicherzustellen.“ (S. 12) „Typische Maßnahmen: (...)

„Die Organisation von Beteiligung, Strategien, Maßnahmen und deren Umsetzung ist verbindendes Element und Voraussetzung für die Chance, privates Engagement zu fördern und einzubinden.“ (S. 8) „Durch eine frühzeitige Beteiligung ist es möglich, Wünsche und Vorstellungen aus dem Stadtteil miteinzubeziehen. Dies führt zu "maßgeschneiderten" Lösungen mit erhöhter Akzeptanz bei den Betroffenen und leistet einen wichtigen Beitrag zum Abbau von Politikverdrossenheit.“ (S. 76) „Die Erhaltung und Erneuerung benachteiligter Stadtteile soll ‚Selbsterneuerung von unten’ sein.“ (S. 7) „Ziel ist es, ein dichtes Netz nachbarschaftlicher Hilfen aufzubauen, in dessen Mittelpunkt die Selbsthilfe und Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger steht.“ (S. 80)

• Bildung von Stadtteilbeiräten.“ (S. 10)

Vernetzung Koordination

„Schaffung selbsttragender Bewohnerorganisationen und stabiler nachbarschaftlicher sozialer Netze.“ (S. 9)

Kooperation

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„Die Kooperation und Vernetzung aller Akteure vor Ort ist eine entscheidende Grundlage für eine integrierte und ganzheitliche Stadtteilerneuerung.“ (S. 79)

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Soziale Stadtentwicklung "Quartiersmanagement"

Gemeinwesenarbeit, stadtteilbezogene soziale Arbeit

zitiert nach: Öffentliche Ausschreibung Quartiersmanagement =

zitiert aus verschiedenen Veröffentlichungen (s. Text)

http://www.sensut.berlin.de/SenSUT/ entwicklung/quartier/right1.htm

„Das Instrument Quartiersmanagement soll prozeßhaft eine Integration und Vernetzung aller Strategien und Aktivitäten befördern.“ (S. 1) „Ziel des Quartiersmanagements ist, entsprechend der Komplexität von Problemlagen in den Quartieren eine integrierte Entwicklung zu initiieren, die eine nachhaltige soziale, wirtschaftliche, städtebauliche und ökologische Entwicklung im Verbund bewirken soll.“ (S. 1)

„Mit seinen Analysen und Strategien bezieht sich das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit auf ein ‘Gemeinwesen’, auf den Ort (und das ist zumeist eine sozialräumliche Einheit: Quartier, Institution etc.), wo die Menschen und ihre Probleme aufzufinden sind. Wesentlich ist dabei die ganzheitliche Betrachtungsweise: Es geht um die Lebensverhältnisse, Lebensformen und Lebenszusammenhänge der Menschen, auch so, wie diese selbst sie sehen (Lebensweltorientierung).“ (Oelschlägel 1997, S. 37) „Sozialraumbezug setzt auf eine Vielfalt von Zugängen zu unterschiedlichen Dimensionen des Stadtteils, auf eine möglichst ganzheitliche Sicht von Bürgern in ihren jeweiligen Lebenslagen und bemüht sich um Lebensfeldorientierung in allen Arbeitsvollzügen des institutionellen Alltags.“ (Hinte 1994, S 52)

„Ziel ist es, die Bewohner selbst zu Akteuren der Quartiersentwicklung zu machen, ...“ (S. 1) „Erarbeitung einer geeigneten Form der Bewohneraktivierung.“ (S. 1) „Entwicklung einer gebietsspezifischen angemessenen Organisationsform für die Trägerschaft der Bewohnerbeteiligung.“ (S. 1f) „Unterstützung für Bewohnervertretungen, -aktivitäten und -initiativen“. (S. 2)

„Das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit sieht seinen zentralen Aspekt in der Aktivierung der Menschen in ihrer Lebenswelt.“ (Oelschlägel 1998, S. 159) „Ein Kernstück der Tätigkeit von StadtteilmanagerInnen besteht darin, Menschen zu aktivieren.“ (Hinte 1998, S. 159) „Dazu zählen insbesondere die Aktivierung und Organisierung von Bürgeraktivitäten, die Stärkung von Selbsthilfepotentialen...“ (Hinte 1994, S. 53) „(...) Auch die umfassende Beteiligung der Betroffenen ist auf der Ebene des Stadtteils am ehesten realisierbar. (Mielenz 1981, S. 59)“. (Oelschlägel 1997, S. 40)

„Vernetzen der unterschiedlichen Interessengruppen vor Ort unter der Zielstellung eines gemeinsam zu entwickelnden Quartierskonzeptes.“ (S. 1)

„Der Verein selbst ist inzwischen zur wichtigen professionellen Anlaufstelle (Vernetzung) im Stadtteil geworden..." (...)

„Initiierung und Aufbau von projektbezogenen oder dauerhaften Kooperationen zwischen Institutionen, Initiativen, Unternehmen und anderen lokalen Akteuren/Experten.“ (S. 1)

„Der Verein nutzt methodisch wie fachlich alle Möglichkeiten der offenen Beratung, sowohl im Einzelfall wie auch zur Unterstützung und Kooperation mit Stadtteilgruppen und Gewerbetreibenden und arbeitet eng mit der bezirklichen wie der Senats-Verwaltung zusammen.“ (Selbstdarstellung des Vereins SO 36, S. 1)

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Bundesprogramm: Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt

Landesprogramm NRW: Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf

zitiert nach: Leitfaden zur Ausgestaltung der Gemeinschafts-

zitiert nach: Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur und

initiative "Soziale Stadt", in: VSOP Rundbrief 3/98 S. 8ff

Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf. Ressortübergreifendes Handlungsprogramm der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1998

Soziale Kulturarbeit Bürgerzentren Öffentliche Infrastruktur

Präsenz vor Ort Stadtteilbüro Stadtteilmanagement Quartiersmanagement Moderation

„Verbesserung des Infrastrukturangebotes im Interesse des sozialen Ausgleichs.“ (S. 10) „Typische Maßnahmen (Investition und Betrieb): Für alle: Bürgertreffpunkte, internationale Begegnungsstätten, Freizeithäuser, stadtteilkulturelle Projekte, Sporteinrichtungen, Ge sundheitszentren, Aktionsprogramme insbesondere für Kinder und Jugendliche.“ (S. 10)

„Typische Maßnahmen: - Einrichtung von Stadtteilbüros ...“ (S. 10) „Installation eines Stadtteilmanagments, das mit Priorität den Aufbau selbsttragender Bürgerorganisationen einleiten soll ...“ (S. 9) „Die Städte und Gemeinden haben die Aufgabe – in der Regel durch externe Vergabe – ein leistungsfähiges Stadtteilmanagement sicherzustellen.“ (S. 12)

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„Soziale und kulturelle Einrichtungen sind Orte der Öffentlichkeit und der Begegnung. Als Anlauf-, Informations- und Kommunikationsstellen haben Begegnungsstätten, Schulen, Kinder-, Jugend- und Alteneinrichtungen eine besondere Bedeutung für die Stadtteilarbeit.“ (S. 57) „Wachsende Armut, anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und soziale Vereinzelung erfordern neue, stärker an den örtlichen Problemen orientierte Angebote. Daher muß die vorhandene Infrastruktur qualitativ neu ausgerichtet werden; darüber hinaus sind zukünftig aber auch neue Einrichtungen erforderlich.“ (S. 57)

„Stadtteilbüros spielen im Erneuerungsprozeß eine entscheidende Rolle. Sie sind zentrale Anlauf- und Kontaktstelle für die Bewohner und Akteure vor Ort. Die Präsenz im Stadtteil (...) fördert die Zusammenarbeit mit den Menschen im Quartier.“ (S. 79) „Die Moderation der Stadtteilbüros hat wesentlich dazu beigetragen, Konflikte abzubauen und gemeinsame Aktivitäten zu fördern.“ (S. 10)

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Soziale Stadtentwicklung "Quartiersmanagement"

Gemeinwesenarbeit, stadtteilbezogene soziale Arbeit

zitiert nach: Öffentliche Ausschreibung Quartiersmanagement =

zitiert aus verschiedenen Veröffentlichungen (s. Text)

http://www.sensut.berlin.de/SenSUT/ entwicklung/quartier/right1.htm

„Die wesentlichen, integrativ zu bearbeitenden Handlungsfelder sind: ( ...) • Soziale und kulturelle Infrastruktur • Soziale Integration/ Zusammenleben im Quartier • Schule und Bildung • Gesundheitsförderung.“ (S. 1)

„Einrichtung bzw. Nutzung einer vorhandenen Kontaktstelle im Gebiet, in der der/die Quartiersmanager/in für die Bewohner erreichbar und ansprechbar ist.“ (S. 1)

„Gemeinwesenarbeit, stadtteilbezogene soziale Arbeit, Stadtteilmanagement – über diese Stationen hat sich in ca. 25 Jahren ein sozialräumlicher Arbeitsansatz entwickelt ... “ (Hinte 1998, S. 156)

„Das Quartiersmanagement soll im Quartier präsent und für die Bewohner erreichbar sein.“ (S. 2) „Moderation des Projektentwicklungsprozesses ...“ (S. 2)

ist n l e f i Zwe icht n , e h Suc eit. k g i s o zzi Ratl . Pestalo Hans A VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 2 99

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Was kann Gemeinwesenarbeit zur Teilhabe leisten?

Unter der Fragestellung „Wen grenzt Gesellschaft aus? Was kann Gemeinwesenarbeit zur Teilhabe leisten?“ fand am 16. und 17.10.1999 in Freiburg in der Evangelischen Fachhochschule für Sozialwesen eine Fachtagung statt. Sie wurde organisiert und durchgeführt von Mitarbeitern des Forums Weingarten 2000 e.V. Dieter Oelschlägel referierte im Rahmen dieser Tagung über die Herausforderung an die städtische Politik, die eine Politik der sozialen Integration sein muß, und den Stellenwert der Ressource Netzwerk und Partizipation.

Die zentrale gesellschaftliche Herausforderung der Gegenwart ist die sozio-ökonomische Polarisierung der Gesellschaft, gemeint ist ein Auseinanderklaffen der Schere zwischen arm und reich, aber auch eine wachsende Einkommens- und Arbeitsplatzunsicherheit. Davon war im ersten Referat der Tagung die Rede. „Von besonderer sozialpolitischer Bedeutung ist angesichts der aktuellen Problemkumulation von Einkommensarmut und Wohnungsnot die Tendenz zu einer sozialräumlichen Ausgrenzung (einkommens-) armer Personen und Haushalte aus ihren bisherigen Lebensräumen und die Konzentration von sog. Problemgruppen in ‘sozialen Brennpunkten’. Einher geht ein Strukturwandel von städtischen Wohnbezirken, in dessen Gefolge bisher normale Stadtteile durch Zu- und Abwanderungsprozesse allmählich den Charakter von Brennpunkten psychosozialer Notlagen annehmen“1. Besonders für die neuen Bundesländer liegt da noch ungeheurer sozialer Sprengstoff. Wir beobachten mit großer Sorge die Entwicklung in Großsiedlungen wie LeipzigGrünau oder das Fritz-Heckert-Wohngebiet in Chemnitz, in denen Segregationsprozesse in einer Geschwindigkeit ablaufen, wie sie hierzulande unbekannt ist. Gesteuert über den Mietpreis kommt es zu einer Segregation (Absonderung, Zu-

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von Dieter Oelschläg

sammenballung) insbesondere sozial schwacher, also armer Familien und ethnischer und subkultureller Minderheiten. Die Armutsbevölkerung befindet sich fast ausschließlich unter den besonders segregierten Gruppen. Allerdings kommt hinzu, daß typische Wohnstandortbedingungen (z.B. hohe Immissionsbelastung, Wohnungsqualität, Miethöhe, Nachbarschaft etc.) zu gebietstypischen Segregationsmustern von Individuen und Haushalten und damit zu quartierstypischen Formen des Zusammenle bens der Menschen führen. In Krisenzeiten kommt es zu einer Verschärfung kleinräumiger Disparitäten, die Tendenz der Herausbildung neuer Armutsghettos jenseits der „klassischen“ Segregation von Randgruppen ist zu beobachten. Nach Krummacher lassen sich im wesentlichen vier Typen sozialräumlicher Armutskonzentration nachweisen: - städtische Obdachlosenghettos, die von überwiegend sozialhilfebedürftigen Großfamilien bewohnt werden - kleinräumige Neubaughettos, die sich durch hohe Sozialmieten, Wohnungsleerstände, Vandalismus und hohe Jugendarbeitslosigkeit auszeichnen. Sozialhilfeempfänger, Asylbewerber und Aussiedler bekommen hier oft Wohnungen zugewiesen - Altbaugebiete mit hoher Armutskonzen tration, d.h. Arbeiterviertel mit traditionell

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niedrigem Einkommensniveau, mit hohe Sozialhilfeempfänger-, Arbeitslosen- und Ausländeranteil, jedoch noch relativ stabil. Aus diesen Gebieten heraus entwickeln sich - Altbaugebiete mit Verelendungscharakter, wo Empfänger von Sozialhilfe, Kleinstrenten und Arbeitslosenhilfe dominieren und schon äußerlich räumlich-bauliche Verfallstendenzen sichtbar sind. Es handelt sich schon nicht mehr nur um kleine Stadtteilbereiche, oft nur um Häuserblocks und Straßenzüge, sondern es ist in vielen Stadtgebieten schon eine Ausweitung zu ziemlich großräumigen Armutsstadtteilen (vornehm ausgedrückt: Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf) zu beobachten2. Hinzu kommen - von der GWA-Literatur noch kaum beachtet - Konversionsgebiete, d.h. Wohnsiedlungen, die bis Anfang der 90er Jahre von in Deutschland stationierten Soldaten und deren Angehörigen bewohnt waren und jetzt anderer Nutzung (z.B. Wohnraum für Aussiedler) zugeführt werden3. Wir sehen also, daß der Ort, an dem sich die Spaltung der Gesellschaft zeigt (und es geht auch um sozio-demographische und sozio-kulturelle/ethnische Spaltungen), an dem die Menschen diese erleben und erleiden, der Stadtteil ist. Das wiederum verweist darauf, daß städtische Politik eine Politik der sozialen Integration sein muß und nicht mehr nur, wie die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, Versorgungspolitik sein kann. Allerdings: Ein wesentlicher Zugang zur gesellschaftlichen Integration ist den Städten verwehrt, da sie nur sehr begrenzt Einfluß auf den Arbeitsmarkt nehmen können. „Sie müssen sich deshalb solche Integrationsinstanzen schaffen oder vorhandene stärken, auf die sie selbst einen Einfluß haben oder nehmen wollen“4. Hier ist in der letzten Zeit sowohl bei sozialen Diensten als auch bei Stadtplanern und -entwicklern, aber auch in der Kommunalpolitik der soziale Raum, das Quartier verstärkt als Ort und Instanz sozialer Integration ins Auge gefaßt worden. Dadurch wird zunehmend das Zielgruppenkonzept sozialer Kommunalpolitik abgelöst. Der Stadtteil, das Quartier wird zunehmend erkannt „als eine Ressource zur Lebensbewältigung“5 - vor allem für sozial

schwache Bevölkerungsgruppen - die analytisch weiter aufzuteilen ist in: - Stadtteil als Chance der Existenzsicherung durch Arbeit - Stadtteil als Ort des Wohnens - Stadtteil als Ort sozialen Austauschs - Stadtteil als Ort der Teilhabe an gesellschaftlichen Einrichtungen. Eine von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen eingesetzte Expertenkommission „Freizeitpolitik“ stellt in einem Gutachten fest, daß eine Modernisierung staatlichen Handelns zwangsläufig in Richtung quartiersbezogener Ansätze gehen muß. Förderungsprogramme des Landes für benachteiligte Stadtteile, das Bundesprogramm „Soziale Stadt“ u.a. tragen dem bereits Rechnung. „Der Wohlfahrtstaat mit seinen monetären Transfers und dem Aufbau spezialisierter Großorganisationen hat in der Vergangenheit für Rechtssicherheit und hohe Standards in der Leistungserfüllung gesorgt. Aber: Die neuen Aufgaben zur Verbesserung immaterieller und materieller individueller Problemlagen können durch hochspezialisierte Verwaltungen und Großinstitutionen und -verbände immer weniger gelöst werden. Wichtiger werden bürgernahe, ortsangepaßte, flexible und integrierte Konzepte kleinteiliger Art.6 (Expertenkommission 1994,10).

Gemeinwesenarbeit Es wird deutlich, daß von diesem Verständnis her eine sozialarbeiterische/stadtteilpolitische Integrationsstrategie nötig ist, die den sozialen Raum - also das Verhältnis der Menschen in und zu ihrem Stadtteil berücksichtigt. Eine solche Strategie haben wir seit Mitte der 60er Jahre mit der Gemeinwesenarbeit (GWA) oder auch der stadtteilbezogenen sozialen Arbeit, wie sie in Essen von Wolfgang Hinte genannt wurde. Obwohl wir inhaltlich nicht weit auseinanderliegen, bevorzuge ich doch den Begriff Gemeinwesenarbeit, weil er signalisiert, daß es nicht nur um soziale, sondern auch um kulturelle, ökologische, planerische etc. Arbeit am Gemeinwesen und des Gemeinwesens geht. Eine Erörterung dessen, was Gemeinwesenarbeit ist und tut, hieße Eulen nach Freiburg tragen. Deshalb nur kurz zur Erinnerung und als Voraussetzung für die weitere Argumentation:

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Gemeinwesenarbeit ist eine Interventionsform sozialer Arbeit (und nicht nur dieser), die sich nicht zuerst auf Individuen oder Familien richtet, sondern auf sozialräumliche Einheiten; die sich nicht auf Einzelmenschen im Stadtteil richtet, sondern auf Bevölkerungskategorien: Eltern, Mieterinnen, alleinerziehende Frauen, Bewohnerinnen einer Straße, alte Menschen... und sie ist eine Strategie sozialer Einflußnahme, der es um kollektive Problemlösungsprozesse geht, deren Subjekte die Betroffenen selbst sind. Zentrale Kategorie der GWA - ich denke, der sozialen Arbeit schlechthin - ist Handlungsfähigkeit. Um ihre Herausbildung, Sicherung und Erweiterung geht es in allen Dimensionen dieser Arbeit. Das Quartier, das Gemeinwesen, die Lebenswelt sind dadurch gekennzeichnet, daß sie für die Entwicklung von Handlungsspielräumen und Handlungsfähigkeit sowohl Möglichkeiten als auch Behinderungen bereitstellen. Diese Möglichkeiten und Behinderungen, die der Stadtteil für seine Bewohner „bereithält“, sind gebunden an Ressourcen, die den Bewohnern in unterschiedlicher Weise zugänglich sind. Ressourcen werden hier verstanden als „private und öffentliche Güter ..., die die Lebenschancen von Personen zusätzlich zu ihrem Einkommen beeinflussen“7. Solche Ressourcen können Infrastrukturausstattungen, soziale Dienstleistungen, immaterielle Werte - wie z.B. der Ruf eines Stadtteils - sein. Sie sind Gegenstand von Sozial- und Gemeinwesenarbeit, wenn es ihr darum geht, Handlungsspielräume für die Menschen zu schaffen und zu erweitern. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die Ressource Netzwerk. „Hier wird emotionale Unterstützung geleistet, hier gewinne ich mein Selbstwertgefühl, hier beziehe ich praktische Alltagshilfe. Für alle denkbaren Probleme, von der Schwangerschaft bis zum Verlust einer wichtigen Vertrauensperson, von der Arbeitslosigkeit bis zu schweren körperlichen Krankheiten, gibt es beweiskräftige Befunde, daß Verfügbarkeit und Qualität von Hilfe und Unterstützung aus dem eigenen Beziehungsnetz entscheidend dafür sind, wie wir mit einem solchen Problem zurechtkommen“8. Allerdings: Viele Menschen haben es verlernt, soziale Netze zu knüpfen. Andere


haben keine oder nur begrenzte Möglichkeiten dazu. Das gilt für den materiellen Aspekt (Armut, Infrastrukturmängel) ebenso wie für den sozialen Aspekt (Beispiel: alleinerziehende Mütter), für den psychischen (Isolation) ebenso wie für den sprachlichen Aspekt (Ausländer, schichtspezifische Sprachbarrieren). Deshalb - und das ist nun wahrlich nicht neu - bedarf es der professionellen Hilfe. Ich sehe eine wesentliche Aufgabe sozialer Berufsarbeit darin, den Menschen Ressourcen fürs Überleben oder für ein besseres Leben zur Verfügung zu stellen oder deren Nutzung zu ermöglichen. Sozialarbeit ist demzufolge zu einem wesentlichen Teil Netzwerkarbeit. Das heißt, für die Menschen im Gemeinwesen dessen psychosoziale und soziokulturelle Ressourcen zu entdecken, zu erschließen und ggf. solche zur Verfügung zu stellen: Räume, wo sie an ihren eigenen Netzen stricken können, Nachbarn, Gleichgesinnte, Professionelle. Das Gemeinwesen gewinnt eine neue Bedeutung: Es wird zum Netzwerk formeller und informeller Beziehungen. Seine Bedeutung für den Einzelnen besteht u.a. darin, daß und inwieweit in ihm Unterstützung und Solidarität zu mobilisieren ist. Hier spielt vor allem die lokale Öffentlichkeit eine Rolle. Diese Form des Unterstützungsnetzwerks ist jedoch nicht die einzige, weswegen Vernetzungsarbeit im Gemeinwesen eine zentrale Bedeutung hat, und es wäre kurzsichtig, sich darauf zu beschränken. Wir haben in der Gemeinwesenarbeit seit jeher als zentralen Begriff, als Weg und als Ziel „Aktivierung“ genannt. Damit war und ist gemeint, daß der Bürger sich im lokalen Zusammenhang für seine Interessen einsetzt und sie ggf. auch durchsetzt, dabei seine Lebensumstände positiv verändert - und sich selbst auch. Wir müssen aber - wie Wolfgang Hinte in gewohnter Zuspitzung formuliert - mit „aktivierungsresistenten Betroffenen9“ rechnen. Oder etwas moderater formuliert: „Für eine direkte politische Beteiligung am Geschehen in ihrer Kommune sehen viele Bürger jedoch keine Anknüpfungspunkte. Denn: Stadtverwaltungen werden in der Regel nur dann tätig, wenn Handlungsbedarf besteht; die politischen Parteien interessieren sich nur dann für die Anliegen von Bürgern, wenn eine Wahl ansteht. Es fehlen kontinuierliche Kommunikationszusammenhänge und Foren der Erörte-

rung von gesellschaftlichen und kommunalrelevanten Fragen; eine öffentliche Beschäftigung mit politischen Themen als Handlungsprozeß findet nicht statt. Politik zeigt sich den Bürgern und Bürgerinnen im Grunde nur noch als Handlungsvollzug der Administration.“10

pation die Menschen im Gemeinwesen erreicht haben. Teilhabe = Partizipation (lat. pars - das Teil; capere: nehmen, ergreifen)

Politische Partizipation beschreibt ein Verhältnis zwischen Entscheidungsträgern Eine Vernetzungsstrategie im lokalen und Entscheidungsbetroffenen. Das BestreUmfeld könnte hier ein alternatives Poliben der Entscheidungsbetroffenen geht datikmodell bieten, „denn Netzwerke sind hin, durch Partizipation mindestens zu Entnicht hierarchisch strukturiert, ihre Mitgliescheidungsbeteiligten zu werden. der sind nicht von Weisungen abhängig und agieren unbürokratisch. Natürlich stellt sich auch in solchen Gebilden das Problem In der Kommune kennen wir untervon Macht und Herrschaft. Dieses Problem schiedliche Beteiligungsformen muß Gegenstand einer ständigen Reflexion sein. SelbstbeVerwaltung/Rat obachtung und -aufklärung sind Wesensmerkmale dieparlamentarische vorparlamentarische informelle ses Konzeptes“11. Deshalb Beteiligung Beteiligung Beteiligung muß eine solche vernetzte Quartierspolitik, eine AktiBürger/Wähler/Einwohner12 vierung der Menschen auf der Basis eines tragfähigen Wahl entscheidungsbezogen org. Interessen Netzes gelernt werden. GeParteienmitarbeit anhörungsbezogen indiv. Aktivitäten meinwesenarbeiter wären zielgruppenorientiert öffentl. Meinung u.a. die Organisatoren und Unterstützer dieses Lern- und Teilhabeprozesses. Ich grenze also im Folgenden mein Thema „Was kann Gemeinwesenarbeit zur Teilhabe leisten?“ auf politische Partizipation ein. Damit greife ich Gedanken auf, die ich schon vor 5 Jahren (1994) in Freiburg damals beim Caritasverband - referiert habe: Politik - das sind die öffentlichen Prozesse der Gestaltung unserer Lebensverhältnisse. Darin steckt die Produktion von Entscheidungen und deren Umsetzung. Hier ist ein wichtiger Begriff der der Öffentlichkeit im Gegensatz zum Privaten. Die Einzelhilfe, die Therapie, der Prozeß zwischen Berater und Klient sind privat. Wenn aber das Handeln zum kollektiven wird, wenn es um das Einwirken von und auf Institutionen geht; wenn die Probleme aus dem Privaten herausgehoben, zu öffentlichen, zu sozialen Problemen werden, dann ist das Politik, politisches Handeln, Handeln, das Lebensverhältnisse in einem sozialen Raum, einem Gemeinwesen verändert und gestaltet. Gemeinwesenarbeit, wie ich sie oben definiert habe, ist deshalb immer politisch. Ein zentrales Qualitätsmerkmal von Gemeinwesenarbeit ist, wieviel an politischer Partizi-

18

Die Gemeinwesenarbeit hat traditionellerweise auf die informelle Beteiligung gesetzt. Aktivierung hieß Bürgerinitiative, Demonstration, Protestaktionen, Widerstand. Davon ist vieles verlorengegangen. Die Rückbesinnung auf Community Organization greift das wieder auf. Es wird aber strategisch wichtig, ergänzend - nicht als Ersatz! - auch auf der Klaviatur der anderen Beteiligungsformen zu spielen, wenn es um dauerhafte Partizipation, um bleibenden Einfluß und nicht nur um kurzfristige Erfolge gehen soll. Vor allem vorparlamentarische Beteiligungsformen wie Bürgeranhörungen, Stadtteilversammlungen, Bürgeranträge und -begehren, Beiräte und Beauftragte, sind wesentliche Transmissionsriemen des Betroffeneninteresses in die politischen Entscheidungsgremien und in die Verwaltungen hinein. Wichtig für unseren Zusammenhang ist der Blick auf den Grad des Einflusses von Partizipation, den ich für ein wesentliches Qualitätsmerkmal von Gemeinwesenarbeit halte. Matthias Bartscher unterscheidet im Zusammenhang kommunaler Kinderpolitik: Unverbindliche Partizipation: Hier erfolgt eine Teilnahme am Entscheidungs-

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prozeß durch Informationen, durch Beratungs- und Mitwirkungsrechte oder durch demonstrative Proteste. Mitentscheidung wird zugestanden. Verbindliche Partizipation: Hier kommt es zu einer „Einschränkung der Entscheidungsvollmacht der Dirigierenden durch politische Mitbestimmung“. Mitentscheidung ist verbindlich geregelt. Selbstverwaltung: Hier werden Entscheidungsbetroffene zu Entscheidungsträgern. Die bisherigen Entscheidungsträger sind an der Entscheidung nicht mehr beteiligt.13

men (z.B. der Nebel, der durch „Sachzwangargumente“ erzeugt wird). Therapie geht von der Unfähigkeit der Betroffenen zur eigenen Entscheidung aus und will diesen erst basale Entscheidungsfähigkeiten vermitteln, z.B. Rhetorikkurs oder Einführung in die Kommunalpolitik oder Selbstbehauptungstraining. Anwaltschaft hat in der GWA und Sozialplanung immer eine Rolle gespielt. Der Professionelle vertritt die Interessen der Betroffenen gegenüber den Mächtigen. Entscheidend ist dabei, ob er von ihnen dazu beauftragt wird.

Alle Ebenen haben ihre Berechtigung. Sie sind abhängig vom lokalen Kontext, von der ‘lokalen Richtigkeit’, also von politischen Machtverhältnissen oder vom Engagement und/oder den Fähigkeiten der Entscheidungsbeteiligten.

Anhörung/Beratung/Befragung sind Beteiligungsformen, in der Betroffene ihre Positionen zu anstehenden Fragen einbringen können, ohne daß die Entscheidungsträger dadurch gebunden würden.

Differenzierter stellt dies die Stufenleiter der Partizipation nach Sherry Arnstein dar14. Sie ist schon in den 60er Jahren bezogen auf kommunale Planungsprozesse in den USA entwickelt worden. An ihr können wir ablesen, wo in der Gemeinwesenarbeit unseres Quartiers sich welche Gruppe befindet.

Beschwichtigung meint, daß der Schein des Einflusses der Betroffenen erhöht wird, ohne ihnen letztendlich zu folgen. Das ist bei Runden Tischen und Stadtteilkonferenzen oft der Fall, vor allem wenn Vertreter von Betroffenengruppen teilnehmen, ohne ihrer Gruppe gegenüber rechenschaftspflichtig zu sein.

Bürgerkontrolle Selbstverwaltung

Partnerschaft wird hier verstanden als ein geregeltes Verfahren, in dem Entscheidungsrechte u.a. durch Satzungen, Ordnungen oder Verträge festgelegt sind (Jugendparlamente, Beiräte, Ausschüsse, Stadtteilkonferenzen).

delegierte Macht Partnerschaft Beschwichtigung Anhörung/Beratung/Befragung Anwaltschaft Therapie Manipulation15

Erläuterungen: Manipulation bedeutet hier, daß Entscheidungsträger die Bürger in einer Entscheidung überreden, austricksen, damit diese den geplanten Entscheidungen zustim-

Delegierte Macht bedeutet, daß Betroffene über ein bestimmtes Projekt, Programm oder Teilproblem die volle Entscheidungsmacht erhalten (u.a. selbstverwaltete Bereiche in Einrichtungen, z.B. das Café im Bürgerhaus). Bürgerkontrolle/Selbstverwaltung stellt die volle Entscheidungsmöglichkeit über Programme, Strukturen, Finanzen, Vorgehensweisen, Personalfragen etc. innerhalb eines definierten Raumes dar (Quartiersbudget als Ansatz; selbstverwaltete Häuser).

Diese Arnsteinsche Stufenleiter kann klären helfen, auf welcher Ziel- oder Formebene sich praktische Partizipation befindet, und kann helfen, eigene Strategien im Quartier genauer zu bestimmen, wobei sich

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durchaus unterschiedliche Gruppen im Stadtteil aufgrund unterschiedlicher Bedingungen auf unterschiedlichen Stufen der Leiter befinden können. Nun wird sehr häufig beklagt - vgl. Wolfgang Hintes schöner Begriff der „Aktivierungsresistenz“ -, daß sich auf allen Ebenen der Partizipation nur wenige Menschen beteiligen. Diese Klage ist nicht neu. Schon Platon und Aristoteles beklagten die Mitwirkung der Bürger in der griechischen Polis. Die Klage zieht sich über Rousseau bis zum Slogan der „Politikverdrossenheit“ der Gegenwart durch. Was hindert die Bürgerinnen und Bürger, ihre Partizipationsmöglichkeiten wahrzunehmen? Warum werden Menschen (nicht) aktiv? Hier kommen Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen zu sehr ähnlichen Antworten. Ich beschränke mich heute auf die Soziologie. Hier hat sich ein Ansatz herausgebildet, der „methodischer Individualismus“ genannt wird. Grundannahme dieses Ansatzes ist, daß man nach Eigenschaften von Personen fragen muß, um soziologisch relevante Konzepte aufstellen zu können. Ein solcher Ansatz begreift das Individuum als Entscheidungseinheit, für die - in verkürzter Darstellung - folgende Merkmale konstitutiv sind: „a) Individuen handeln in (eigen-)definierten Situationen aufgrund der von ihnen erkannten Wahlmöglichkeiten. Damit ist gleichzeitig hingewiesen auf die Bedeutsamkeit subjektiv wahrgenommener Situationselemente und Handlungsalternativen. b) Die Wahlmöglichkeiten eines Individuums (oder sein Handlungsspielraum) werden begrenzt durch Einschränkungen z.B. monetärer, rechtlich-normativer und sonstiger struktureller Art. c) Hat ein Individuum die Wahl zwischen mehreren Handlungsalternativen, so entscheidet es sich für jene Alternative, von deren Resultat es sich ausreichend große Vorteile entsprechend seiner Präferenz erwartet.“16 Also, wenn auch nach Binsenwahrheit klingend, aber in der Soziologie lange anders gesehen, ein Konzept vom aktiven Individuum, das immer objektiv und subjektiv bestimmte Wahlmöglichkeiten hat.


Daraus ziehe ich praktische und strategische Konsequenzen: Die erste betrifft die Zielsetzung. Ich kann mich und andere nicht für alles und jedes motivieren. Der Mensch handelt im Grunde nur dann motiviert, wenn das Ziel seines Handelns seinen Interessen entspricht und er das auch erkennt. Wenn Menschen aktiv werden, sich engagieren, nach Teilhabe drängen, dann bedeutet das für sie auch eine erhöhte Risiko- und Anstrengungsbereitschaft. Engagement gelingt dann nur in dem Maße, in dem das Ziel nicht nur berechtigt, sondern auch realistisch und realisierbar angelegt ist. So können unsere Ziele keine abstrakten Festlegungen („Man muß sich engagieren“) und auch keine moralischen Postulate („Du mußt doch was für deinen Stadtteil tun“) sein, sondern sie müssen sich sowohl auf die Sachfragen als auch auf die beteiligten Menschen ausrichten. Läßt man die zweite Hälfte dieser Aussage weg, kann sich der Erfolg leicht in sein Gegenteil verkehren. Unsere Zielformulierungen müssen sich zuallererst an den Möglichkeiten der Beteiligten ausrichten, müssen fragen nach deren objektiven, d.h. tatsächlich gegebenen Lebensumständen und nach den subjektiv vorhandenen Veränderungs- und Einflußmöglichkeiten. Wir müssen nach der Perspektive der Menschen fragen. Das heißt auch, Ergebnisse des geplanten Handelns, für das wir Menschen motivieren wollen, müssen antizipierbar für sie sein. Schlicht gesagt: Die Menschen müssen sich vorstellen können, was für sie ‘hinten heraus kommt’. Im Zusammenhang der Gemeinwesenarbeit sprechen wir auch von der „lokalen Richtigkeit“ aktivierender Maßnahmen.

Engagement/Partizipation bedarf Freiheiten Wenn Menschen aktiv werden, dann bedeutet das oft widersprüchliche individuelle Entwicklungen, Krisen, Spannungen im emotionalen, kognitiven und zwischenmenschlichen Bereich. Konflikte müssen bearbeitet werden, ebenso Mißerfolge und Enttäuschungen. Das geht oft hin bis zur totalen Handlungsunfähigkeit. Man fühlt sich total blockiert. Es muß also Freiräume geben, in denen

solche Prozesse durchgestanden werden können, wo man ehrlich damit umgehen kann. Solche Freiräume dienen auch dazu, sanktionsfrei Lösungsmöglichkeiten zu erproben, produktive Umwege zu gehen, Alternativen zu testen, reden zu können, wie einem der Schnabel gewachsen ist und sich nicht unbedingt an Gepflogenheiten einer Ratssitzung oder irgendwelcher Geschäftsordnungen halten zu müssen.

Kosten und Nutzen Wenn man davon ausgehen kann, daß keiner bewußt gegen seine Interessen handelt, dann bedeutet das, er stellt jeweils seine persönliche Kosten-Nutzen-Analyse auf. Er fragt: Was habe ich davon? Von moralischen Appellen hat keiner was. Auch die erwähnten soziologischen Erklärungsansätze sind sich darüber einig, „daß Personen sich nur dann in kollektiven politischen Aktionen engagieren, wenn sie in einem Vergleich mit den zu erwartenden Kosten und Nutzen denkbarer Handlungsalternativen zu dem Schluß kommen, daß ihnen diese Art und Handlung ausreichenden Gewinn verspricht. Daraus folgt, daß sowohl politische Aktivität als auch Inaktivität rationale Handlungen ... darstellen können“17. Auch der Mensch, der sich nicht engagiert, hat zumindest aus seiner Sicht gute Gründe. Dabei steht auf der Kostenseite die nicht selten aus Erfahrungen gewonnene Angst der Menschen vor Sanktionen und vor Mißerfolgen, die Einschätzung, daß die Aktion so unmittelbar mit ihnen nichts zu tun habe. Die Landesstudie 1997 zum bürgerlichen Engagement in Baden-Württemberg sieht als die größte Barriere für Engagement das Gefühl der Machtlosigkeit („Es bringt ja doch nichts!“). Auf der Nutzenseite steht - oft ebenfalls durch Erfahrungen gestützt - der zu erwartende Erfolg, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer aktiven Gruppe, die Anerkennung anderer, nicht selten bedeutungsvoller Menschen. Gerade das hat, so zeigen unsere Erfahrungen im Einklang mit vielen Untersuchungen, hohe Bedeutung. Die Eurovol-Studie zum ehrenamtlichen Engagement spricht in diesem Zusammenhang von „persönlichen Rückgewinnungspotentialen“ 18, dazu gehören nach den Aussagen der Befragten in zehn europäischen Ländern u.a. die Befriedigung über sichtbare Ergebnisse - deshalb sollten wir dafür sorgen, daß Bürgerengagement auch Erfolg hat - die Begegnung mit ande-

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ren Menschen, aber auch Kompetenzerwerb in der Aktion. Ein wichtiger Aspekt ist hier auch, auf die emotionalen Kosten und den emotionalen Nutzen zu achten. Wie wohl fühle ich mich bei der Teilhabe, wo werde ich verletzt? Darauf achten wir oft zu wenig. Dabei ist eine wichtige Voraussetzung für Aktivierung ein gewisser Grad an Informiertheit über das öffentliche Leben der Stadt oder des Stadtteils und den Ablauf politischer Prozesse, aber auch Informiertheit über Entscheidungsmöglichkeiten und rechte. Das wird von zahlreichen empirischen Untersuchungen gestützt. Wichtiger Faktor der Kosten-NutzenAnalyse und damit der Entscheidung, sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, ist schließlich auch die Ein- und manchmal Unterschätzung der eigenen Kompetenz. In Untersuchungen von Selbsthilfegruppen ist zutagegetreten, daß die Überzahl der Mitglieder von Selbsthilfegruppen deshalb mitmachen, weil sie einen Zuwachs von Kompetenz erwarten, seien es nun Kompetenzen der unmittelbaren Lebensbewältigung oder auch andere Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dies belegen auch (nicht nur) unsere Erfahrungen in Gemeinwesenprojekten. Auch die Zeitperspektive spielt eine Rolle. Aktivierung, die Entscheidung für politisches Handeln, Sich-Beteiligen ist „in der Regel nicht eine einmalige Handlung, sondern eine Sequenz aufeinander bezogener Handlungen“19, d.h. es müssen immer wieder neue Angebote gemacht werden; das heißt Geduld, Gelassenheit und langer Atem.

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Zurück zur Gemeinwesenarbeit Die Titelfrage des Referates lautet: Was kann Gemeinwesenarbeit zur Teilhabe leisten? Aufgrund der bisherigen Erörterungen möchte ich diese Frage jetzt thesenartig beantworten: * Gemeinwesenarbeit als eine sozialräumliche Strategie, die sich auf die Lebenswelt der Menschen bezieht, kann genau die Probleme aufgreifen, die für die Menschen wichtig sind und sie dort lösen helfen, wo sie von den Menschen bewältigt werden müssen. Dabei kümmert sich GWA prinzipiell um alle Probleme des Stadtteils und nicht, wie oft Bürgerinitiativen, um ein einziges. Damit schafft sie Kontinuität, auch wenn es bei dem einen oder anderen Problem Mißerfolge gibt.

* Gemeinwesenarbeit kann aufgrund ihrer methodischen Vielfalt als methodenintegrative Strategie auch viele Möglichkeiten für Teilhabe und partizipatives Handeln zur Verfügung stellen, von der aktivierenden Befragung über „Community Organization als ein Element zur Wiederbelebung von Interessenorganisation“20 und zur Befähigung der Teilhabe bis hin zur widerständigen Aktion.

* Gemeinwesenarbeit bietet insbesondere durch offene, niedrigschwellige Räume und Angebote und unter Verzicht auf den pädagogisch oder politisch erhobenen Zeigefinger Gelegenheitsstrukturen und Logistik für Engagement und Partizipation. Dazu gehört auch das Beschaffen vieler notwendiger Informationen aus dem politischen Raum, an die die GemeinwesenarbeiterInnen in der Regel leichter herankommen als die Betroffenen. Dazu gehören auch gegenseitiges Mutmachen sowie Training und Schulung.

* Es ist Aufgabe der Gemeinwesenarbeit, Einzelnen, Gruppen und dem Stadtteil bei der Problemveröffentlichung zu helfen. Das Verhältnis Gesellschaft - Lebenswelt ist nicht allein dadurch zu bestimmen, wie die Gesellschaft in die Lebenswelt hineinagiert, sondern auch danach, wie die Probleme der Lebenswelt in den gesellschaftlichen, d.h. politischen Diskurs zu bringen sind.

* Gemeinwesenarbeit knüpft Netze, die die Menschen halten, stützen und unterstützen, wenn sie sich aktiv an Entscheidungsprozessen beteiligen wollen. Hierzu gehören auch die Netze der Professionellen im Stadtteil selbst, die erreichte Positionen absichern helfen. Das wäre aber ein weiteres interessantes Thema.

* Gerade mit dieser Vernetzung (aber nicht nur) bietet GWA ein Politikmodell „von unten“, das nicht nur auf die Organisation von Gegenmacht ausgerichtet ist, sondern auch die Politikformen in unseren Städten auf die Weise durchdringt, daß die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadtteile nicht nur mehr gehört werden, sondern auch mehr und dauerhaft Entscheidungen im und für den Stadtteil treffen können. Dadurch wird ein Prinzip der Teilhabe durch GWA möglich, das ich in einem Strategiepapier für einen Stadtteil meiner Heimatstadt Dinslaken im Jugendhilfeausschuß formuliert habe und das mittlerweile auch Grundlage kommunalen Handelns geworden ist: „Lösungen und Strategien für Lohberg müssen aus dem Stadtteil selbst erwachsen. Die Wünsche und Vorstellungen der Menschen im Stadtteil, ihre Ressourcen und Aktivitätsbereitschaft, die Institutionen und Gruppierungen, die im Stadtteil zuhause sind, müssen die Träger der Veränderung in Lohberg sein. Akzeptanz und Prioritäten von Maßnahmen muß von und mit ihnen ausgehandelt werden. Das heißt auch - und ich betone dies mit Nachdruck - kein Zuschütten Lohbergs mit Programmen und Maßnahmen von außen, mit denen Träger unterschiedlicher Art sich selbst profilieren oder an Fördermittel kommen wollen. Der namhafte Verwaltungswissenschaftler Klages hat auf einem Symposion zum Thema ‘Glück’ empirisch gestützt folgenden Sachverhalt vorgetragen: Wenn Politik mit dem Anspruch auftritt, das Glück des Bürgers zu befördern, ist dessen Zufriedenheit besonders gering. Je mehr Bürgerinnen und Bürger selbstverantwortlich tun können, desto höher ist ihre Zufriedenheit.“

Mit meinen Gedanken zur Frage, was GWA zur Teilhabe der Menschen im Stadt-

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teil leisten kann, nähere ich mich durchaus Positionen an, die auf der einen Seite Monika Alisch und auf der anderen Seite Wolfgang Hinte21 unter dem Begriff „Stadtteilmanagement“ vorgetragen haben.

Was heißt nun Gemeinwesenarbeit als Stadtteilmanagement? - Stadtteilarbeit und Stadtteilerneuerung bedarf - das ist unbestritten - der GWA als Stadtteilmanagement. „Mit dem Begriff ‘Management’ soll gegen betriebswirtschaftliche Managementverständnisse betont werden, daß der Aufbau von Kommunikationsstrukturen im Quartier, der Prozeß der Bewohneraktivierung und das Bilden von Strukturen der Selbstorganisation zunehmend wichtiger werden für die nachhaltige Entwicklung des Quartiers, während die Modernisierung der Wohnhäuser oder der Bau neuer Infrastruktureinrichtungen eher in den Hintergrund treten“.22

- GWA als Stadtteilmanagement geht deutlich über die rein betreuenden, fürsorgerischen Interventionen der sozialen Arbeit und die nützlichen Dienstleistungen der Gemeinwesenarbeit im Stadtteil hinaus und bewährt sich als multidimensionale stadtentwicklungspolitische Strategie zur Erneuerung nicht nur benachteiligter Stadtviertel. - Ziel eines solchen Ansatzes sind langfristig Bewohnerorganisationen, die eigenverantwortlich über die Entwicklung ihres Stadtteils entscheiden. - GWA als Stadtteilmanagement hat als wesentliche Aufgabe die Moderation und Unterstützung von Interessenkonflikten im Stadtteil und die Entwicklung und Vernetzung von Projekten. Sie schafft ein Klima lokaler Kooperation und Partizipation, das immer wieder neu gesichert werden muß. Stadtteilmanagement - und das ist mir sehr wichtig - muß weder die Aufgabe der Kommune noch die der Professionellen sein. Idealerweise könnte es die Koproduktion von engagierten Bürgerinnen und Bürgern und der Gemeinwesenarbeit durch Professionelle sein. Sollte eine Kommune Stadtteilmanagement beginnen, ist das ja allemal besser als bloße Maßnahmenpolitik. Die Aufgabe sollte aber langfristig auf


aktive Bewohnerorganisa‚tionen übergehen. Soweit ist aber meines Wissens noch keine Kommune in der Bundesrepublik gekommen.

Schlußbemerkung Gemeinwesenarbeit - so glaube ich kann wesentliche Beiträge zur gesellschaftlichen Integration, zur Teilhabe der Menschen leisten. Voraussetzung aber ist - und da setze ich mich in bewußten Gegensatz zu Wolfgang Hinte23, - sich der politischen Bedeutung von Gemeinwesenarbeit und Partizipation bewußt zu bleiben. Politisch heißt dabei jedoch nicht „vom herrschaftsfreien Dialog in einer Welt voll guter Menschen zu träumen, es wird richtiger sein, eine realistische Theorie von Macht und Herrschaft zu formulieren, die hilft, daß jeder nach seiner Möglichkeit an der Ausübung von Macht teilnehmen kann“24. Gemeinwesenarbeit hat - wie andere Interventionsformen sozialer und kultureller Arbeit auch - die Aufgabe, die Ressource Solidarität herzustellen, Netze zu knüpfen, Menschen zu unterstützen und zu stärken, wenn sie solidarisch in ihrer Lebenswelt handeln wollen. Wenn wir von Individualisierung und Entsolidarisierung als einer Grundtatsache der modernen Gesellschaft ausgehen25, dann ist es eine Aufgabe sozialer und kultureller Arbeit, „Bedingungen für Alltagssolidarität zu schaffen, die sich offensichtlich in modernen Gesellschaften nicht ohne weiteres ergeben“26. Zu diesen Bedingungen gehört der Aufbau von lebensweltlichen Unterstützungsnetzen, das Zurverfügungstellen von sanktionsfreien Räumen als Anlaufstelle für Informationen, als Gelegenheit für Austausch und Teilhabe, als Basis für Aktivität und Aktion und schließlich auch das Bereitstellen von personellen Ressourcen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ich bin fest davon überzeugt, daß das Konzept der Partizipation ohne die Substanz politischer Grundideen eine hohle Muschel bleibt. Aber ich bin ebenso überzeugt, daß auf der Basis der Leitidee Solidarität Partizipation ein Qualitätsmerkmal politischer Gemeinwesenarbeit ist. „Kollektives Handeln ist dann politisch, wenn es seinen Gebrauchswert gewinnt

aus der Bildung von Gemeinwesen, wenn es dem Schutz dieses Gemeinwesens dient und dessen Entwicklungsmöglichkeiten befördert. Ein Gemeinwesen darf nicht einzelne Bevölkerungsteile, einzelne Menschen, einzelne Realitätszusammenhänge, einzelne Rechtsansprüche ausgrenzen; es ist so reich, wie es Zusammenhänge herzustellen vermag.“27 Fußnoten 1 Walter Hanesch: Armut und Armutsberichterstattung in Kommunen, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 43/1992/1/20 - 26, hier: S. 25. 2 Michael Krummacher: Armut und kommunale Sozialpolitik im Ruhrgebiet - das Beispiel Bochum, in: Breckner/Heinelt u.a.: Armut im Reichtum. Bochum 1989, 231-273, hier: S. 245. 3 Hinweise dazu finden sich bei: Susan Grüner, Christiane Dahlmann: Gemeinwesenorientierte Sozialarbeit in Stadtteilen und Wohngebieten. Eine empirische Untersuchung in Westfalen. Diplomarbeit KFH NW, Abteilung Paderborn, Paderborn 1997 und Franz Hamburger und Sascha Weber: Wohnort als Chance? Migranten in der Stadtteilund Gemeinwesenarbeit in Rheinland-Pfalz. Mainz 1996. 4 Monika Alisch: Stadtteilmanagement - Zwischen politischer Strategie und Beruhigungsmittel, in: diess. (Hrsg.): Stadtteilmanagement - Voraussetzungen und Chancen für die soziale Stadt. Opladen: Leske + Budrich: 1998, S. 8. 5 Ulfert Herlyn, Ulrich Lakemann, Barbara Lettko: Armut und Milieu. Benachteiligte Bewohner in großstädtischen Quartieren. Basel u.a.: Birkhäuser: 1991 (Stadtforschung aktuell 33), S. 21. 6 Expertenkommission „Freizeitpolitik“: Perspektiven für den Lebensort Nordrhein-Westfalen (Entwurf). Düsseldorf 1994. Unveröff. Man. S. 10. 7 Peter Franz: Stadtteilentwicklung von unten. Zur Dynamik und Beeinflußbarkeit ungeplanter Veränderungsprozesse auf Stadtteilebene. Basel, Boston, Berlin: 1989, S. 22 (Stadtforschung aktuell 21). 8 Heiner Keupp: Gemeindepsychologie: Alternative zum Psychokult? in: Neue Praxis 20/1990/2/168 177; hier: S. 172. 9 Wolfgang Hinte: Management mit Charme. Schlüsselqualifikationen in der Gemeinwesenarbeit, in: sozial extra 21/1996/11/9 - 11; hier: S. 9. 10 Heinz H. Meyer: Kommunale Entwicklung und Partizipation. Politik als kultureller Lernprozeß, in: Friedrich Hagedorn (Hrsg.): Anders arbeiten in Bildung und Kultur: Kooperation und Vernetzung als soziales Kapital. Weinheim und Basel: Beltz 1994, S. 50 (ZukunftsStudien 14). 11 ebda S. 52. 12 nach Ulrich von Alemann: Vorparlamentarische Beteiligung in der kommunalen Demokratie, in: Stiftung Mitarbeit (Hrsg.): Bürgerbeteiligung und Demokratie vor Ort. Bonn 1997, S. 9-31. 13 Matthias Bartscher: Partizipation von Kindern in der Kommunalpolitik. Freiburg: Lambertus 1998, S. 24. 14 nach Benedikt Sturzenhecker: Qualitätsanfragen an Jugendpartizipation, in: deutsche jugend 46/1998/5/212f. 15 vom Verfasser dieses Artikels modifizierte Fassung. 16 Peter Franz: a.a.O. S. 50. 17 Peter Franz, a.a.O., S. 116.

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18 Irmtraut Paulwitz, Gabriele Steffen, Ulrich Otto: Bürgerschaftliches Engagement - internationale und städtische Perspektiven, in: Siegfried Müller, Heidi Reinl (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Konkurrenzgesel schaft. Beiträge zur Neugestaltung des Sozialen. Neuwied u.a. 1997, S. 180. 19 Peter Franz a.a.O. S. 119. 20 Tilo Klöck: Empowerment, in: Wolfgang Krebs (Hrsg.): Methodische Ansätze in der Gemeinwesenarbeit. Gelnhausen: Burckhardthaus 1996, S. 21. 21 vgl. Fußnoten 5, 10 und 22. 22 Monika Alisch: Stadtteilmanagement - Zwischen politischer Strategie und Beruhigungsmittel, in: diess. (Hrsg.): Stadtteilmanagement. Voraussetzungen und Chancen für die soziale Stadt. Opladen 1998, S. 12. 23 „...die alten Formeln ‘Parteilichkeit’ und ‘Solidarität’ geben keine Antworten auf die Fragen derjenigen, die sich in den Pfaden des lokalen Politik-Dschungels verlaufen haben, und das Gerede davon, daß die GWA wieder politisch werden müsse, trägt auch nicht sonderlich zur Ausbildung von Handlungskompetenz von Professionellen bei...“(Hinte 1994, 9). 24 Joseph Huber: Was aus den guten Vorsätzen gewor den ist. Die Idee der Netzwerke. Ein kritischer Rückblick auf verschiedene Projekte und der Versuch eines Ausblicks, in: Frankfurter Rundschau vom 8.2.1990, S.19. 25 vgl. Ulrich Beck: Die Risikogesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986; Adalbert Evers, Helga Novotny: Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987; Heiner Keupp: Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation. Heidelberg: Asanger 1988. 26 Karl Otto Hondrich, Claudia Koch-Arzberger: Solidarität in der modernen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Fischer 1992, S. 58. 27 Oskar Negt, Alexander Kluge: Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen. Frankfurt am Main 1992, S. 15.

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von Georg Zinner

Nachbarschafts-, Selbsthilfeund Familienzentren in Berlin Arbeitsgrundsätze, Ausstattung, flächendeckende Versorgung und Neustrukturierung

A. Arbeitsgrundsätze und Prinzipien

1. Nachbarschaftshäuser sind das Ergebnis bürgerschaftlichen Engagements Stadtteilzentren/Nachbarschaftshäuser entstehen aus bürgerschaftlichem Engagement und leben von bürgerschaftlichem Engagement. Gesellschaftliche Grundprinzipien der Demokratie und der Subsidiarität, also allgemeine Bürgerrechte, gewährleisten ihnen Gestaltungsfreiheit bei der Wahrnehmung ihrer Ziele, ihrer Aufgaben und deren Umsetzung.

2. Bürgermitwirkung und lokales Umfeld erfordern Vielfalt Daraus leiten sich auf der einen Seite Strukturprinzipien für die Führung und Verantwortung von Nachbarschaftshäusern ab, die die Mitwirkung und Mitgestaltung der Bürger/innen und Besucher/innen ermöglichen und andererseits die zwingende Rücksichtnahme staatlicher und kommunaler Instanzen gegenüber Entscheidungen des Trägers eines Nachbarschaftszentrums. Aus den Gestaltungsprinzipien bürgerschaftlichen Engagements ergibt sich, daß Nachbarschaftshäuser zwangsläufig unterschiedlich aussehen: Ihre individuelle Entstehungsgeschichte, ihr jeweiliges Umfeld, die

handelnden Personen, die nutzbaren Räumlichkeiten, die zur Zusammenarbeit zur Verfügung stehenden Partner sind jeweils andere. Diese Unterschiedlichkeit spricht für Qualität. Zentral gesteuerte und geplante Gleichförmigkeit und Uniformität können nur auf Kosten von Bürgerinteressen und deren sozialen Bedürfnissen erreicht werden.

3. Grundprinzipien der Nachbarschaftsarbeit Bei aller Verschiedenheit sind aber Grundprinzipien zu erfüllen, die ein Nachbarschaftshaus erst zu einem Nachbarschaftshaus machen. Zusammengefaßt die wichtigsten Grundprinzipien:

* Ermunterung und Förderung der Selbsthilfe und eigenverantwortlicher Aktivitäten von Personen, Gruppen und Initiativen * Ermunterung und Förderung des bürgerschaftlichen Engagements (der ehrenamtlichen, bzw. freiwilligen Arbeit) * individuelle Hilfeleistung durch Beratung und geeignete Unterstützung durch eigene Dienstleistungsangebote oder durch ihre Vermittlung * Transparenz und Öffentlichkeit aller Angebote, attraktive und offensive Öffentlichkeitsarbeit

* alle Schichten und Gruppen der Bevölkerung werden angesprochen (Kinder, Jugendliche, Eltern, alte Menschen)

* attraktive Räumlichkeiten, die das Wohlbefinden fördern und vielfältige Aktivitäten ermöglichen

* kommunikationsfördernde, generationsübergreifende und integrierende Angebote (z.B. für Ausländer, Behinderte, Menschen in besonderen Lebenssituationen und mit zeitweiligen und/ oder dauerhaften Problemen)

* Zusammenarbeit und Vernetzung mit anderen Institutionen mit dem Ziel optimaler Ressourcennutzung

* mit den Stärken der einzelnen Personen arbeiten und ihre kreativen Potentiale entwickeln * Verknüpfung sozialer, kultureller und gesundheitsfördernder Aktivitäten

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* Regionalität (überschaubares Einzugsgebiet und Berücksichtigung gewachsener Strukturen).

Letztlich verstehen sich Nachbarschaftshäuser als Brückenbauer, als Ermöglicher, als Aktivitätszentren und als professionelle Dienstleister.


4. Anerkennung durch den Verband nur bei Erfüllung der Grundprinzipien Die Erfüllung dieser (und der eingangs genannten) Grundprinzipien ist die Voraussetzung dafür, als Nachbarschaftshaus („Ein Haus für Alle“, „Offen für Alle“) vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit anerkannt zu werden. Der Verband muß ein offizielles Anerkennungsverfahren einführen und sozusagen die „Titel“ anerkennen und zu diesem Zweck die Begrifflichkeiten rechtlich schützen lassen (sofern dies rechtlich möglich ist).

5. Unterschiedliche „Typen“ von Nachbarschaftshäusern In der Praxis haben sich aus den genannten Gründen unterschiedliche Entwicklungen der Nachbarschaftshäuser ergeben. Diese unterschiedliche Entwicklung muß auch künftig möglich sein und unbedingt respektiert werden. So ist es zwar nur schwer vorstellbar, aber durchaus möglich, daß es Nachbarschaftszentren gibt, die ausschließlich mit ehrenamtlichen Mitarbeitern funktionieren, wahrscheinlicher aber ist der Trend zu professionell geführten Nachbarschaftshäusern mit zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen und vielen selbständigen Gruppen sowie zusätzlichen sozialen, kulturellen und gesundheitsfördernden Dienstleistungsangeboten, die über ihre eigenen Projektoder Leistungsfinanzierungen verfügen.

Daraus lassen sich verschiedene Typen von Nachbarschaftshäusern ableiten:

Typ 1: Stadtteilladen Ausschließlich ehrenamtliche Mitarbeiter/innen Typ 2: Nachbarschaftstreffpunkt Hauptamtliche Mitarbeiter/innen, gestützt und getragen von ehrenamtlichen Mitarbeiter/ innen mit mindestens nachbarschaftsorientierten, generationsübergreifenden Angeboten (Haus für Alle) und der Förderung von Initiativen und bürgerschaftlichem Engagement Typ 3: Nachbarschaftshaus (bzw. nach der Vertragsbegrifflichkeit „Stadtteilzentrum“) Hauptamtliche Mitarbeiter/innen, gestützt und getragen von ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen mit mindestens nachbarschaftsorientierten, generationsübergreifenden Angeboten (Haus für Alle) der Familienbildungsarbeit und der Förderung von Selbsthilfe und bürgerschaftlichem Engagement. Dieser Typ könnte auch als „Regeltyp“ bezeichnet werden. Typ 4: Nachbarschaftshaus plus (Trägerschaften) Z.B. für Kindertagesstätten, Jugendfreizeiteinrichtungen, Familienbildungsarbeit,

Betreuungsvereine, Regionale Beratungsund Kontaktstellen für Selbsthilfe, Beschäftigung und Qualifizierungsprojekte, Integration von Ausländern, Seniorenfreizeiteinrichtungen, Sozialstationen u.a. mehr. Hinzu kommt eine regionale „Ordnungs- und Strukturierungsfunktion“, die in enger Zusammenarbeit mit Bezirk, Senat, Wohlfahrtsverbänden, Kirchengemeinden und örtlichen Vereinen und Initiativen wahrzunehmen ist.

B. Die personelle, räumliche und sachliche Grundausstattung Die erforderliche personelle und finanzielle Grundausstattung läßt sich grundsätzlich aus den o.g. Typen ableiten, muß aber trotzdem nicht für jede Einrichtung identisch sein. Während Typ 1 mit der Finanzierung von Raumkosten, Öffentlichkeitsarbeit, Büro kosten und Aufwandsentschädigung zufriedengestellt werden kann, muß für alle ande ren Typen eine Personalkostenfinanzierung erfolgen, bei der es sinnvollerweise eine Mindestgrößenordnung gibt (schon um Vertretungssituationen gerecht zu werden und um dem zwangsläufig hohen Verwaltungsaufwand gerecht zu werden). Die Grundfinanzierung des Typs 3 (Regeltyp): 1. Personelle Grundausstattung:

Nr.

Funktion

Aufgaben

Stellen

Kosten in DM

Anmerkung

1

Leitung

Leitung, Außenvertretung, Aufbau neuer Projekte

1

90.000

Nebenaufgabe möglich, z.B. Seniorenarbeit

2

Sozialarbeiter/-pädagogin

Stadtteilarbeit, „Quartiersmanagement“, Öffentlichkeitsarbeit

1

75.000

Nebenaufgabe möglich, z.B. Kulturarbeit, Beschäftigung u. Qualifizierung

3

Sozialarbeiter/-pädagogin

Förderung der Selbsthilfe und des freiwilligen Engagements, Spendenwerbung

1

75.000

Nebenaufgabe möglich, z.B. Aufbau von Kursangeboten für Gesundheitsförderung

4

Pädagoge(in)

Familienbildungsarbeit

1

75.000

Nebenaufgabe möglich, z.B. Aufbau u. Begleitung von Mütter-KinderGruppen

5

Erzieher/in

Kinder- und Jugendfreizeitangebote

1

65.000

Nebenaufgabe möglich: z. B. Jugendbildungsarbeit

6

Verwaltungsmitarbeiter/in

Personalverwaltung, Finanzverwaltung

1,50

90.000

enge Zusammenarbeit mit dem Leiter (Assistenz)

7

Reinigungskraft/Haushandwerker

Reinigung, Reparaturarbeiten u.ä.

1

55.000

8

Kursleiter/innen, ehrenamtliche Mitarbeiter/ innen

Honorare, Aufwandsentschädigungen

25

60.000

SUMME

7,5

i585.000

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Die personelle Grundausstattung ist von den Aufgabenstellungen abgeleitet. Es ist fachlich und arbeitsorganisatorisch zwingend, daß sich jeweils eine Person einer bestimmten Aufgabe fachlich hauptsächlich zuwendet. 2. Räumliche Grundausstattung Nr.

Funktion

Anzahl

Größe in qm pro Raum

Miete/NK pro qm in DM

Kosten in DM/Jahr

1

Büros, Sprechzimmer

5

20

25

30.000

2

Gruppenräume

5

20 – 40

25

45.000

3

Veranstaltungsraum/Saal

1

120

25

36.000

SUMME:

11

370

111.000

5. Eigenmittel: Es dürfte möglich sein, etwa 10 % dieser Kosten selbst zu erwirtschaften, also rund 70 - 80.000 DM. Das sind Vereinsbeiträge, Kursbeiträge, Spenden, Zuwendungen von Dritten und von Sponsoren.

3. Sachliche Grundausstattung Nach allen Erfahrungen liegt der Sachkostenbedarf etwa bei folgenden Größenordnungen: Nr.

Zweck

monatliche Kosten in DM

jährliche Kosten in DM

1

Büro- und Geschäftsbedarf

2.000

24.000

2

Öffentlichkeitsarbeit

1.500

18.000

4

Abschreibungen Wiederbeschaffung

1.500

18.000

5

Sonstiges

1.000

12.000

SUMME

6.000

72.000

6. Förderbedarf: Damit liegt der Förderbedarf bei einem Nachbarschaftshaus vom Regeltyp 3 bei 700.000 DM pro Jahr. Im Jahr 2000 stehen lt. Vertrag für die Förderung der Stadtteilzentren 7.687.000 DM zur Verfügung. Das bedeutet, daß allenfalls 11 Nachbarschaftshäuser vom „Regeltyp“ gefördert werden könnten, vorausgesetzt, die Selbsthilfekontaktstellen sind bereits integriert. Da die finanzielle Förderung auf „Regeltypen“ nicht kurzfristig ausgerichtet werden kann, besteht nur die Möglichkeit, für die einzelnen Einrichtungen nach und nach die Voraussetzungen hierfür zu schaffen.

4. Zusammenstellung der Kosten: 1

Personalkosten

585.000 DM

2

Raumkosten

111.000 DM

3

Sachkosten

72.000 DM

SUMME:

768.000 DM

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C. Flächendeckende Versorgung 1. Die vorhandenen Mittel reichen nicht für eine flächendeckende Versorgung Eine flächendeckende Versorgung ist mit den vorhandenen finanziellen Mitteln nicht möglich. Die realistischen Einzugsgrößen von Nachbarschaftszentren dürften in Berlin in der Größenordnung von 50 000 bis 80 000 Einwohnern liegen. Bei einer Einwohnerzahl von 3 500 000 bedeutet dies, daß Berlin etwa 50 Nachbarschaftszentren benötigt. Dabei sind Unterschiede einzukalkulieren: Nur etwa jedes zweite bis dritte Nachbarschaftszentrum benötigt einen speziellen Mitarbeiter für Selbsthilfe. Nicht jedes Nachbarschaftshaus muß Familienbildungsarbeit anbieten. Viele Nachbarschaftszentren haben spezielle Einrichtungen für Kinder- und Jugendarbeit, müssen deshalb nicht unbedingt eine Erzieherstelle im Nachbarschaftshaus haben.

2. Der angenommene Finanzbedarf der unterschiedlichen Typen:

mehr genutzte oder zu wenig bzw. falsch genutzte Räumlichkeiten oder Einrichtungen für diesen Zweck umzuwidmen.

3. Realisierungschancen für die Finanzierung einer flächendeckenden Versorgung Dieser Finanzbedarf kann aufgebracht werden, wenn sich Senat, Bezirke und Wohlfahrtsverbände (insbesondere der Paritätische) zusammen mit den Fachverbänden darauf einigen, dieses in den nächsten fünf Jahren ernsthaft zu erreichen. Die verschiedenen Senatsverwaltungen müssen dazu veranlaßt werden, ihre Mittel auf dieses Modell zu konzentrieren und damit aufhören, fragwürdige Sondermodelle zu finanzieren (Musterbeispiel: Quartiersmanager). Klar ist, daß dieses Ziel nur erreichbar ist, wenn die notwendige Unterstützung dafür organisiert wird. Das bedeutet für alle Beteiligten harte Arbeit. Denkbar ist, daß zusätzliche Mittel der EU, des Bundes, von Stiftungen eingeworben werden, da es sich bundesweit durchaus um ein modellhaftes Programm handelt.

Typ

Bezeichnung

Anzahl

Förderbedarf pro Typ/Jahr

Förderbedarf gesamt in DM

1

Stadtteilladen

3

50 000

150 000

2

Nachbarschaftstreffpunkt

20

400 000

8 000 000

3

Nachbarschaftshaus (Regeltyp)

15

700 000

10 500 000

4

Nachbarschaftshaus plus

12

700 000

840 000

SUMME

Nachbarschaftszentrum

50

im Durchschnitt ~ 400.000

19 490 000

Demnach könnte man mit einer Summe von rund DM 20 000 000 tatsächlich eine flächendeckende Versorgung mit Nachbarschaftszentren („Stadtteilzentren“ in der Begrifflichkeit des Vertrages) in Berlin bekommen und dabei sowohl die historisch gewachsenen Nachbarschaftszentren aktuellen Erfordernissen anpassen, ohne sie in ihrer Substanz zu gefährden als auch neuere und noch zu schaffende Einrichtungen ausreichend finanzieren. Bei 50 Nachbarschaftszentren können regionale Strukturen und örtliche Gegebenheiten voll berücksichtigt werden. Alle Zentren würden buchstäblich in der „Nachbarschaft“ liegen. In Berlin gibt es sehr viele Möglichkeiten, nicht

4. Die Einbeziehung bezirklicher Versorgungsangebote durch Übertragung in freie Trägerschaft Die Chance der Finanzierung der o.g. Aufgabe wird noch größer, wenn bisherige Versorgungsaufgaben der Bezirke in den Nachbarschaftszentren gebündelt werden, ihnen also vor allem vorhandene Kinderund Jugendfreizeiteinrichtungen, Seniorenfreizeitstätten u.ä. übertragen werden und auch freie oder frei werdende Räumlichkeiten der Bezirke zur kostenfreien Nutzung übertragen werden. Dies ermöglicht den Bezirken Ersparnisse, verbessert im Normalfall

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die Einrichtungen, führt zu Synergieeffekten und zur Kostensenkung z.B. bei den Mieten und machen die Finanzierung von Personalstellen im Nachbarschaftsbereich überflüssig, können also zu erheblichen Kostensenkungen im Senatsetat für Nachbarschaftszentren führen. 5. Die Gewinnung von Kooperationspartnern In der Strukturierungsphase sollten Kooperationspartner gefunden werden, die daran interessiert sind, diese innovative bür gerorientierte Form sozialer Arbeit zu etablieren und daher zu unterstützen. Partner hierfür sind m.E. der Paritätische Wohlfahrtsverband und einige Stiftungen, z.B. die Bosch-Stiftung, aber auch die Berliner Jugend- und Familienstiftung. Die Unterstützung könnte auf zwei Ebenen erfolgen: personelle und begleitende Hilfe in der Strukturierungsphase, finanzielle Hilfe, um Härten bei der Umverteilung von Mitteln zu mildern.

D. Regionale Kontakt- und Beratungsstellen für Selbsthilfe und Nachbarschaftsarbeit 1. Zwei Modelle für die Einbeziehung in die Nachbarschaftshäuser Während es zu wenige Nachbarschaftszentren gibt, gibt es eher zu viele Selbsthilfekontaktstellen. Zur Zeit werden knapp 20 Kontaktstellen für Selbsthilfe mit 30 Personalstellen gefördert. Denkbar sind im Prinzip zwei Mo delle: Jedes Nachbarschaftszentrum erhält 1 Personalstelle (und die Sachmittel), um auch die Aufgaben für Selbsthilfe wahrzunehmen oder aber: Nur jene Nachbarschaftszentren, die aufgrund ihrer Lage, ihrer räumlichen Möglichkeiten und möglicherweise ihres bisherigen Engagements in der Selbsthilfe ein besonderes Profil entwickeln können oder entwickelt haben, wird oder bleibt ein Nachbarschaftszentrum mit dem Zusatzprofil „Regionale Kontaktstelle für Selbsthilfe“. Dann dürfte es ausreichend sein, wenn in Zukunft pro Bezirk eine Regionale Kontaktstelle für Selbsthilfe existiert - diese müßte in Zusammenarbeit mit den anderen Nachbarschafts zentren dafür sorgen, daß in diesen großen Bezirken dezentrale Treffpunkte für Selbsthil fegruppen zur Verfügung stehen (wird z.B. vom Nachbarschaftsheim Schöneberg schon praktiziert).

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Das zweite Modell wird von mir aus folgenden Gründen bevorzugt: Zahlreiche Selbsthilfekontaktstellen in Berlin sind in Wirklichkeit in erster Linie Nachbarschaftstreffpunkte oder -zentren mit einem Schwerpunkt Selbsthilfe. Vor allem in den eher verkehrsungünstig oder in den Außenbezirken gelegenen Selbsthilfekontaktstellen ist dies der Fall. Das ist weder den Trägern noch den Mitarbeiter/innen anzulasten - sie machen aus den vorhandenen Mitteln das Beste. Anzulasten ist es aber einer problematischen Senatspolitik, die in bestimmten Fällen eben auf einen freien Fördermitteltopf zugegriffen hat und in den letzten Jahren daraus keine ausreichenden Konsequenzen zog. Die Kontaktstelle mit 10 Selbsthilfegruppen erhält die gleiche Förderung wie die Kontaktstelle mit 80 Selbsthilfegruppen.

2. Selbsthilfetreffpunkte in Nachbarschaftszentren umwidmen Zahlreiche Selbsthilfekontaktstellen sind eigentlich Nachbarschaftszentren und müssen als solche auch offiziell finanziert werden. Den Selbsthilfekontaktstellen, die eigentlich Nachbarschaftstreffpunkte sind, muß daraus kein Nachteil entstehen: Sie sollen ihre finanziellen Mittel aus den Fördermitteln für Nachbarschaftszentren erhalten. Das muß für Träger und Mitarbeiter/innen eine Erleichterung bedeuten, da sie sich nicht mehr „künstlich“ zur Selbsthilfekontaktstelle erklären müßten.

E. Schlußbemerkungen 1. Neue Gemeinschaftsformen brauchen neue Orte Wir wissen, daß sich traditionelle Bindungen an Familie und andere Gemeinschaften gelockert oder ganz aufgelöst haben und allgemeingültige Werte und Normen an Akzeptanz verloren haben, ohne daß es dafür schon ausreichend neue Orientierungen gäbe. Hier sind Nachbarschaftszentren das Angebot: Ihre Nähe zu den Bürgern, ihre Offenheit, ihre Akzeptanz, ihre weltanschauliche Neutralität und vor allem das Angebot zur Mitwirkung und Mitgestaltung sind sozusagen auf der Höhe des „Zeitgeistes“ - sie brauchen nicht ge-

plant zu werden, sie entwickeln sich von selbst. Aber: Sie brauchen bestimmte Voraussetzungen, eine Infrastruktur, bestehend aus Personal und Räumen. Die institutionelle Unübersichtlichkeit und die Unübersichtlichkeit der Werte und Normen brauchen einen Orientierung anbietenden - nicht verordnenden - Ort: Nachbarschaftshäuser.

2. Vom versorgenden zum aktivierenden Sozialstaat Natürlich gehören in Berlin noch mehr Fördertöpfe auf den Prüfstand, bzw. muß ständig überprüft werden, wo Mittel mehr in die präventive Arbeit der Nachbarschaftshäuser umgeleitet werden können. Ein solches Vorhaben oder Programm müßte die Überschrift tragen: „Vom versorgenden zum aktivierenden Sozialstaat“. Gemeint ist damit, daß bei den Bürgern wieder mehr Bewußtsein darüber entstehen muß, daß der Staat und seine Institutionen nicht für alles und jedes Ansprechpartner sein können und daß es eine Fehleinschätzung war, zu glauben, daß bei einer ausreichenden Ausstattung mit finanziellen und personellen Mitteln die sozialstaatlichen, gesellschaftlichen und individuellen Probleme lösbar wären. Heute müssen wir darüber nachdenken, wie teure Heimerziehung oder stationäre Pflege durch funktionierende ambulante Hilfen, Stärkung der Erziehungsfähigkeit (Familienbildung) und funktionierende Nachbarschaften vermieden, kostengünstiger gestaltet und gleichzeitig auch menschlicher werden kann.

von mir möglichst nicht benutzt, außerhalb von Fachkreisen hat er sich nie einbürgern können und wird wohl auch in Zukunft nicht angenommen. Ich schlage vor, die von mir hier entwickelte Begrifflichkeit in Zukunft allgemein zu gebrauchen, um die Verständigung zu erleichtern. Denkbar ist, daß auch andere Bezeichnungen gefunden werden - jedoch bin ich sehr für die Verwendung des Wortes „Nachbarschaft“, da der Begriff gut verständlich ist und positiv assoziiert wird.

Wenn man bedenkt, welche enormen Millionenbeträge beispielsweise immer noch in Heimunterbringung von Kindern und Jugendlichen oder in wenig akzeptierte überkommene Sozial- und Gesundheitsdienste fließen, so sind Nachbarschaftshäuser ein äußerst kostengünstiges und wirksames Programm.

Anmerkung zu den gebrauchten Begrifflichkeiten: Die gebrauchten Begifflichkeiten Stadtteilladen, Nachbarschaftstreffpunkt, Nachbarschaftshaus (Regeltyp) und Nachbarschaftshaus plus sowie Nachbarschaftszentrum wurden von mir während der Verfassung dieses Textes entwickelt. Der Begriff Nachbarschaftszentrum wurde schließlich im Laufe des Schreibens zum Oberbegriff der vier verschiedenen, hier entwickelten Typen. Der Begriff Stadtteilzentrum wird

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Aus den Einrichtungen

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Aus den Einrichtungen

Auf dem Weg zum Stadtteilverbund Wedding Fabrik Osloer Straße e.V. von Ruth Ditschkowski

Das Stadtteilteam Um Struktur und Inhalte des Stadtteilzentrums Wedding zu entwickeln, haben wir die Nachbarschaftsetage der Fabrik der Osloer Straße, Nachbarschaftshaus Prinzenallee und RaBe - Raum und Beratung für Selbsthilfe - uns Anfang des Jahres 1998 zum wöchentlich tagenden Stadtteilteam zusammengeschlossen. Im Februar organisierten wir zunächst ein Treffen mit unseren Dachverbänden, dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit und SELKO, sowie VertreterInnen unserer Träger. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Klärung der Interessen der Beteiligten und die für uns möglichen Schritte, für die wir die Unterstützung unserer Träger und Verbände einforderten.

Arbeitsschritte Ein Ergebnis des Treffens im Februar war die Idee, daß wir zur konkreten Ausgestaltung eines Konzepts Stadtteilzentrum für den Wedding eine Zukunftswerkstatt planten und veranstalteten. Unsere wichtigsten in der Zukunftswerkstatt erarbeiteten Ergebnisse:

Das Netz als Zentrum: Wir waren und sind der Überzeugung, daß ein Erhalt der im Wedding gewachsenen und verwurzelten Einrichtungen und Standorte in verschiedenen Kiezen unbedingt wünschenswert ist. Ein zentraler Standort im großen und schwierigen Bezirk Wedding wäre für die Aufgabe, soziale Brennpunkte zu fördern und für die meisten Zielgruppen kontraproduktiv. Trotzdem stand und steht auch für uns außer Frage, daß die Synergieeffekte einer engen und verbindlichen Zusammenarbeit der drei Einrichtungen bedeutend sind und im Zuge der immer enger werdenden Kooperation bedeutender werden. Aus dieser Ausgangslage entwickelten wir das Bild vom „Netz als Zentrum“. Die Idee ist die einer Schaltstelle, der Stadtteilverbund als Impulsgeber für stadtteilbezogene Arbeit, für sozialpolitische Akzente in enger Kooperation mit anderen bezirksrelevanten Kräften. Der synergetische Effekt besteht in einem veränderten Blickwinkel den Belangen des Bezirkes gegenüber. Weg von der isolierten Arbeit in kleinen Einheiten, hin zu einer weiteren Sichtweise, was Selbsthilfe und Nachbarschaftsarbeit für den Bezirk bedeuten, hin zu mehr Effizienz und einer besseren Versorgung

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der Bevölkerung durch größere Planungseinheiten, die von kleinen, persönliche Identifikation schaffenden Einrichtungen umgesetzt werden. Nach dem Grundsatz „Global denken, lokal handeln“. Durch diese Qualität wird der Stadtteilverbund mehr als die Summe seiner Einrichtungen. Verbindliche Strukturen: Somit erschien es uns entscheidend, zwischen den einzelnen Einrichtungen verläßliche Kommunikations- und Organisationsstrukturen aufzubauen. Kern dieser Struktur ist das Weddinger Stadtteilteam, in dem wir alle Entscheidungen bezüglich Entwicklung und Umsetzung des Stadtteilverbundes erarbeiten und treffen. Im Stadteilteam erarbeiteten wir einen Kooperationsvertrag, der, Ende des Jahres ‘98 unterzeichnet, unsere Zusammenarbeit auf eine verbindliche Grundlage stellt. Verteilung der Arbeitsschwerpunkte: Wir haben die im Stadtteilzentren-Vertrag festgestellten Arbeitsschwerpunkte eines Stadtteilzentrums auf die drei beteiligten Einrichtungen aufgeteilt: So übernimmt RaBe nach wie vor die Selbsthilfe, das


Ehrenamt und die psychosoziale Beratung. Die Nachbarschaftsetage der Fabrik Osloer Straße steht für Familienarbeit mit allen Facetten von Kurs- und Beratungsangeboten für Eltern, Kinderveranstaltungen und Seniorenarbeit. Das Nachbarschaftshaus Prinzenallee hat seinen Schwerpunkt besonders im Bereich der Integration von Menschen mit und ohne Behinderungen, MigrantInnen und der Kiezarbeit im Bereich der Soldiner Straße. Über die anderen von unseren Trägern betriebenen Projekte und unsere vielfältigen Kontakte können wir auch alle anderen Aufgaben des Leistungskatalogs bedienen. Gemeinsam ist auch allen Einrichtungen der Blick auf Möglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements und Aktivierung der Freiwilligenarbeit. Bedarfsanalyse: Im Sommer 1998 stellten wir uns gegenseitig die Grundlagen und konkrete Ausgestaltung unserer Arbeit vor, auch um sie kritisch, im Sinne von bedarfsgemäß und effektiv, zu diskutieren. Zudem haben wir unsere Erfahrungen mit stadtteilorientierter Arbeit im Wedding zusammengetragen, um als Stadtteilzentrum weitere konkrete Schritte für die inhaltliche Arbeit zu entwickeln. Der vom Nachbarschaftshaus Prinzenallee in der Soldiner Straße geplanten aktivierenden Befragung setzte RaBe als Vorarbeit und parallel eine kleine Befragung im Gesundbrunnenkiez voran. Die Ergebnisse sind für die Bedarfsanalyse im Stadtteil bereits verwendbar, obgleich erst die Befragung im nächsten Jahr näheren Aufschluß bringen wird. (Siehe auch Bericht „aktivierende Befragung“) Zielvorgaben und Zeitschienen: In der Zukunftswerkstatt haben wir uns für die Koordinierung der Öffentlichkeitsarbeit, die Ausarbeitung des Kooperationsvertrags, die Einbindung von KooperationspartnerInnen und die Abstimmung konkreter Arbeit im Stadtteil Zeitschienen zur zügigen Abarbeitung des dichten Arbeitspensums gegeben. Im Juni 1998 präsentierten wir die Werkstattergebnisse VertreterInnen des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit, SELKO und Frau Dr. Fuhrmann von der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales. Im November 1998 luden wir zu einem weiteren Abstimmungstreffen mit unseren Verbänden ein.

Öffentlichkeitsarbeit Gemeinsames Cover: Um nach außen gemeinsam auftreten zu können, entwickelten wir im Mai 1998 ein gemeinsames Werbecover, in das die Programme der drei Einrichtungen eingelegt werden. Dieses Konzept vermittelt sinnbildlich die Verbundenheit bei gleichzeitiger Eigenständigkeit der beteiligten Projekte. Das Team koordinierte seine Öffentlichkeitsarbeit und stimmte seine Verteiler ab. Damit ist der Werbeeffekt bei gleichem Aufwand erheblich größer.

bringen, etwa in Form einer Konferenz, Fachtagung o.ä. Wichtig ist den Mitarbeiterinnen hierbei, die besonderen Umstände des Weddings in Betracht zu ziehen und die Frage, in welcher Weise die verschiedenen Bevölkerungsgruppen für ehrenamtliche Tätigkeiten zu interessieren und motivieren sind.

Ein Bericht des Stadtteilverbundes Wedding-Nachbarschaftsetage Fabrik Osloer Str. e.V., Nachbarschaftsladen Prinzenallee 58 e.V. und RaBe - Raum und Beratung für Selbsthilfe.

Präsentationsmaterial: Aus der schriftlichen Auswertung der Zukunftswerkstatt entwickelten wir einiges an Material, das uns seither zur Präsentation der Idee „dezentrales Stadtteilzentrum“ dienen kann. Z.B. eine Graphik zur Aufteilung der Arbeitsschwerpunkte und ein Schaubild zu unseren KooperationspartnerInnen. 1999 fanden Gespräche und Präsentationen bei bezirklichen Entscheidungsträgern, in politischen und fachlichen Gremien und im Rahmen eines von uns eingerichteten Projektetreffens statt. Zu diesem Projektetreffen sprachen wir alle Weddinger Einrichtungen an, mit denen uns die (möglichst kontinuierliche und enge) Zusammenarbeit sinnvoll und hilfreich für die Stadtteilarbeit erscheint. Die Vorbereitungen dazu haben wir noch 1998 begonnen.

Kooperationsvertrag Der nach ausführlicher Diskussion im Dezember verabschiedete Kooperationsvertrag versetzt uns in die Lage, ab 1999 die Arbeit als verbindlicher Verbund weiterzuführen. Er ist ein erster Schritt und offen für Ergänzungen und Änderungen, die sich aus weiterer konzeptioneller Arbeit ergeben werden.

Ehrenamt Die Aktivierung der Weddinger BürgerInnen zu Ehrenamt, bürgerschaftlichem Engagement und sozialer/kultureller Freiwilligenarbeit steht mit im Zentrum unseres Selbstverständnisses. Aus diesem Grunde besuchten die Mitarbeiterinnen im Dezember eine Fachtagung zu diesem Thema. Wir beabsichtigen, gemeinsam mit dem Bezirk das Thema Ehrenamt in die bezirkliche Diskussion zu

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Aus den Einrichtungen von Irene Beyer

Aktivierende Befragung im Soldiner Kiez – eine Initiative zur Mobilisierung und Unterstützung des Engagements der BewohnerInnen in einem Berliner „besonders belasteten Gebiet“

Der Ausgangspunkt Unser Haus - das Nachbarschaftshaus Prinzenallee - liegt im Berliner Bezirk Wedding mitten in einem „sozialen Brennpunkt“, dem Soldiner Kiez. Hierher verschlägt es immer mehr arme Menschen - wer es sich leisten kann, zieht weg. Die vielen unterschiedlichen Kulturen leben weniger mit, sondern mehr nebeneinander und benennen dies auch teilweise als negativ und belastend. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen haben immer weniger Kontakt miteinander und wissen wenig voneinander, Isolation und Sprachlosigkeit kennzeichnen den Kiez. Auch verkommt der öffentliche Raum zunehmend - Müll, Sperrmüll und Hundekot sind hier die Stichworte. Den BewohnerInnen fehlt es an Sicherheitsgefühl. In der öffentlichen und medialen Diskussion ist das Gebiet - besonders „Der Spiegel“ und „Spiegel-TV“ haben sich hier hervorgetan - bereits als „Ghetto“ und „Slum“ stigmatisiert und in verzerrter Darstellung ein Bild von massiver und alltäglich bedrohender Kriminalität gezeichnet worden. Aber auch wissenschaftliche Untersuchungen zur sozialen Stadtentwicklung bescheinigten dem Gebiet eine ‘problematische Entwicklung’.

der Situation im Kiez im Sinne von und mit den BewohnerInnen. Aktivierende Befragung dient nicht der Erfassung, sondern der Mobilisierung der Wohnbevölkerung für ihre Interessen.

Der Soldiner Kiez ist also vielfach problembeladen und Initiativen sind dringend gefragt - und besondere Situationen erfordern außerordentliche Aktivitäten!

Wir entwickelten die Initiative zu dieser Befragung in unserer Nachbarschaft mit folgenden Zielen: • Die persönliche Sicht der BewohnerInnen auf ihren Kiez erfahren. Was bewerten sie positiv, wo sehen sie Probleme und Möglichkeiten zur Veränderung. • Die Selbsthilfekräfte der KiezbewohnerInnen mobilisieren und unterstützen, das Eigenengagement fördern und die Perspektive eröffnen, daß Schieflagen gemeinsam mit anderen veränderbar sind. Die KiezbewohnerInnen zur Entwicklung und Mitgestaltung positiver Veränderungen für sich selbst und im nachbarschaftlichen Verbund gewinnen. • Unser Haus den KiezbewohnerInnen als Anlaufstelle anbieten, unser Profil und unsere Angebote vermitteln, besonders auf unsere Möglichkeiten aufmerksam machen, Interessen der BewohnerInnen bündeln und unterstützend auf die Verwirklichung hinwirken. • Als kiezorientierte soziale Einrichtung war (und ist) es unser Interesse, unser Angebot und unsere Arbeit mit unseren NachbarInnen abzustimmen und zu entwickeln.

Aktivierende Befragung - was ist das und wie haben wir es gemacht? Die aktivierende BewohnerInnenbefragung dient nicht der Erhebung von Daten, sondern ist eine Methode zur Veränderung

Wir haben unsere Initiative in der „Lenkungsgruppe Soldiner Straße“, einer Arbeitsgruppe der „Lokalen Partnerschaft Wedding“, der wir angehören, vorgestellt und sind hier auf großes Interesse und Angebote zur Unterstützung gestoßen. Aus dieser Runde bildeten wir einen Vorberei-

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tungskreis (im Kreis vertreten waren neben dem Nachbarschaftshaus das Kommunale Forum Wedding e.V., unser Partnerprojekt RaBe - Raum und Beratung für Selbsthilfe und engagierte und interessierte Einzelpersonen und AnwohnerInnen). Mit Beginn des Quartiersmanagements Soldiner Straße konnten wir den Träger des Quartiersmanagements, L.I.S.T., für die finanzielle Unterstützung der Befragung gewinnen. Das ermöglichte es uns, aus dem Vorbereitungskreis eine engagierte Kiezbewohnerin als Koordinatorin der Aktivierenden Befragung zu benennen. Mit ihrem großen Engagement und ihrer hervorragenden Arbeit gewannen wir für die Befragung selbst zahlreiche ehrenamtlich Engagierte aus der Nachbarschaft. Zur Vorbereitung der InterviewerInnen auf ihre Aufgabe veranstalteten wir eine Schulung, die von Maria Lüttringhaus vom Essener Institut für stadtteilbezogene soziale Arbeit und Beratung (ISAAB) sehr kompetent und zu unserer größten Zufriedenheit angeleitet wurde. Wir entwickelten einen Fragebogen als Leitfaden für die InterviewerInnen mit drei Schwerpunkten: Fragen zur Wohnzufriedenheit, Fragen zur Kiezanbindung, Fragen zum Nachbarschaftshaus. Nach massiver Öffentlichkeitsarbeit (Briefkastenaktion, Plakate in die Hauseingänge, die Läden und auf der Straße, Pressearbeit, nochmalige Präsentation unter reger Beteiligung der Bevölkerung in der Lenkungsgruppe Soldiner Straße) gingen wir im Juni und Juli in die „heiße Phase“. Zwei Wochen waren wir täglich mit Infoständen im Gebiet, befragten im öffentlichen Raum und brachten uns immer wieder ins Ge-


spräch. In der gleichen Zeit gingen unsere InterviewerInnen „von Tür zu Tür“ und führten mit den BewohnerInnen an oder vielfach auch in ihren Wohnungen größtenteils sehr ausführliche Gespräche über den Kiez und Möglichkeiten der Veränderung. Im Nachbarschaftshaus selbst haben wir natürlich auch befragt.

Die Ergebnisse 25 Personen hatten an den Infoständen und den Haustürgesprächen insgesamt mit 206 Personen Gespräche geführt, die etwa zwischen einer halben und zwei Stunden dauerten. In Anbetracht dessen, daß diese Gespräche ganz wesentlich durch ehrenamtlich Engagierte geführt wurden, eine wie wir finden stattliche Zahl, die bereits ein Licht darauf wirft, daß die Initiative im Kiez gut angenommen wurde. Etwa ein Drittel der Befragten war nichtdeutscher Herkunft aus 17 verschiedenen Ländern. Das heißt, daß die Aktion auch die nichtdeutsche Bevölkerung sehr gut erreicht hat, denn der Anteil von einem Drittel entspricht genau dem Anteil der Nichtdeutschen an der Bevölkerung in unserem Kiez. Auch das, wie wir finden, ein sehr erfreuliches Ergebnis. 45 % aller Befragten wohnen gerne in diesem Kiez, angesichts der oben geschilderten Ausgangslage ein immerhin stattliches Ergebnis. 32 % hingegen antworteten auf die Frage nach ihrer Wohnzufriedenheit mit einem entschiedenen Nein. Positiv vermerkt für den Kiez wurde an erster Stelle das viele Grün, gute Einkaufsmöglichkeiten und auch die öffentlichen Einrichtungen wie Spielplätze, Kitas etc. Als störend benannt wurde ganz wesentlich Müll und Verwahrlosung des Wohnumfeldes, das „Problem Hunde“ zu viele Hunde, Hundekot, Angst vor aggressiven Hunden, an vorderster Stelle jedoch die Zusammensetzung der Bevölkerung. Gemeint sind damit sowohl die vielen verschiedenen Kulturen mit zu wenig Berührungspunkten zueinander als auch zu viel Armut und zu viel Alkoholismus. Auch das Spektrum der Einschätzungen ging hier weit auseinander. Währende einige schlicht meinten, das Problem sei ein Zuviel an AusländerInnen, fanden wir in vielen Gesprächen mit deutschen und nichtdeutschen AnwohnerInnen auch differenziertere Blicke zu dieser Frage vor: Viele meinten, die Mischung stimme eben nicht mehr bzw. das Türkische sei zu dominant, trotzdem seien auch die zu vielen unterschiedlichen Kulturen im Kiez ein Problem, da es kein Wissen und keine Berührungen all dieser Kulturen miteinander gebe. Kulturelle Spannungen seien ein Ergebnis davon.

Auf die Frage, was im Wohngebiet fehlt, stehen Freizeitmöglichkeiten für Erwachsene an vorderster Stelle: günstige/erschwingliche Sportmöglichkeiten, Cafés bzw. Treffpunkte auch Frauentreffpunkte und -angebote - und kulturelle Angebote. Ebenfalls vehement wurden Angebote für Kinder und Jugendliche, und speziell für Mädchen, genannt. Neben diesen Egebnissen können wir sagen, daß wir durch die vielen intensiven Gespräche selbst sehr viel über unseren Kiez und damit über unser Arbeitsfeld gelernt haben und außerdem der große Aufwand, den uns das Projekt abverlangt hat, auch im Hinblick auf unsere Öffentlichkeitsarbeit sehr effektiv war: Wer uns in unserer Nachbarschaft jetzt nicht kennt, muß sich schon Mühe gegeben haben, um uns nicht wahrzunehmen!

Große Bereitschaft zum Engagement - ein Auftrag an die Nachbarschaftsarbeit Das für uns erstaunlichste und gleichzeitig positivste Ergebnis der Befragung ist, daß mehr als die Hälfte der Befragten ‘sicher’ oder ‘vielleicht’ auch selbst etwas dafür tun würde, den Kiez zu verbessern! Wir verstehen diese uns gegenüber geäußerte große Bereitschaft, sich in den Kiez einzubringen, als vordringlichen Auftrag der BewohnerInnen an uns, diese Bereitschaft jetzt weiter zu fördern und die Unterstützung anzubieten, die das Engagement ermöglicht bzw. erleichtert. Das auch gerade deswegen, weil diejenigen, die „vielleicht“ selbst etwas tun wollten, sagten, es fehle ihnen im wesentlichen entweder an Ideen oder aber an Gleichgesinnten, mit denen sie zusammen anfangen könnten. Der andere wesentliche Auftrag aus der Befragung an uns ist, im Bereich Integration von Deutschen und Nichtdeutschen noch vehementer tätig zu werden, auch neue Ideen zu entwickeln und umzusetzen; vorrangig muß dabei sein das sehen wir als klare Aufgabe auch gerade in diesem sensiblen Bereich die BewohnerInnen immer wieder zu aktiven Mitwirkung zu motivieren.

BürgerInnenversammlung Wichtiger Bestandteil der Aktivierenden Befragung ist, die Ergebnisse den Befragten in einer BürgerInnenversammlung vorzustellen und damit auch an sie ‘zurückzugeben’. Auch bei dieser Veranstaltung legten wir den Schwerpunkt auf die Perspektive der Veränderung, also darauf, daß die Ergebnisse kein Ende, sondern ein Anfang sind

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und wir zusammen mit interessierten AnwohnerInnen damit weiterarbeiten wollen. Zugleich haben wir natürlich bereits vor der Versammlung auf einige Ergebnisse kurzfristig reagieren können und einige neue Angebote, z.B zwei neue Deutschkurse mit Frauenfrühstück (in Kooperation mit unserer Partnereinrichtung Nachbarschaftsetage de Fabrik Osloer Straße - siehe Artikel über den Stadtteilverbund Wedding) und Angebote im Bereich Sport vorgestellt.

Nachbarschaftsbörse Prinzenallee Um die Aktivierung der BewohnerInnen zu Eigenengagement und Eigenvertretung ih rer Interessen, der wir mit der Befragung einen deutlichen Schub geben konnten, jetzt weiter nachzugehen und nicht wieder versanden zu lassen, haben wir direkt im Anschluß an die Befragung ein Folgeprojekt gesetzt, den Aufbau einer Nachbarschaftsbörse. Idee der Nachbarschaftsbörse ist, ein niedrigschwelliges Projekt zu schaffen, um Nachbarschaftshilfe, Kommunikation und bürgerschaftliches Engagement zu fördern. Angenommen werden neben klassischen Angeboten der Nachbarschaftshilfe (z.B. Blumengießen im Urlaub, kleine Reparaturen) gerade auch Angebote im Freizeitbereich (z.B. wer hat Lust, mit mir Schach zu spielen), aber auch bezüglich gemeinsamen Engagements (wer hat Lust, zusammen den Flohmarkt im Nachbarschaftshaus zu organi sieren). Auch organisatorisch basiert die Börse auf freiwilligem Engagement, mit Unterstützung durch eine Hauptamtliche. Praktisch hat die Börse mehrere Standbeine: 1. In zwei Karteikästen, die im Büro offen zugänglich sind, sammeln wir Angebote und Nachfragen, thematisch sortiert. 2. In einem Börsenblatt erscheinen alle aktuellen Angebote - so erreichen wir größere Kreise. 3. „Börse live“ bietet jeden 1. Sonntag im Monat die Möglichkeit, sich direkt im Haus zu treffen und zu informieren, sich seinen Interessen entsprechend zusammenzufinden (Alle InteressentInnen finden sich mit Hilfe eines Buttons). Unser Nachbarschaftscafé hat geöffnet, und wenn möglich, finden gleichzeitig noch andere Aktivitäten, wie z.B. Kinderkino statt. 4. Unser Kiezflohmarkt wird wiederbelebt, und findet gleichzeitig zu Börse live statt. Wir sind sehr gespannt und freuen uns auf den - hoffentlich guten - Start dieses neu en Projekts!

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Aus den Einrichtungen

Das Fürst Donnersmarck-Haus stellt sich vor Das Fürst Donnersmarck-Haus bietet drei unterschiedliche Wohnangebote: - Ein kleines Kinderheim mit 14 Plätzen: Hier wird neben therapeutischer und pädagogischer Förderung die Möglichkeit geboten, individuell die günstigste Schulform auszuwählen. - Der Dauerwohnbereich: Er bietet 58 Menschen mit Behinderung auf unbeschränkte Zeit Sicherheit im Rahmen von betreutem Wohnen in einem Umfeld, das ihnen den Einsatz ihrer individuellen Fähigkeiten und Selbständigkeit ermöglicht. - Die Wohngruppen: Hier werden 52 Bewohnerinnen und Bewohner durch eine befristete intensive Rehabilitationsmaßnahme begleitet, wobei das Bestreben im Vordergrund steht, mit Hilfe des Heimpersonals eine rasche Beendigung des Heimaufenthaltes zu ermöglichen. Am 03.09.1999 öffnete das Fürst Donnersmarck-Haus seine Pforten für Sozialarbeiter, um seine Rehabilitationsarbeit für Menschen mit krankheits- oder unfallbedingten Hirnschäden vorzustellen. Nach den Ausführungen des Verwaltungsleiters, Manfred Richter, zur Stiftung und zum Haus selbst erläuterte der Leiter Therapie und Wohnen, Lutz Schneider, den besonderen konzeptionellen Ansatz des Fürst Donnersmarck-Hauses: eine enge Verflechtung von pädagogischer Betreuung und gezielten therapeutischen Maßnahmen. Im Anschluß stellten die Heimleiter die Arbeit in den Wohngruppen der Heimbereiche dar. Danach berichteten die Therapeuten über ihre Arbeit und demonstrierten sie bei einem Rundgang durch das Haus. Der Erfolg des Fürst Donnersmarck-Hauses spiegelt sich in eindrucksvollen Ergebnis-

sen wider. In den vergangenen zehn Jahren konnten von 332 Bewohnerinnen und Bewohnern 219 in weitgehend selbständigere Wohnformen, z.B. in eine eigene Wohnung, in eine Wohngemeinschaft oder in die Familie entlassen werden. Denjenigen, die zeitlebens auf intensive Hilfe und Betreuung angewiesen sind, wird die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft durch die ganzheitliche Förderung erleichtert. Das Fürst Donnersmarck-Haus ist eine Einrichtung der Behindertenhilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß dem Bundessozialhilfegesetz. Das Haus erfüllt den gesetzlichen Auftrag, Menschen mit Behinderung die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen, auch wenn sie vorübergehend oder auf Dauer auf Hilfe angewiesen sind.

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Weitere Informationen: Marlies Baumgart Öffentlichkeitsarbeit und Seelsorge im Fürst Donnersmarck-Haus Tel.: 030-40606-246, E-Mail: post.fdh@fdst.de Thomas Golka Öffentlichkeitsarbeit der Fürst Donnersmarck-Stiftung Tel.: 030-769700-27, E-Mail: post.fdh@fdst.de Im Internet: http://www.fdst.de


Aus den Einrichtungen

„Kiek in“ e.V. Berlin Verein für Sozialberatung, Jugend- und Familienbetreuung/ Nachbarschaftstreff

von Sigmar Nowotsch

März ’94, ein Monat vor Eröffnung des NBH „Kiek in“

Einblicke in fünf Jahre Nachbarschaftshaus in Marzahn In der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft spiegelt jede historische Periode eine ihr wesensgemäße soziale Problematik wider. Das trifft auch für die Gemeinwesenarbeit zu. In diesem Aufsatz wollen wir in Form von Erlebtem und Entwickeltem aus fünf Jahren versuchen, historische Zusammenhänge in der Gemeinwesenarbeit des Kiezes Berlin-Marzahn Nordwest am Beispiel unseres Nachbarschaftshauses „Kiek in“ darzustellen.

Dort, wo Berlin im Nordosten aufhört und Brandenburg nur noch wenige Meter entfernt ist, gab es einmal eine Kindertagesstätte, die 58. Kita von Marzahn-Nord, gebaut im Stil der umliegenden Plattenbauten, wo die Nutzer zuhause sind. In der einen Hälfte hat unser KIEK IN e.V. Berlin als Verein für Sozialberatung, Jugend- und

Familienbetreuung seinen Stammsitz eingerichtet, in der anderen arbeitet eine kommunale Behindertenfreizeitstätte. Dem erkannten Bedarf entsprechend haben engagierte Bürger 1993 damit begonnen, das Haus weiteren Nutzern zugänglich zu machen. Die Kita ist in fünf Jahren zu einem sozialkulturellen Zentrum, dem Nachbarschafts-

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haus KIEK IN Marzahn/Nordost, herangewachsen. Für den Verein ist sein Name Pro gramm geworden.

Wie hat das alles angefangen? Am 22. April 1994 wurde durch den damaligen Marzahner Bürgermeister,

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Andreas Röhl, das Haus eröffnet. Was war hier alles los? Eine Bewegung in Marzahn Nord und West, fröhliches Markttreiben, viele Vereine unseres Bezirks zu Besuch, Spender und Sponsoren, die Vereinsmitglieder, viele, viele Leute aus dem Kiez, jung und alt! Dieser Tag hatte es schon in sich an einem riesigen Ausmaß an Vorbereitungen durch die „Gesellinnen und Gesellen der ersten Stunde“, welche seit 1. Dezember 1993 oben auf den kleinen Kita-Stühlen saßen und unter der Leitung der KantschuleAbsolventen vom Tauentzien Jürgen Starke und Wolfgang Semmler darüber brüteten, wie das nun mit dem Kieztreff, mit dem Nachbarschaftsheim werden soll. Alles wurde durchdiskutiert, so auch das Graswurzel- und Regenbogenprinzip. Gründerstimmung machte sich breit, die geprägt war von Offenheit, sozialem Engagement und unwahrscheinlicher Hilfsbereitschaft. Es war sehr spannend und interessant, die ersten Bausteine zu legen und alles zu erforschen, wie das nun funktioniert mit Nachbarschaftsarbeit in der neuen Gesellschaft, und was es im Bezirk schon Ähnliches gibt.

aus dem Kiez kamen und fragten, was hier los sei, was ansteht, uns wurde auch Hilfe angeboten. So gehörte Frau Brigitte Lasch zu den ersten Ehrenamtlichen, die uns geholfen haben, die alles vom Kiez kannten und uns über alles aus dem Kiez informierten. Mit den Mieterbüros der WBG standen wir in Verbindung, das hat sich natürlich auch gelohnt in punkto materielle Unterstützung und Hilfe durch die Hausmeister. Von dort kam auch der Tip mit den Jugendlichen, die wir beherbergen könnten, weil sie keine andere Möglichkeit des Unterkommens hatten und im Kiez nur Schaden anrichteten an

den Ersten unwahrscheinliche Mühe gab und gut sein wollte. Viel Engagement und Einsatz an Freizeit zeigten unsere ersten Café- und Kreativdamen, man könnte sagen, gesucht und gefunden. Was haben sie alles gewerkelt, gefummelt, kreiert und gerackert, um schnell das zu schaffen, was sozusagen die Seele vom ganzen Nachbarschaftsgeschäft war, nämlich unser Kontakt- und Begegnungscafé. Den Namen steuerten sie gleich bei, nämlich „Kanapeé“, genannt nach dem wuchtigen Ikea-Möbelstück aus der Viererkombination unserer Polstermöbel, die sich übrigens noch heute gut machen.

So wurde das Haus am Rande der Stadt zu einem bekannten und beliebten Ort für Kommunikation, Begegnung und Beratung. In seinen Räumen ist Platz für zahlreiche sozio-kulturelle Aktivitäten, für die Entfaltung von Kreativität, für Selbsterfahrung. ProfesArbeitseinsatz im Familiengarten

den Anlagen, in den Hausfluren und Fahrstühlen. Sehr geholfen hat uns der damalige Bezirksdezernent für Soziales, Dr. Harald Buttler. Natürlich waren die Vereinsoberen auch da, Marion und Marina, die uns halfen, alles bezirks- und arbeitsmarktpolitisch in die Reihe zu bekommen. Das mußte ja sein; denn ohne Verein geht nichts und das „Kiek in“ hatte es uns inzwischen auch angetan. Jeder wußte damit auf den ersten Schlag, worauf es ankommt. Die ganze Truppe war auf der Walz, bei Dr. Grimm, in anderen Nachbarschaftshäusern, im Zentrum am Helene-Weigel-Platz, beim SPI und eigentlich überall, wo es was gab mit der Bezeichnung Soziales, Gesundheit, Personal, Kinder, Jugendliche, Eltern, Familien und Ausländer. Überall Konsultationen, Gespräche und viel Gucken und Zeigen lassen, dann Beratungen darüber, auch in den eigenen Wohnungen.

Wir bemühten uns um Klientel im Kiez Nordost und West, auch Jugendliche mußten ran. Öffentlichkeitsarbeit stand auf dem Plan, keiner wußte so richtig wie. Aber nach Konstruktion unseres Logos, dem „Kiek in-Auge“ entstanden die ersten Faltblätter und Flyer und die Verteilung ging los. Viele Neugierige

Eine Seniorengruppe wurde „eingefangen“, welche heute noch bei uns ist. Diese hat den Anfang auch noch im Gedächtnis(training) und kann ein Lied davon singen. Schnell bekamen wir auch eine Beziehung zum sozial-kulturellen Verband, so zu Frau Gudrun Israel und zu Herrn Frank Börner. Sie brachten Literatur und viel Material mit zum Leben in Nachbarschaftsheimen in der Bundesrepublik.

Das wurde durchgearbeitet und schon machte ein Spruch schnell die Runde „Wer das Nachbarschaftshaus Marzahn/Nordost nicht kennt, der hat im Leben was verpennt“. So überheblich wollten wir aber nicht sein, wir wollten solide soziale, sozialkulturelle und sozialpädagogische Arbeit im Interesse unserer Klienten leisten. Ich glaube an dieser Stelle sagen zu können, daß sich jeder von

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sionelle Beratungs- und Hilfsangebote werden ergänzt durch Selbsthilfeaktivitäten und Bürgerinitiativen.

Es gibt zum Beispiel den selbstverwalteten Jugendclub, zwei Räume, in denen die Jugendlichen „nur so“ miteinander reden oder spielen können. Ein Raucherzimmer (für alle) ist mit altem S-Bahn-Inventar ausgestattet. Es gibt eine gemütliche Bücherei, einen Turnraum, einen Raum für Malen und Töpfern, ein Computer-Kabinett und nicht zuletzt das Kontaktcafé „Kanapeé“.

Fröhliches Treiben im April 94

Wer die bunten Aushänge im Eingang sieht, ahnt die Vielfalt der Initiativen und Angebote: Kontaktcafé (montags bis freitags), Seniorencafé am Sonnabendnachmittag, Spielrunden, Handarbeits- und Bastelrunden, Malgruppe und „Frauentöpfern“, Tauschbörse, Internet-Surfen,


Menschen, die die Möglichkeiten kreativer Freizeitgestaltung und die anderen Angebote gerne annehmen. Damit ist unser Verein auch zu einem wichtigen Beschäftigungsträger geworden.

Üben am Computer, Gedächtnistraining. Dazu kommen Sozialberatung, mobile Hilfen für sozial Schwache, Beratung ausländischer Mitbürger.

Der Verein verwirklicht über die genannten Beratungs- und Freizeitangebote

Wir glauben, uns erinnern zu können, daß der Marzahner Bürgermeister bei allen Höhepunkten des Vereins und des Nachbarschaftshauses anwesend war. Anwesend war - aber das war´s ja nicht nur gewesen, sondern uns mit Rat und Tat zur Seite stand. An dieser Stelle möchten wir uns bei ihm bedanken, er hat viel für uns getan, für die Überlebensfähigkeit und Existenz dieser Einrichtung, welche schon einige Male vor dem Aus stand in dieser so eisigen und zugigen Zeit.

Fünf Jahre Nachbarschaftsarbeit im Kiez ist Erstrebtes und Angenommenes im Kiez, das will man, das hütet man, das verteidigt man im Kiez Marzahn Nord und West. Wir bedanken uns bei unseren Klienten, bei unseren Freunden und Gästen. Wir haben sie verstanden, sie haben uns verstanden - ist das nicht ein Band, was fest zusammenhält, ich sage: unseretwegen auch über 50 Jahre und länger? Der Plattenbau am Ende der Märkischen Allee, das letzte Haus von Berlin in Richtung Barnim, wird’s aushalten, vor allem von der Sympathie unserer Freunde und Gäste getragen.

Eigentlich ist das ja immer noch so, daß wir am Tropf hängen, die Sicherheit gibt es hier noch nicht, aber andere, ähnliche Einrichtungen in dieser Stadt haben bewiesen, daß sie über 50 Jahre existieren, sicherlich auch recht und schlecht, aber es ging, und finanzielle Sicherheit seitens des Senats und der Bezirke war und ist dort gegeben. hinaus auch ein umfangreiches sozialpädagogisches Programm, in dem in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt schwierige Kinder entsprechend dem Jugendhilfegesetz und fachlich qualifiziert betreut werden. Nicht weit vom eigentlichen Nachbarschaftshaus hat sich inzwischen in einem ähnlichen Gebäude mit „ANLAUF“ ein Zentrum für Kinder, Jugendliche und Familien entwickelt, das die Angebote des Vereins mit Jugendhilfemaßnahmen, Familienarbeit und offenem Treff für Kinder ergänzt. Außerdem werden ganz in der Nähe zwei gemütliche Blockhäuser betreut - jeweils eines vorrangig für Kinder und eines für Jugendliche.

Es entwickelten sich also viele interessante Formen und Möglichkeiten der Nachbarschafts- und Familienarbeit, welche im wesentlichen von unserer Klientel mitgestaltet wurden. Vereinshöhepunkte sind immer wieder die Kiezfeste mit viel Stadt- und Bezirksprominenz zu Gast, so mit der Senatorin für Gesundheit und Soziales, den Bürgermeistern von Marzahn und Hellersdorf, den Dezernenten des Stadtbezirks.

Auch unser Verein könnte noch weitaus umfangreicher wirksam werden. Doch von den rund 50 Räumen, die ihm im Haus zur Verfügung stehen, sind nur 17 nutzbar. Für den Umbau werden rund 1,5 Millionen Mark gebraucht. Die aktiven Vereinsmitglieder und Mitarbeiter bemühen sich auf verschiedenen Strecken, diese Mittel einzuwerben.

Auch werden vorhandene Potenzen und Ressourcen mit anderen Trägern der Jugend- und Sozialarbeit in Marzahn gemeinsam ausgeschöpft. Zusammenarbeit, Kooperation und Vernetzung gehören zur Praxis des Vereins und seiner Projekte, immer an den aktuellen Erfordernissen und Bedürfnissen der Bewohner orientiert. Vielleicht ergibt sich daraus für den Stadtteil Marzahn einmal ein Verbund stadtteilorientierter Nachbarschafts-, Familien und Selbsthilfearbeit.

Insgesamt kümmern sich im Verein rund 70 Mitarbeiter um die jungen und älteren

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Aus den Einrichtungen

Gesundheitsund soziale Dienste domino e.V. von Volker Karstens, Wolfgang Quack, Rainer Schünemann

in Berlin-Siemensstadt Mangelnde soziale und kulturelle Angebote waren 1982 der Auslöser, das Nachbarschaftsheim Siemensstadt (Siemensstadt ist ein Ortsteil des Berliner Stadtteils Spandau) durch einen Zusammenschluß engagierter Bürger zu gründen. Hierbei wurde der NachbarschaftsTREFFPUNKT am Saatwinkler Damm zum Ausgangspunkt von domino e.v. Von hier aus entwickelte sich in den vergangenen Jahren ein vernetztes System unterschiedlicher leistungsfähiger Einrichtungen in sozial-kulturellen, pädagogischen und gesundheitspflegerischen Bereichen. domino e.v. verfügt in Siemensstadt über kein gemeinsames Haus. Die verschiedenen Arbeits- und Leistungsbereiche sind über den gesamten Stadtteil verteilt. So kann sich domino e.V. unter dem Stichwort der dezentralen Konzentration von sozialen Dienstleistungen in den Regionen Siemensstadt und Charlottenburg-Nord sehr gut identifizieren. In der konkreten sozialen Arbeit bedeutet dies, daß die einzelnen Einrichtungen von domino e.v. ihre eigenen Arbeitsbereiche, mit ihren eigenen inhaltlichen Schwerpunkten, aber auch ihrer eigenen Finanzierung haben. Es ist jedoch wichtig, daß über den inhaltlichen Schwerpunkten ein verbindendes Ganzes steht. So arbeiten die einzelnen Bereiche in enger Vernetzung zusammen, was in gemeinsamen Besprechungen, Aktionen, Projekten und Veranstaltungen zum Ausdruck kommt. Im Folgenden sollen die einzelnen Einrichtungen/Arbeitsbereiche detaillierter vorgestellt werden.

Die sozial-kulturelle Stadtteilarbeit Wie schon beschrieben unterhält domino e.v. in Siemensstadt mehrere sozial-kulturelle

Einrichtungen. Am Saatwinkler Damm - einem infrastrukturell benachteiligten Siemensstädter Wohngebiet - bietet der TREFFPUNKT einen Ort der Begegnungen für und zwischen Menschen verschiedener Kulturen, mit Angeboten für Erwachsene und Kinder. Ausgehend von den Leitlinien, „gemeinwesenorientiert, generationsübergreifend, soziokulturell und vernetzend“ zu arbeiten, versuchen die Mitarbeiter praktische Modelle zu entwickeln, in denen sich bürgerschaftliches Engagement, ehrenamtliche Tätigkeit und professionelle Arbeit wirkungsvoll ergänzen. Neben einer Vielzahl von Kursen und Gruppenangeboten organisiert der Treffpunkt - z.T. in Kooperation mit anderen Institutionen und Trägern - soziale und kulturelle Veranstaltungen. Dazu zählen u.a. eher kleinräumig angelegte Trödelmärkte, Kinder- und Mieterfeste, aber auch bezirksorientierte Großveranstaltungen wie z.B. die Siemensstädter Kunstbörse. Ferner bieten die Mitarbeiter kostenlose Beratung bei Erziehungs-, Familien- und Partnerschaftsproblemen und geben konkrete Hilfestellung bei der Orientierung im „Behördendschungel“, sei es bei Fragen zur Sozialhilfe, zur Pflegeversicherung oder in Mietangelegenheiten. Für Kinder im Grundschulalter werden z.B. Spiel-, Bastel- und Handarbeitsgruppen sowie Schularbeitshilfe angeboten. Außerdem gibt es zeitlich begrenzte Projekte und Ferienprogramme, deren Gestaltung die Kinder mitbestimmen. In den Sommermonaten bietet der Treffpunkt für Kinder offenes pädagogisch betreutes Spielen an. Die Arbeit des TREFFPUNKTES besteht also zum einen aus familienorientierter Arbeit für Erwachsene und Kinder, zum anderen in stadtteilorientierten Aktivitäten. Der TREFFPUNKT war zudem maßgeblich an der Gründung der Interessengemeinschaft

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Siemensstadt beteiligt. Die IG Siemensstadt e.V. wurde 1997 als Folge der Schließung eines großen Kaufhauses im Stadtteil gegründet. Zum damaligen Zeitpunkt befürchteten viele Siemensstädter Bewohner und Einrichtungen, daß der bereits vorher mit Attraktionen und Anziehungspunkten nicht reichlich versehene Stadtteil weiter an Attraktivität verlieren würde und sich von einem im Laufe der Zeit gewachsenen, durchaus liebenswürdigen Wohnquartier zu einer reinen Schlafstatt rückentwickeln würde. Es geschieht nicht allzu häufig, daß so unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche wie Industrie (die Siemens AG), Wohnungswirtschaft (Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft - GSW), sozial-kulturelle Einrichtung (Gesundheits- und soziale Dienste domino e.v.) und engagierte Bewohner eines Stadtteils sich mit dem ausdrücklichen Ziel zusammentun, die Wohn- und Lebensqualität in ihrem Umfeld zu verbessern und dieses auch in die Tat umsetzen. Genau dieses ist aber auch gemeint, wenn wir von sozial-kultureller Stadtteilarbeit sprechen. Gemeinsam mit der IG Siemensstadt wurden und werden zahlreiche sozial-kulturelle Veranstaltungen durchgeführt. Besonders genannt werden soll in diesem Zusammenhang das Nutzungskonzept für ein leerstehendes Hertie-Kaufhaus und die Ausstellung „KulturStadt-Hertie“ sowie das „Erste Kulturpolitische Forum“.

Das Schülerhaus In Kooperation mit anderen Trägern betreibt domino e.v. in Siemensstadt das Schülerhaus an der Heinrich-Hertz-Oberschule sowie das ehemals kommunale Jugendfreizeitheim Jungfernheide. Zu den Kooperationsmodellen ist zu bemerken, daß diese Einrichtungen aus Initiativen des Nachbarschaftsheimes Siemensstadt hervorgegangen sind und


aus inhaltlich-stadtteilorientierten Überlegungen zwar einen eigenen Vereinsstatus haben, jedoch von domino e.v. geschäftsführend verwaltet werden. Schule ist mehr als ein Ort des Lernens. Dies hat die Heinrich-Hertz-Oberschule in Siemensstadt bewiesen, indem sie vor über 13 Jahren zusätzlich das Schülerhaus bauen ließ. Hier entstand ein eigenständiger Freizeitbereich als Nachmittagsangebot. Die ca. 200 Schüler aus fast 20 Ländern werden sozialpädagogisch betreut und erhalten ein Freizeitangebot; auch Lehrer sind als Ansprechpartner vertreten. Das Schülerhaus ist außerdem Veranstaltungsort für Feiern, Elterntreffen, Gruppenveranstaltungen. Zeitweilig werden auch Ferienprogramme angeboten und in Zusammenarbeit mit Lehrern Kurzreisen unternommen.

Das Jugendfreizeitheim Seit Anfang 1991 betreiben wir mit dem Verein zur Förderung von Kinder- und Jugendarbeit in Siemensstadt e.V. zusammen das Jugendfreizeitheim Jungfernheide. Neben der primären Zielgruppe wird das Jugendfreizeitheim auch von vielen anderen Gruppen aus dem Stadtteil genutzt. Das ursprünglich eher hauptsächlich konventionelle Angebot des Jugendfreizeitheimes Jungfernheide (Freizeit, Kultur, Musik und Pädagogik) hat sich in den letzten Jahren grundlegend gewandelt. Es setzt heute bewußt neue Schwerpunkte, die den spezifischen Interessen von Jugendlichen in einem für sie wichtigen Bereich - der Berufsfindung ebenso Rechnung tragen, wie sie von gesellschaftlicher Bedeutung sind. Seit 1997 veranstalten domino e.v. und das Jugendfreizeitheim die Berufsfindungsbörse Spandau, die inzwischen über die bezirklichen Grenzen hinaus bekannt und etabliert ist. Es hat sich in den vergangenen Jahren immer deutlicher gezeigt, daß sich an der Schnittstelle zwischen Schule und Beruf ein Informationsvakuum aufgebaut hat. Diese Defizite machen für viele Jugendliche einen Übergang von der Schule zum Beruf ohne allzugroße Reibungsverluste nur schwer möglich. Deshalb hat schon im Oktober 1998 eine Veranstaltungsreihe begonnen, die in unregelmäßigen Abständen im Jugendfreizeitheim Jungfernheide stattfindet und als deren Abschluß die jährlich stattfindende Berufsfindungsbörse im Sommer eines jeden Jahres steht. Ziel dieser Berufsfindungsreihe ist es, ein Netz von Informationen sowie Ansprech- und Informationspartnern zu entwickeln, das es

Jugendlichen und anderen Beteiligten ermöglicht, einen umfassenden Überblick zu gewinnen, oder aber sich auch nur zu einzelnen Themenaspekten zu informieren. Einen solchen Schwerpunkt in der Arbeit des Jugendfreizeitheimes Jungfernheide zu setzen bedeutet natürlich nicht, daß die oben angesprochenen anderen Angebote vernachlässigt werden. Ein zentraler Bereich des Jugendfreizeitheims ist nach wie vor das Jugendcafé. Es wird eigenverantwortlich - mit Unterstützung pädagogischer Fachkräfte - von ehrenamtlich tätigen Schülern der benachbarten Schulen geleitet und organisiert. Die kulturpädagogischen Angebote des Jugendfreizeitheims sind genauso vielfältig wie die Interessensgebiete der Jugendlichen. Diese können hier ihre Kreativität, Gruppenfähigkeit und Auseinandersetzungsbereitschaft entdecken und erproben. Da es sich fast immer um längerfristige, prozeßorientierte Angebote handelt, kann sich hier ein großes Potential sozialer und kreativer Fähigkeiten entwickeln. So wurde z.B. von Jugendlichen ein Musical in der Verbindung von Theater und bildnerischem Gestalten inszeniert. Jugendlichen, die „nur“ Musik machen wollen, bietet das Jugendfreizeitheim einen komplett eingerichteten Bandraum an. Es besteht ebenfalls die Möglichkeit, am laufenden Gitarren-, Baß- und Schlagzeugunterricht sowie an regelmäßigen Musik-Workshops teilzunehmen.

Die Sozialstation Im gesundheitspflegerischen Bereich hat domino e.v. in Siemensstadt eine kompetente und leistungsstarke Sozialstation etabliert, welche qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. Die Sozialstation bietet Unterstützung im Krankheitsfall, bei der Bewältigung des Haushaltes sowie Leistungen im Rahmen der Pflegeversicherung. Zu den Angeboten der Sozialstation gehört auch eine kostenlose Beratung. In allen sozialrechtlichen Fragen - insbesondere zur Pflegeversicherung, zum Pflegegeld, zu Schwerbehinderung und Telebusberechtigung, zur Hilfe zur Pflege nach dem BDSHG etc. - steht kompetente Beratung zur Verfügung.

Der Selbsthilfetreffpunkt Seit 1987 gehört der domino-Selbsthilfetreffpunkt zum festen Bestandteil der sozialen Angebote in Siemensstadt. Der Selbsthilfetreff-

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punkt stellt Selbsthilfegruppen Räume zur Verfügung. Er berät und unterstützt Gruppen bei organisatorischen und gruppendynamischen Problemen. Außerdem bietet er Veranstaltungen zu sozialen oder gesundheitsrelevanten Themen, organisiert regelmäßig Kurse und Wochenendseminare und hilft auch in persönlicher Beratung.

Der Mobilitätshilfsdienst Der Mobilitätsdienst von domino e.v. bietet Menschen, die aufgrund von Behinderung oder Altersbeschwerden ihre Wohnung nicht mehr verlassen können, durch ausgebildete Mitarbeiter die Möglichkeit der Wegbegleitung. Durch diesen Dienst haben viele Siemensstädter die Chance, am gesellschaftlichen Leben in Berlin teilzunehmen.

Ausblick Die Nutzer sozialer Dienste werden kosten- und leistungsbewußter; gleichzeitig werden die Restriktionen staatlicher Förderungspolitik schärfer. Damit werden die Rolle und der Stellenwert der freien Wohlfahrtspflege als drittem Sozialpartner tendenziell geringer. Ein großer Teil der Klienten sozialer Dienste hat sich zum Kunden gewandelt. Er sieht sich - stärker als früher - als Verbraucher, der zwischen verschiedenen Angeboten wählen kann - und die Leistungsanbieter wählen wird die seine Bedürfnisse optimal erfüllen. Diese Anbieter müssen nicht unbedingt in den Reihen der Wohlfahrtsverbände zu finden sein. Die zunehmende Diskussion um das Thema Sozialmarketing, die vor Jahren noch von den freigemeinnützigen Einrichtungen vehement abgelehnt wurde, spiegelt diese Entwicklung wider. Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, daß es nicht nur notwendig ist, sich bei hohem Qualitätsniveau von anderen zu unterscheiden, sondern auch, diese Unterscheidung nach innen und außen deutlich sichtbar zu machen. Die Konsequenz dieser Entwicklung ist eine auch marktwirtschaftliche Ausrichtung vieler Aktivitäten, die in Teilbereichen die Kooperation mit privaten Anbietern nicht ausschließt. Tendenziell in die gleiche Richtung gehen intensive Überlegungen darüber, mit welcher Qualität und nach welchen meßbaren Kriterien künftig soziale Leistungen und Dienste erbracht werden sollen und können. Nicht der Klient bisheriger Definition, sondern der Kunde wird künftig die Denk- und Handlungsrichtung sozialer Einrichtungen definieren.

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Aus den Einrichtungen

von Monika Wagner-Krämer

„Unternehmungen mit Migrantinnen der 1. Generation“ Mit dem Club 2. Frühling durch Berlin Nachbarschafts- und Gemeinwesenverein am Kottbusser Tor e.V.

In vielen Gesprächen und Beratungen, die wir im Kotti e.V. mit türkischen Migrantinnen der ersten Generation führten, kristallisierte sich immer mehr der Wunsch der Frauen nach mehr sozialen und kulturellen Angeboten heraus. Dieser Wunsch sollte in Erfüllung gehen! In Zusammenarbeit mit unserer GZA-Mitarbeiterin, die in den 60er Jahren als Gastarbeiterin nach Berlin gekommen war, im Frauenwohnheim in der Stresemannstraße gelebt hatte und mehrere Jahre als Fabrikarbeiterin tätig gewesen war, wurde eine Gruppe aufgebaut, die von Anfang an großen Anklang fand.

Die ersten Einladungen gingen an ehemalige Mitbewohnerinnen und Mitarbeiterinnen, sie wurden von den Frauen mit großer Begeisterung aufgenommen. Einige hatten den Kontakt verloren und sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Anfangs trafen sich fünf bis sechs Frauen regelmäßig, um alte Bekannte zu treffen, über gemeinsame Zeiten, Erfahrungen und über die verstrichene Zeit zu sprechen.

regelmäßigen Besucherinnen des Familiengartens und durch Mundpropaganda.

Es entwickelte sich ein regelmäßiges Treffen an jedem Mittwoch im Familiengarten. Die Gruppe erweiterte sich durch die

In der Arbeit mit den Frauen wurde nochmals deutlich, daß das Bild der türkischen Großfamilie schon lange nicht mehr stimmt:

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„Die lustigen Witwen“, so nannten sich die Frauen am Anfang, weckten das Interesse anderer Einrichtungen, Journalisten und Studenten der FU, die in regelmäßigen Abständen zu den Mittwochsrunden kommen, um mit den Frauen über ihre Migrationsgeschichte zu sprechen.


Angebote in der Muttersprache nahezubringen, wurde 1997 und 1998 gemeinsam mit den Frauen je nach ihren Interessen und Wünschen ein Aktivitäten-Programm erstellt. Kino, Theater, Kabarettbesuche, Ausflüge ins Grüne, Besuche von Ausstellungen waren am beliebtesten. An den Aktivitäten nahmen im Durchschnitt 30 Frauen teil. Für viele war es der erste Kino-, Theater- oder Kabarettbesuch. Zum Bedauern aller mußten wir unsere Unternehmungslust leider wegen der geringen finanziellen Möglichkeiten der Frauen und des Vereins stark einschränken.

Der größte Teil der Frauen lebt bereits seit mehreren Jahren alleine, entweder nach der Scheidung oder nach dem Tod des Partners. Der Kontakt zu den Kindern ist eher unbeständig. Bei einigen leben die Kinder nicht mehr in Berlin, oder sie haben „keine Zeit für ihre Mütter“. Aber auch Generationskonflikte spielen eine große Rolle bei den Kontakten. Die Trennung der Familie treibt viele in Isolation und Vereinsamung. Angebote für ältere Migrantinnen ermöglichen den Frauen, dieser Situation zu entgehen.

Diese Einschränkung machte die Frauen erfinderisch, so daß der Mittwochnachmittag im Familiengarten zum Anlaß genommen wurde, um alte Traditionen wieder ins Leben zu rufen. Zu diesen Anlässen wurden die Töchter und die Enkelkinder mitgebracht, um ihnen die alten Traditionen und Spiele aus der Kindheit, mit denen sie aufgewachsen waren, zu vermitteln. Jeder Anlaß wurde genutzt, um zu singen und zu tanzen. Da keine Musikinstrumente vorhanden waren, wurden Löffel, Topfdeckel und Plastikschüsseln in rhythmische Musikinstrumente umfunktioniert.

Das Alter der Frauen liegt im Durchschnitt bei 45 - 55 Jahren. Das Alter der Migrantinnen liegt weit unter dem Alter der deutschen Seniorinnen, was gemeinsame Aktivitäten neben den sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten zusätzlich erschwert. Überbelastung durch schwere körperliche Arbeiten und die psycho-sozialen Umstände führten bei vielen zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zu frühem Altern. Die meisten sind seit Jahren in ärztlicher Behandlung. Nur wenige beziehen eine geringfügige Frührente mit ausgleichender Sozialhilfe. Der überwiegende Teil lebt von Sozialhilfe und/oder Arbeitslosengeld. Das Treffen am Mittwochnachmittag ist für viele Frauen die einzige Möglichkeit, die sie wahrnehmen (können), um aus ihrer Isolation herauszutreten, mit Gleichaltrigen zusammenzukommen, neue Kontakte zu knüpfen, Erfahrungen auszutauschen, sich zu informieren und Lebensfreude zu erfahren. Um den Frauen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung aufzuzeigen und kulturelle

Als der Zuwendungsantrag des Kotti e.V. vom Seniorenamt bewilligt wurde, war die Freude bei den Frauen groß. Der Traum von richtigen rhythmischen Instrumenten sollte sich erfüllen. Eine Wunschliste von Unternehmungen wurde erstellt und der Name „Die lustigen Witwen“ wurde umgewandelt in „Club 2. Frühling“. Die Musikinstrumente wurden z.T. aus der Türkei besorgt und es wurde gemeinsam ein Unternehmungsprogramm von April bis Juni erstellt. Nun konnte sie nichts mehr aufhalten. Da die Frauen ungern auf den Mittwochnachmittag verzichten wollten, wurden die Aktivitäten an anderen Tagen unternommen. Der Mittwochnach-

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mittag verwandelte sich zu einem Tanz- und Gesangsnachmittag mit rhythmischen Instrumenten. Die Lautstärke weckte die Neugier der Nachbarn, der Kinder aus der Kita und dem Hort des Kotti, die sich im selben Hof befinden. Besonders die Hortkinder sind mittlerweile regelmäßige „Zaungäste“. Das Aktivitäten-Programm „Mit dem Club 2. Frühling durch Berlin“ machte sich in kurzer Zeit einen Namen. Journalisten aus Hürriyet, Radio Multi Kulti, SFB veröffentlichten die Termine und Berichte über die Aktionen, was einen sehr großen Andrang mit sich brachte. Viele Frauen aus anderen Bezirken, jüngere Frauen und Familien zeigten großes Interesse. Da wir aber bereits eine Stammgruppe von über 30 Frauen haben, mußten wir die meisten Interessentinnen enttäuschen. Auch andere Vereine aus anderen Bezirken, die mit älteren Migrantinnen arbeiten, zeigten großes Interesse an den verschiedenen Terminen und hätten gerne mit ihren Gruppen die Angebote wahrgenommen. Die Aktivitäten wurden abwechslungsreich gestaltet. Leider mußten einige ausfallen, weil wir vorher nicht bedacht hatten, daß die Frauen sich nicht trauen, zu später Stunde alleine nach Hause zu gehen. In einzelnen Fällen wurden bei Unternehmungen, die bis in den späten Abend dauerten, die Frauen von den Betreuerinnen nach Hause begleitet. Aus organisatorischen und zeitlichen Gründen war dies jedoch keine langfristige Lösung. Durch die Aktivitäten haben viele Frauen zum ersten Mal Möglichkeiten der Freizeitgestaltung kennengelernt. Mittlerweile nehmen sie vereinzelt in kleinen Gruppen auch die Angebote des Seniorenamtes und anderer Freizeitstätten wahr und gestalten ihr Leben aktiv mit anderen zusammen. Im Herbst ist die Veröffentlichung einer Reihe Migrantinnen-Autobiographien unter dem Titel „Wir waren die Ersten ...“ im Rah men einer Ausstellung im Familiengarten des Kotti e.V. geplant.

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Aus den Einrichtungen

Ein Ort der heimatlichen Gefühle AL NADI

Der Treffpunkt im Al Nadi hat sich in den letzten Jahren zur zentralen Anlauf- und Beratungsstelle für arabische Frauen in Berlin entwickelt. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen Bildung und Beratung. Den hohen Zulauf erklären sich die Mitarbeiterinnen von Al Nadi nicht nur mit der inzwischen 20jährigen Erfahrung und dem guten Ruf, den sie sich in dieser Zeit innerhalb der arabischen Gesellschaft in der Stadt erworben haben. Ein wichtiger Grund, der von den Frauen immer wieder genannt wird, ist, daß durch das gemischte, deutsch-arabische Mitarbeiterinnen-Team sehr unterschiedliche Bedürfnisse gleichzeitig befriedigt werden können. Al Nadi ist für die Frauen sowohl ein Ort der heimatlichen Gefühle, der ein gemeinschaftliches Ausleben der eigenen kulturellen Identität erlaubt, als auch ein Ort der kompetenten tätigen Unterstützung im alltäglichen Überlebenskampf in einem fremden Land. Auch diese Doppelfunktion ist es, die erklärt, weshalb Frauen Anfahrtswege von bis zu zwei Stunden in Kauf nehmen, um einen Kurs zu besuchen oder eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Al Nadi ist jedoch nicht nur Treffpunkt und Beratungsstelle für arabische Frauen, sondern inzwischen oft auch Informationsstelle für interessierte Personen aller Art wie Studentinnen, Touristen, Künstler und zunehmend auch für Journalisten. Die Herkunftsländer der Besucherinnen

umfassen den gesamten arabischen Sprachraum; es kommen Palästinenserinnen und Kurdinnen aus dem Libanon, Frauen aus Jordanien, Syrien, dem Irak, aus Ägypten, Marokko und Tunesien. 1998 kamen vermehrt neu eingereiste junge palästinensische Frauen aus den Flüchtlingslagern im Libanon mit ihren Müttern oder anderen Familienangehörigen zu Al Nadi, die die Berliner Duldungsregelung für Palästinenser in Anspruch nahmen. Sie waren alle auf sog. illegalen Wegen eingereist, mit Hilfe von Schlepperorganisationen, die dafür mehrere tausend Dollar pro Person kassierten. Immer öfter kommen auch arabische Männer in die Beratung: Dies war schon früher ab und zu der Fall, wenn es z.B. um Sozialhilfeangelegenheiten der ganzen Familie ging und die Frau krank war oder aus einem anderen Grund nicht kommen konnte. Im Jahr 1998 aber wurden mehrere Male arabische Männer von anderen Stellen zu Al Nadi in die Beratung geschickt. Die Gruppe der Nutzerinnen des Al Nadi ist nach wie vor sehr heterogen. Das Kursangebot ist zwar aus finanziellen Gründen nicht mehr so breit gefächert wie die Jahre zuvor. Der Treffpunkt wird aber trotzdem nach wie vor von der Analphabetin bis zur Akademikerin genutzt, mit erfreulich wenig sozialer Abgrenzung untereinander. Auch der tagtägliche, immer freundliche und offene Umgang von Frauen verschiedener Nationalitäten miteinander ist bei den doch teilweise erheblichen Spannungen in-

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nerhalb der arabischen Welt, auch der Berlins, nicht selbstverständlich. So begreifen die Frauen Al Nadi als neutralen Ort, der allen offensteht und an dem jede willkommen ist, die diesen Grundsatz respektiert. Das Selbsthilfepotential ist groß und wird durch die Atmosphäre im Treffpunkt begünstigt. So gibt es viel gegenseitige Hilfe ohne das Zutun von Al Nadi, unabhängig davon, ob sich die Frauen vorher kannten oder nicht. Oft wird erst hinterher bekannt, wenn eine die andere z.B. zum Sozialamt begleitet hat, weil sie noch nicht gut genug Deutsch spricht, oder wenn eine der anderen einen Tip über eine freie Wohnung gegeben hat. Al Nadi fördert und unterstützt diese gegenseitige Hilfe, nicht zuletzt bedeutet sie auch Arbeitserleichterung. Wichtiger aber ist, daß sich die Frauen dadurch gegenseitig ermutigen, so weit wie möglich in ihrem Leben hier aktiv zu werden, und aus dem passiven Status des „betreuten Ausländers“ heraustreten. Die Nutzerinnen des Treffpunkts lassen sich aufenthaltsrechtlich in drei verschiedene Gruppen einteilen: 1. Eingebürgerte aufgrund langjährigen Aufenthalts. Diese kommen hauptsächlich, um Kontakte zu pflegen, an Aktivitäten teilzunehmen und oft auch, um endlich richtig lesen und schreiben zu lernen. Diese Frauen waren meist nie in der Schule, auch in ihrem Heimatland nicht, sie sind jetzt alt,


die Kinder sind groß, sie haben jetzt genügend Zeit dafür. 2. Nachgezogene Ehefrauen mit befristeter und unbefristeter Aufenthaltserlaubnis. Diese kommen vor allem, um die deutsche Sprache zu erlernen und sich dadurch in ihrer neuen Lebenssituation besser zurechtzufinden. Ein weiterer wichtiger Grund ist die Möglichkeit des Kontakteknüpfens zu anderen Frauen in der gleichen Situation. 3. Asylbewerberinnen mit Aufenthaltsgestattung und ehemalige Asylbewerberinnen mit Duldung oder Aufenthaltsbefugnis. Diese kommen, um die deutsche Sprache zu erlernen und ganz allgemein, um Hilfe zur Verbesserung ihrer Lage zu erhalten. Aufgrund der Sparmaßnahmen durch den Senat hat sich die Stellensituation im Al Nadi in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Inzwischen wird nur noch eine volle Stelle über die Ausländerbeauftragte, Barbara John, finanziert, die sich zwei Mitarbeiterinnen teilen. Der Arbeitsund Zeitdruck, der auf den Mitarbeiterinnen lastet, hat dadurch erheblich zugenommen und es läßt sich nicht vermeiden, daß er inzwischen des öfteren an die Frauen weitergegeben wird. Die für eine solche Arbeit immens wichtige Atmosphäre im Treffpunkt leidet darunter, daß die Mitarbeiterinnen öfter ungeduldig sind und keine Zeit mehr für längere Gespräche haben. Viele Frauen, die früher öfter einmal zu Besuch gekommen sind, kommen inzwischen nicht mehr vorbei, weil die Mitarbeiterinnen meistens mit „wichtigeren“ Dingen beschäftigt sind und zum „Quatschen“ oft keine Zeit mehr haben. Auf lange Sicht wird sich das aller Erfahrung nach rächen, weil besagtes „Quatschen“ immer auch aufklärerischen und präventiven Charakter hatte. Wie immer werden die Folgekosten höher sein als das, was kurzfristig eingespart wurde. Die Säulen der Arbeit des Al Nadi sind Bildung und Beratung: So gab es im Jahr 1998 insgesamt 15 Kursangebote, davon waren 6 Sprachkurse. Im einzelnen waren dies: - Deutsch-Anfänger für in lateinischer Schrift Alphabetisierte 4 Std./Wo. - Deutsch-Fortgeschrittene • 4 Std./Wo. - Alphabetisierung I • 4 Std./Wo. - Alphabetisierung II • 5 Std./Wo. - Arabisch für Kinder Anfänger und Fortgeschrittene • 4 Std./Wo.

- Nähkurs • 3 Std./Wo. - Seidenmalerei • 3 Std./Wo. - Gymnastik • 2 Std./Wo. - Gesprächskreis „Schwangerschaft und Geburt“ 1. Sem. • 2 Std./Wo. - Gesprächskreis: „Wie kann ich mit meinem Sohn/Tochter über Sexualität sprechen?“ 2. Sem. • 2 Std./Wo. Die Beratungsarbeit bildet inzwischen den Hauptschwerpunkt der Arbeit im Al Nadi: Beratung findet zwar offiziell nur Dienstag und Donnerstag statt, faktisch aber gibt es so viele Beratungsfälle, daß diese an den beiden Beratungstagen gar nicht abgearbeitet werden können. Die Konsequenz aus dieser Tatsache und aus dem Abbau der Personalstunden war, daß Al Nadi versucht, die Frauen verstärkt an andere Beratungsstellen zu vermitteln, soweit dies möglich war.

Sozialhilferechtliche Beratung: Im Juni 1997 hatte sich die soziale Lage eines Teils der Klientel durch die bis dahin 2. Verschärfung des 1993 eingeführten Asylbewerberleistungsgesetzes erheblich verschlechtert. Ein sehr großer, im Vergleich zu vorher massiv erweiterter Personenkreis erhält seitdem grundsätzlich nur noch um 20 Prozent gekürzte Sozialhilfe und diese meist in Form von Kostenübernahmescheinen, die inzwischen nicht mehr in sogenannten Warenmagazinen, sondern in bestimmten Einzelhandelsgeschäften eingelöst werden können. Die dritte und bisher letzte Verschärfung des Asylbewerberleistungsgesetzes ist im Sommer 1998, in der letzten Sitzung vor der Sommerpause vom Bundestag beschlossen worden, gegen die Stellungnahmen aller Wohlfahrtsverbände, diverser Organisationen und Einzelpersönlichkeiten. Selbst der deutsche Städtetag lehnte in einer Expertenanhörung vor dem Bundestag den hastig zusammengeschusterten Gesetzesentwurf wegen mangelnder Umsetzbarkeit ab. Trotzdem wurde das Gesetz verabschiedet und so entstand im August 1998 in Zusammenarbeit mit der Ausländerbehörde ein Rundschreiben der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, das seitdem Sozialämtern und Beratungsstellen Rätsel aufgibt. Hauptziel der neuesten Verschärfung ist es, Menschen durch angedrohten bzw. durchgeführten Sozialhilfeentzug zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen. Menschen, die angeblich zur Verhinde-

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rung ihrer Abschiebung ihre Identität verschleiern oder an einer Paßbeschaffung nicht mitwirken, soll die Sozialhilfe entzogen werden. Laut Absprache der Senatsverwaltung mit der Ausländerbehörde soll nun ein Stempel „Erwerbstätigkeit nicht gestattet“ in den Aufenthaltspapieren der Betroffenen den Sachbearbeitern in den Sozialämtern signalisieren, daß es sich hier um solche handelt. Auch der handschriftliche Eintrag der Ausländerbehörde „Identität ungeklärt“ führt zu einer Androhung des Sozialhilfeentzugs. Nun haben aber gerade die Palästinenser aus dem Libanon oft keinen Paß, da sich, wie auch die Ausländerbehörde weiß, der Libanon aus politischen Gründen seit Jahren weigert, für die Palästinenser Pässe auszustellen oder zu verlängern. So haben viele Palästinenser nur ihre palästinensischen Ausweise und die Karte der UNWRA, des UN-Flüchtlingshilfswerks für Palästinaflüchtlinge. Diese Papiere werden mit dem Argument der leichten Fälschbarkeit von der Ausländerbehörde nicht als Identitätsnachweise anerkannt und so haben auch diese Menschen oft in ihren Duldungen den Eintrag „Identität ungeklärt“. Zu allem Überfluß haben wir den Eindruck, daß die Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde Stempel- und Eintragsvergabe recht willkürlich handhaben, so daß bei gleichen Voraussetzungen manche einen Stempel oder Eintrag haben und manche keinen. Auch haben wir den Eindruck, daß manche Sachbearbeiter „Identität ungeklärt“ mit „Staatsangehörigkeit ungeklärt“ verwechseln, was seit Jahren die offizielle Bezeichnung für Palästinaflüchtlinge ist. Ein grundsätzliches Problem in der ausländerrechtlichen Beratung ist, daß zur Verbesserung des Aufenthaltsstatus eine Grund voraussetzung ist, seinen Lebensunterhalt selbst, d.h. ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfe finanzieren zu können. Dies ist für Alleinstehende und Paare noch möglich, bei Familien mit mehreren Kindern schon fast unmöglich, wenn man bedenkt, daß die Jobs, in denen das Klientel arbeiten kann, üblicherweise niedrig qualifiziert und schlecht bezahlt sind. Hinzu kommt eine besondere Hürde, vor der die Menschen stehen, die eine Aufenthaltsbefugnis besitzen. Dies sind vor allem Palästinenser aus dem Libanon, die vor Jahren durch eine Änderung des Ausländergesetzes von einer Aufenthaltserlaubnis in eine Aufenthaltsbefugnis zurückgestuft worden waren. Eine Änderung des Kindergeldgesetzes schließlich bewirkte, daß diese

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Exchangeable – interkulturelles Lernen Ich berate Sie als MultiplikatorInnen gerne, wenn Sie eine Studienfahrt in die USA planen und erarbeite Ihnen ein individuelles Studienfahrtdesign incl. attraktiven Zusatzangeboten wie z.B. eine Wochenendtour zu den heißen Quellen im Olympic Nationalpark oder einen Besuch im Boeing-Flugmuseum.

Ich freue mich, Ihnen in diesem Rundbrief exchange able vorstellen zu dürfen.

Mit exchangeable will ich die vielfältigen Lernmöglichkeiten, die die USA und dort speziell die Stadt Seattle im sozialund gesellschaftspolitischen Bereich bietet, nutzbar machen für interessierte Gruppen, Organisationen und Institutionen aus Deutschland, die in diesem interkulturellen Kontext lernen wollen.

(Corporate) Volunteering, Fundraising, Community Organizing, Kampagnenarbeit, Community Foundations (Bürgerstiftungen) sind Bereiche sozialer Innovation in den USA, die eine breite Lernpalette bieten. Auch die Wurzeln der Nachbarschafts- und sozial-kulturellen Arbeit liegen in den USA. Jane Adams gründete 1898 dort eines der ersten Settlementhäuser in Chicago.

MAG AZIN

M MAGAZIN

Menschen kein Kindergeld mehr bekamen, da es ab diesem Zeitpunkt nur noch Kindergeld bei einer Aufenthaltserlaubnis gibt. Nach dem Ausländergesetz kann ihnen nun, wenn sie acht Jahre lang im Besitz einer Befugnis waren und unabhängig von Sozialhilfe sind, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Ohne Kindergeld jedoch haben sie so gut wie keine Chance, die monatliche Summe zu erreichen, die von der Ausländerbehörde für eine solche Aufenthaltsverfestigung verlangt wird. Hätten sie jedoch die Aufenthaltserlaubnis, könnten sie mit Hilfe des Kindergeldes unabhängig von Sozialhilfe werden. So leben diese Familien hier jahrelang ohne reale Chance auf eine Verbesserung ihrer Lage. Noch viel schlimmer ist die Situation derjenigen, die seit Jahren im Asylverfahren sind oder mit Duldungen leben, die alle drei oder sechs Monate verlängert werden. Die Lage der palästinensischen defacto-Flüchtlinge hat sich im Grunde seit vielen Jahren nicht verändert: Eine Chance auf Anerkennung im Asylverfahren (als individuell politisch Verfolgte) haben sie nicht, zurück in den Libanon können sie nicht (der Libanon nimmt sie nicht zurück), einen gesicherten Aufenthalt hier kriegen sie nicht. Die Hoffnungen deutscher und speziell der Berliner Politiker auf ein Rücknahmeabkommen mit dem Libanon haben sich als unrealistisch herausgestellt: Der Libanon hat kein Interesse daran, sein fragiles inneres Gleichgewicht zu zerstören. Die PLO als politischer Vertreter der Palästinenser wiederum hat kein Interesse daran, sich für ein Bleiberecht der in Deutschland Lebenden einzusetzen, da die Flüchtlingsfrage als politisches Druckmittel in den Friedensverhandlungen mit Israel benutzt wird. Die Palästinenser sind nach wie vor hauptsächlich politische Manövriermasse in der großen Politik und deutsche Interessen in diesem Zusammenhang eher nebensächlich. Eine neue Altfallregelung, wie sie im Koalitionsvertrag der neuen Regierung vorgesehen ist, müßte deshalb die Gruppe der Palästinenser aus dem Libanon ausdrücklich miteinbeziehen, und zwar ohne die Bedingung des fehlenden Sozialhilfebezugs, weil sonst wieder niemand darunter fallen wird, so geschehen bei der letzten Altfallregelung.

„Das Hinaustreten aus vertrauten Zusammenhängen und Lernerfahrungen in anderen Ländern sind wesentliche Teile meiner Biografie. Diese Aus-Zeiten waren in meinem Leben wesentliche, prägende und lehrreiche Momente. Sie waren der Ausgangspunkt für Veränderungen und Energiequelle für innovative Schritte.“

M. Mohrlok

Kontakt: Marion Mohrlok Christahof 15 79114 Freiburg Tel.: 0761/ 441349 ab Dezember 1999: Büro in Seattle.

Die nächste Mitgliederversammlung des Bundesverbandes für sozial-kulturelle Arbeit e.V. findet am Freitag, dem 12. Mai 2000 statt. Gastgeberin ist die Ufa-Fabrik in Berlin.

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Mädchen-TV Nachbarschaftsverein Bockenheim e.V.

Die Idee zu einem Mädchen-TV entstand im Mädchenbüro des Nachbarschaftsheims Bockenheim, das seit 1997 mädchenspezifische Kurs- und Gruppenangebote eingerichtet hat. Die Realisation eines medienpädagogischen Projekts wie das Mädchen-TV wurde durch den Wunsch der Mädchen möglich, eine Sendung zu produzieren, in der ihre Interessen, Probleme und Wünsche thematisiert werden. Mit interessenbezogenen Themen wie Musik, Alltagsleben von anderen Kulturen, Partnerschaft und Kunst können sich Mädchen identifizieren. Die Veröffentlichung der eigenen Sendebeiträge im Offenen Kanal Offenbach/ Frankfurt eröffnet Mädchen die Möglichkeit, ihre Lebenswelt aus ihrer Sicht darund der Öffentlichkeit vorzustellen.

Warum Mädchen-TV ? Die Medieninhalte und auch die Nutzung verschiedener Medien zeigen geschlechtsspezifische Unterschiede: So neigen männliche Jugendliche dazu, Medien exzessiver zu nutzen. Sie zeigen eine Vorliebe für gewalttätige Filmgenres, Filminhalte und -szenen und identifizieren sich mit starken Helden. Hingegen haben Mädchen einen geringeren Bedarf an diesen Bildern, bevorzugen Filme, die emotional befriedigend enden und identifizieren sich mit männlichen Helden, die in Beschützerrollen oder als Traummänner agieren. Diese Filme erzeugen das typische Frauenbild mit den Attributen "schwach, unterwürfig, hilflos." Daraus läßt sich schließen, daß die Medien keine zeitgemäßen und geschlechtsspezifischen Themen und Identifikationsmöglichkeiten für Mädchen und junge Frauen bieten.

Mädchen brauchen und benötigen eine eigene Sendung mit geschlechtsspezifischen und identitätsstiftenden Themen, in der sie sich austauschen und interessenbezogene Themen darstellen können: Ein Mädchen-TV, von Mädchen für Mädchen!

Projektverlauf Das Projekt Mädchen-TV startete mit der Produktion eines Spielfilms. Für diese Produktion formierte sich eine Gruppe von acht Mädchen im Alter von 13-15 Jahren. Die Mädchen wählten als Thema ihres Films "Freundschaft, Liebe und Klamottenprobleme". Die Mädchen sind verantwortlich für die Gestaltung des Drehbuchs, die Besetzung der Schauspieler, die Bestimmung der Drehorte, des Schnitts und der Nachvertonung. Dieser Film soll die Premiere des Mädchen-TV sein, der nach Fertigstellung im Offenen Kanal Offenbach/ Frankfurt zu sehen sein wird. Der Spielfilm wird zudem am Videowettbewerb 2000 von Stadt und Kreis Offenbach teilnehmen. Weitere Aktionen mit dem Mädchen-TV sind in Planung.

Wie geht es weiter ? Das Mädchen-TV wird ein langfristiges Projektangebot für Mädchen sein. Die Frage, die sich für das Projekt im Laufe der Umsetzungsphase gestellt hat, ist: Wie lassen sich die laufenden Kosten des Mädchen-TV finanzieren? Hierzu sind wir auf private Sponsoren angewiesen, damit das Projekt und alle weiteren Ideen auf festen Füßen stehen können. Annette Gowin Weitere Informationen zum Mädchen-TV erhalten Sie über:

M Die Struktur Die Struktur des Mädchen-TV gliedert sich in zwei Bereiche: • Umsetzung und Veröffentlichung von mädchengerechten Themen des Mädchen-TV im Offenen Kanal • Auseinandersetzung mit dem Medium TV

Der Bereich der Umsetzung und Veröffentlichung von mädchengerechten Themen im Mädchen-TV beinhaltet die Produktion von Sendebeiträgen in Form von Kurzfilmen, Reportagen, Interviews, Videoclips und einer Live-Sendung. Die Umsetzung der Produktion beinhaltet die Recherche von Themen, den Umgang mit Kamera, Licht, Ton, Schnitt, Nachvertonung, Vorbereitung für Live-Sendungen, Drehbücher, Entwurf von Fragebögen etc.

Nachbarschaftsheim Frankfurt a.M. Bockenheim e.V. Mädchenbüro Rohmerplatz 15 60486 Frankfurt a.M. Tel.: 069 - 77 40 40 Fax. 069 - 70 52 62 Email: mb.bockenheim@gmx.de

MAGAZIN

Ein medienpädagogisches Projekt des Mädchenbüros des Nachbarschaftsheim Frankfurt a.M. - Bockenheim e.V. in Zusammenarbeit mit dem Offenen Kanal Offenbach/Frankfurt.

r, die Kinde icht man n n werde , t b e li , hsene Er wac icht die n n. liebe Buck S. Pearl

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Marx meets Madonna volkstümelnden „Hunderprozentigen“. Aus einer Clique Jugendlicher ergibt sich die Zukunftsvision: Wie werde ich im Jahre 2050 mit sechzig leben? Auf dem Jupiter, glücklich den Katastrophen der Erde entronnen? Prinzip ist dabei, daß in den Rückblicken die Jüngeren in die Rollen der Älteren schlüpfen. Tik-tak-Oma wird in den Zwanzigern von einer Schülerin gespielt, so jung, wie sie damals

MA GAZ IN

Unter diesem Motto haben sich 17 Schüler und Schülerinnen der Bettina-vonArnim-Schule und sieben Senioren und Seniorinnen des Theaters der Erfahrungen zu einem gemeinsamen Theaterprojekt zusammengetan. Für die Schüler war dieses Projekt Teil ihres Kurses „Darstellendes Spiel“, den sie in der 12. und 13. Klasse gewählt haben. Beide Gruppen haben sich bewußt für diese Begegnung der Generationen entschieden.

Passen jung und alt zusammen? Natürlich stoßen zwei verschiedene Welten aufeinander: hier Schule, Noten, Abitur, Jobben, Frust und Lust; dort jede Menge Lebenserfahrung, Zeit, endlich Dinge zu tun, die einem wichtig sind, und trotz Rente keine Zeit, Zeit zu vergeuden. So könnte man diese Begegnung beschreiben. Beim Improvisieren und der Lust, Theater zu spielen, unterscheiden sich die Generationen kaum voneinander. Schwieriger war es, sich zu einigen, Meinungen gelten zu lassen, Konflikte auszutragen, mit Siebzehn beherzt der Sicherheit aus sechzig Jahren Erfahrung entgegenzutreten. Oder sich als Älterer noch einmal in eine Gruppe kritischer Jugendlicher zu begeben.

MA GA ZIN

M Mit welcher Motivation? Für die einen war es Unterricht. Es gab Punkte (Noten) für ihre Leistung. Für die anderen war es ein Experiment. Motivation für beide Gruppen war das Theater: Ideen einbringen, Kritik üben, mitdenken, weiterentwickeln, zusammenarbeiten. So vielfältig die Herausforderungen des Theaters sind, um so schwieriger lassen sie sich in Noten ausdrücken. Aber „Darstellendes Spiel“ ist kein Fach, das man wegen der Noten wählt, denn es erfordert umfassenden Einsatz. Die Älteren motiviert der Ernst der Auseinandersetzung. Sie wollen vorankommen. Sie bekommen keine Noten, aber sie schätzen das Engagement der Schüler. Doch Schule bleibt Schule: Zusätzliche Termine müssen mit Klausuren und Lehrern koordiniert werden. Andere Fächer sind auch wichtig, immerhin geht es ums Abitur!

Gemeinsamkeiten finden Die Thematik für ein Theaterstück war schnell gefunden: Sylvester 2000, der An-

laß für Rückblicke in die Geschichte und futuristische Aussichten. Die letzten Kriegstage 1945: Die Älteren haben es erlebt, die Jüngeren kennen es nur aus Erzählungen ihrer Großeltern. Berlin in den „goldenen Zwanzigern“: Diesmal besteht Chancengleichheit, denn diese Zeit müssen sich beide Gruppen erarbeiten. Wie wird das Leben im Jahr 2050 aussehen? Hier sind die Schüler gefordert, zu erfinden, wie ihre Zukunft aussehen wird. Die Arbeit am Stück ist keine Einbahnstraße: Nicht die Älteren haben den Jungen etwas zu sagen oder umgekehrt: Beide Gruppen sind gleichermaßen gefordert, jeweils Erfahrung und Kreativität einzubringen.

Zum Stück Dramaturgischer Ausgangspunkt ist die Sylvesterfete 2000 unter dem Brandenburger Tor. Die achtzehnjährige Enkelin hat ihrer hunderjährigen Tik-tak-Oma den Wunsch erfüllt, zur Sylvesterfeier zum Brandenburger Tor zu fahren. Mit ihrer Erinnerung beginnt eine Zeitreise in die zwanziger Jahre, in eine Charlston-Bar, in der ihre Schwester für fünf Mark den Abend sang, ein Abend zwischen ausgelassenem Vergnügen und dem sich ankündigendem politischen Unheil. Ein weiterer Rückblick basiert auf dem vermeintlichen Wiedertreffen zweier Jugendfreundinnen, die sich 1945 kurz vor dem Zusammenbruch aus den Augen verloren. Der Rückblick ist ein Spiegel einer sich auflösenden Gesellschaft. Eine Kellergemeinschaft aus einfachen Zivilisten, Deserteuren, Plünderern und einer

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war. Und umgekehrt verkörpern die Älteren die Rollen der Jungen in der Zukunft.

Wir waren die Aufführungen? Höchste Anspannung herrschte bei allen vor den Aufführungen von „Vorwärts! Wir müssen zurück“, so der schlußendlich gefundene Titel des Stücks. Wie wird es ankommen bei jung und alt? Dann Überraschung und Erleichterung, denn das Stück findet bei allen Generationen Anklang, ganz abgesehen von Freunden, Eltern, Kollegen, Kindern und Enkeln.

Was man mitnimmt: Einblicke in andere Lebenserfahrungen; Sympathien für interessante Menschen, die einem nahegekommen sind; natürlich den gemeinsamen Erfolg und viele Erfahrungen mehr, die man nicht gemacht hätte, wäre man unter seinesgleichen geblieben. So begegnet man der anderen Generation - außerhalb der Familie - offen, herzlich und mit geschärftem Blick. Jens Clausen, Theater der Erfahrungen


War es wirklich so?

Ein Zufallskreis? Nun, so unterschiedlich die Frauen auch waren - vom Jahrgang 1942 - sie alle waren bereit, den Blick zurück zu wagen und sich in aller Offenheit zu erinnern. Eine Erzählwerkstatt, keine Schreibwerkstatt, aber dennoch gab es einige Frauen, die ihre Schreibleidenschaft ausleben konnten und die für die monatlichen Sitzungen zu den jeweiligen Themen Erinnerungstexte mitbrachten. Bald schon wuchs die Vertrauensatmosphäre und wir ließen das Tonband

MAG AZIN

MAGAZIN

M

„War es wirklich so?“ ... so heißt ein kleines Buch, das der Gesprächskreis Lebensbilanz im Nachbarschaftshaus Wiesbaden e.V. im August diesen Jahres herausgegeben hat. Diese Frage stellen sich Frauen, die zum ersten Mal vor sieben Jahren zusammentrafen, um sich erzählend an ihr Leben zurückzuerinnern.

mitlaufen, um die Erzählungen nicht wieder zu verlieren. Es kam der Wunsch auf, die Texte in einem kleinen Band zu veröffentlichen.

Nun liegen sie also vor, die Erinnerungen an Kindheit, Großeltern, Nationalsozialismus, 1945, Nachkriegsjahre, Mütter und Töchter, Liebe, Heimat, Glauben, Sterben und Tod in diesem kleinen Band „War es wirklich so?“, und trotz der Fragwürdigkeit des Erinnerns sagen sie „Ja, so war es für uns.“ Warum ich davon erzähle? Hier könnte ich aufhören, aber jetzt erst wird’s spannend. Denn dieses kleine Bändchen hatte viele Folgen. Wie oft erschienen in letzter Zeit nach Presseberichten Leute bei mir im Büro, um das Buch zu kaufen, wie viele Gespräche über erlebte Geschichten gab es da. Der Mut zur Offenheit der Erzählerinnen ermutigte auch andere etwas zu erzählen, was bisher für sie eher tabu war. Zwei Erzählcafés gab’s bisher mit vollem Saal, und den Vorschlag aus dem Publikum, die Zeitzeuginnen in Schulen lesen zu lassen (das Schulamt ist daran interessiert), die Fachhochschule bat um eine Lesung, die Presse druckte an zehn Tagen Texte aus

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dem Buch, Radio Rheinwelle lud die Autorinnen zu einer Sendung ein, in der Interviews und Lesungen sich abwechselten ... es geht also weiter. Briefe erreichen uns, Anrufe ... und so entstand der Entschluß, unser Buch zur Dachverbandstagung in Berlin mitzunehmen. Die erste Auflage ist vergriffen, aber ein Nachdruck wird rechtzeitig fertig. Weshalb ich das alles erzähle? Um Mut zu machen, Mut für weitere Gesprächskreise mit biographischer Arbeit. Brigitte Zande

Erhältlich ist das Buch über das Nachbarschaftshaus Wiesbaden e.V. Brigitte Zander Rathausstr. 10 65203 Wiesbaden 10,-DM + zzgl. 1,50 DM Porto

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Rezensionen

Herbert Effinger (Hg.)

Soziale Arbeit und Gemeinschaft Im Rahmen einer sozialarbeitswissen-

schaftlichen Fragestellung mit dem Titel „Soziale Arbeit und Gemeinschaft“ wurde

an der Evangelischen Hochschule für So-

ziale Arbeit Dresden eine Ringlesung durchgeführt. Die Leitfrage aller Beiträge dieser Veranstaltung und des daraus ent-

Winfried Noack

standenen Buches lautet: Unter welchen Be-

Gemeinwesenarbeit

dingungen können sich heute Gemeinschaf-

Ein Lehr- und Arbeitsbuch

ten bilden, die gleichermaßen Individualität

(Besonderheit), Individuation (Selbstentfal-

Einerseits wird Gemeinwesenarbeit in

tung) und Autonomie (Selbständigkeit) wie

der sozialarbeiterischen Welt und auch in

gesellschaftliche Verantwortung in Gemein-

Ämtern und Behörden - wenn auch nicht im-

schaft (Solidarität) ermöglichen, vorausset-

mer gebührend - geschätzt und hat sich als

zen und fördern? Den Autorinnen und Au-

Begriff in diesem Arbeitsfeld etabliert. Unter

toren ging es in erster Linie darum, solche

allen Formen der Sozialarbeit ist sie am

Problemstellungen aufzugreifen, die für das

stärksten mit dem Ganzen der Gesellschaft

professionelle Setting oder die institutionel-

verflochten und von ihr mitbestimmt. Ande-

le Einbindung Sozialer Arbeit und ihrer

rerseits jedoch ist Gemeinwesenarbeit im-

Träger in das bundesrepublikanische

mer noch in weitestem Sinne begrifflich un-

Wohlfahrtssystem relevant sind. Der Band

klar und unsicher, da sie unterschiedliche

umfaßt sowohl theoretische Grundsatz-

Traditionen und Konzepte einschließt.

beiträge über die Gemeinschaftsorientie-

Noack gibt hier zunächst einen Überblick

rung Sozialer Arbeit , wie z.B. über die Vi-

über die Entstehung und Rezeption der

rulenz und Ambivalenz des Gemeinschafts-

Gemeinwesenarbeit, um dann ihre Grund-

begriffes, als auch sehr differenzierte

formen, Arbeitsweisen und Wirkungsmög-

Beiträge aus der Praxis der Gemeinschafts-

lichkeiten nachzuweisen. Er zeigt auf, wie

arbeit wie z.B. über eine Selbsthilfegruppe

sich ein soziales Netzwerk ausweitet zur

der Anonymen Alkoholiker.

Gemeinwesenarbeit und entwickelt schließlich Arbeitsfelder, denen er für die Zukunft

Lambertus Verlag. Freiburg im Breisgau.

eine wichtige Bedeutung in unserer Gesell-

1999.

schaft zuschreibt. Lambertus Verlag. Freiburg im Breisgau.

n zeihe

Ver ine ist ke eit, Narrh Narr n i e r nu nicht kann ihen. ort verze richw s Sp sische Chine

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1999.


Ehrenamtliche/ freiwillige Mitarbeiter/ Mitarbeiterinnen Ein Leitfaden Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V. von Georg Zinner

Georg Zinner behandelt in seinem Beitrag drei wichtige Punkte zum Thema Ehren amt: 1. Die Definition der ehrenamtlichen Arbei in unserer Gesellschaft und ihre Voraussetzungen, 2. die Regeln für einen adäquaten, wertschätzenden Umgang mit ehrenamtlichen Mitarbeitern und 3. die Anforderungen an eine fachlichrationale Unterstützungsstruktur für das freiwillige Engagement. Grundsätzliche Überlegungen zu diesen drei Punkten und die „Goldenen Regeln“ zur Arbeit mit ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurden im hier vorgestellten Leitfaden des Nachbarschaftsheimes Schöneberg e.V. zusammengefaßt.

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Ehrenamt und Nutzermitwirkung Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Besucher-/Nutzermitwirkung im Nachbarschaftsheim Schöneberg haben wir festgestellt, daß es ein Unterschied ist, ob jemand mitwirkt, der bereits Angebote der Einrichtung wahrnimmt oder ob jemand sozusagen von außen an uns herantritt mit dem Wunsch mitzuwirken bzw. eine Aufgabe zu übernehmen. Der Begriff Ehrenamt ist häufig negativ besetzt, deshalb gibt es seit einiger Zeit Bestrebungen, einen neuen Begriff einzuführen, z.B.: „Volunteers“ oder einfach nur Freiwillige. Wir haben uns weiterhin für den Begriff Ehrenamt entschieden, da sich viele Ehrenamtliche selbst so bezeichnen.

Nutzermitwirkung

Ehrenamtliche/ freiwillige Mitarbeiter

Arbeitsbereichbezogen: vom Garten umgraben bis zum inhaltlichen Mitgestalten in Gremien

unterschiedliche Aufgaben

Kurs- und Gruppenteilnehmerinnen

eher von „außen“ kommend

Die hauptamtlichen Mitarbeiter wecken Motivation und halten diese wach. Sie machen Strukturen transparent. Siehe „Goldene Regeln“

siehe „Goldene Regeln“

Die Nutzer können einerseits Mitgestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten wahrnehmen. Andererseits bedeutet die Nutzermitwirkung auch, dem hauptamtlichen Mitarbeiter einen Gefallen zu tun. Ebenso existiert die Notwendigkeit, daß Nutzer bestimmte Aufgaben übernehmen müssen, sonst können bestimmte Angebote nicht stattfinden.

Helfen wollen Fähigkeiten und Erfahrungen anderen Personen zur Verfügung stellen wollen

Ziele: Eigenverantwortlichkeit die Erfahrung machen können, daß durch aktive Teilhabe mitgestaltet und mitentschieden werden kann. Basisdemokratie leben

Ziel: bürgerschaftliches Engagement zu ermöglichen

unentgeltlich

unentgeltlich

Die Übergänge zwischen diesen beiden Definitionen sind fließend.

Goldene Regeln zur Arbeit mit ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern

Praktische Umsetzung

Zielsetzung

KENNENLERNPHASE Dient dem Aufbau von Kontakten und Beziehungen und zum Kennenlernen der Person.

Bei dem ersten Anruf eines interessierten Menschen muß sich unbedingt Zeit für das Gespräch genommen werden. Regel: Die Interessierte ruft nur einmal an. Einladung zum Erstgespräch. Der Termin ist verbindlich.

ERSTGESPRÄCH Das Ziel ist nicht, eine Idee zu verkaufen, sondern herauszubekommen, wer ist dieser Mensch und was möchte er. Der Anlaß muß klar sein, z.B. „Ich möchte Sie näher kennenlernen!“

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Zeit einplanen. Angenehme und ungestörte Atmosphäre schaffen. Der Interessent muß das Gefühl haben, während des Gesprächs wichtiger als alles andere zu sein.


Goldene Regeln zur Arbeit mit ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Zielsetzung

Praktische Umsetzung GESPRÄCHSINHALT

Kein psychologisch-therapeutisches Gespräch, kein Interview, kein Gespräch unter Freunden, bereit sein, selbst etwas aus der eigenen Geschichte zu erzählen. Es geht um Aufbau von gegenseitigem Respekt und nicht um Freundschaft.

Motivation. Zeitbudget des Bewerbers erfragen (realistisches Maß). Realistische Informationen über den Aufgabenbereich geben oder herausfinden, wo die Interessen liegen. Das Unterstützungsangebot glaubhaft vermitteln. Am Ende des ersten Gesprächs ist ein verbindlicher Termin auszumachen, an dem der Interessierte erfährt, ob er für die Arbeit als ehrenamtlicher Mitarbeiter in Frage kommt.

Anerkennung/ Ehrung •

zur Beratung neuer ehrenamtlicher Mitarbeiter muß ausreichend Zeit zur Verfügung stehen

geeignete Räumlichkeiten für ungestörte Beratungsgespräche müssen eingerichtet werden

Etat für kleine Aufmerksamkeiten als Anerkennung

Sicherstellung von Aufwandsentschädigungen

Möglichkeiten für Austausch, Fortbildung, Supervision

evtl. Einsatz eines Koordinators/Beauftragten (z.B. Organisation bereichsübergreifender Fortbildungsangebote, Unterstützung und Förderung des Umsetzens der Goldenen Regeln, Organisation der Ehrung z.B. an einem Tag des Ehrenamtes)

evtl. jährlichen Tag des Ehrenamtes ein richten

Vorstellung ehrenamtlicher Mitarbeiter im Jahresbericht oder Programmheft.

ZWEITGESPRÄCH Hier geht es mehr darum, die Kompetenzen des Interessenten herauszufinden. Will er/sie eine neue Aufgabe entwickeln oder besteht Interesse an einer klar definierten Aufgabe der Institution.

Wenn ein Interessent abgelehnt wird, müssen die Gründe von dem hauptamtlichen Mitarbeiter deutlich benannt werden. Umgekehrt ist eine Begründung nicht notwendig. Wenn der Interessent angenommen wird, sollten jetzt die Aufgabe genau definiert und verbindliche Absprachen getroffen werden.

REALISIERUNGSPHASE Die Realisierung hat bessere Chancen, wenn das Thema auf Eigeninteresse beruht, es einen Bedarf gibt, das Zeitbudget eingehalten wird, die Verbindlichkeiten klar sind und von beiden Seiten eingehalten werden, die Institution transparent ist.

Einarbeitung durch Gespräch oder Einführungsseminar, regelmäßige Fortbildung oder Gruppenbesprechungen, Hospitationen, Einzelberatung.

STABILISIERUNGSPHASE Es geht um die Wahrung der Motivation der ehrenamtlichen Mitarbeiter. Entwicklung von Mitbestimmungsrechten. Wahrung des Respektes. Erkenntnis, daß die Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Mitarbeitern eine Bereicherung der Arbeit darstellt. Anerkennung und Wertschätzung nicht vergessen. Die Tätigkeit ist veränderbar. Weiterentwicklung soll ermöglicht werden.

Der Ehrenamtliche hat ein Recht auf Beratung und Information. Dies hat Vorrang vor anderen Tätigkeiten.

Blumen o.a. kleine Geschenke. Geburtstage nicht vergessen. Tag des Ehrenamtes mit offizieller Ehrung, Anerkennung z.B. mit Urkunde o.ä.

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Freiwilliges Engagement und die Anforderungen an eine fachlich-rationale Unterstützungsstruktur 1. Freiwilliges Engagement findet in unserer Gesellschaft in vielen Formen statt: als ehrenamtliche Mitarbeit, als bürgerschaftliches Engagement, in der Politik, der Kultur, im Sport, in der Gemeinde, in der Nachbarschaft, in Wohlfahrtsorganisationen, in Bür-

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gerinitiativen, in lokalen und in überregionalen, ja weltweit vernetzten Organisationen. 2. Freiwilliges Engagement hat verschiedene Motive und Ziele: Helfen, Verändern, Bewegen, Gestalten, Aktiv-Sein, Anerkennung finden, Gemeinschaft erleben. 3. Freiwilliges Engagement hat eigene, durch professionelle Arbeit nicht ersetzbare Qualitäten, am ehesten bekannt aus der Selbsthilfe. Aber auch in anderen Bereichen sind vergleichbare Effekte erkennbar. Die nicht bezahlte Arbeit, das freiwillige Engagement fördert womöglich die Lebensqualität einer Gesellschaft genauso wie die bezahlte Arbeit. 4. Freiwilliges Engagement vertraut auf die Fähigkeit der Menschen, ihr Lebensumfeld zu gestalten und entscheidend zu prägen. Freiwilliges Engagement wirkt innovativ und integrativ und ist für eine demokratische Kultur unverzichtbar: Die sich freiwillig Engagierenden sind Stützen der Gesellschaft; sie sind nicht die Untertanen, sondern die (mündigen) Staatsbürger. 5. Freiwilliges Engagement kontrolliert und korrigiert (reguliert) einen überbürokratischen, überregulierten und überprofessionellen Wohlfahrtsstaat und hat speziell in der Bundesrepublik Deutschland die Aufgabe, den Gedanken der Selbstverantwortung und Selbstorganisation zu befördern, da unser Staat noch immer mit zu vielen Erwartungshaltungen konfrontiert ist (siehe dazu die aktuelle Kommunitarismus-Diskussion). 6. Freiwilliges Engagement braucht Förderung, verträgt aber keine Domestizierung. Es gibt mehr freiwilliges Engagement in unserer Gesellschaft als bekannt ist und geglaubt wird. Große Teile dieses Engagements entziehen sich der institutionellen Erfassung und Regulierung und das ist gut so. Der erkennbare Versuch, dieses Engagement als „Sparbüchse“ nutzbar zu machen und Freiwillige als billige Arbeitskräfte zu nutzen, wird aber scheitern, weil Motivation und Differenziertheit des Engagements dies nicht zulassen. Dem steht nicht entgegen, daß begrenzte „Dienstzeiten“, wie im Zivildienst, im Freiwilligen Sozialen Jahr jetzt und auch in Zukunft akzeptiert werden, vor allem, weil sie sinnvolle Erfahrungen für die weitere Lebensperspektive vermitteln. 7. Freiwilliges Engagement unterliegt nicht mehr der Verfügbarkeit von Organisa-

tionen, was diese häufig mit „rückgängigem ehrenamtlichen Engagement“ verwechseln. Freiwilliges Engagement im Sinne von Mitwirken und Mitgestalten erfordert partnerschaftliche und offene Strukturen. 8. Freiwilliges Engagement braucht Offenheit, Nähe, Partnerschaft, Identifikation, muß also viele Möglichkeiten des Engagements, ob selbstorganisiert oder professionell gesteuert, vorfinden. Nicht Eindimensionalität oder ideologische Vorstellungen motivieren, sondern Vielfalt und Förderung der Eigeninitiative. 9. Freiwilliges Engagement braucht nicht immer, aber immer mehr professionelles Wohlwollen, Unterstützung und Begleitung. Dies erfordert regionale, örtliche, bürgernahe, allgemein akzeptierte Strukturen. Vorhandene Institutionen müssen sich für freiwilliges Engagement (nicht nur verbal) öffnen und für die Bürger transparent werden, sowohl die einzelnen Einrichtungen als auch die sie tragenden und entscheidenden Strukturen. Wo vorhandene Strukturen nicht ausreichen, müssen gegebenenfalls neue Strukturen zur Förderung freiwilligen Engagements geschaffen werden: in der Regel durch Verbundsysteme, die Ressourcen bündeln und die notwendige Transparenz herstellen. Diese neuen Strukturen können auch „virtuell“ sein, d.h. sie müssen nicht unbedingt institutionalisiert werden, aber sie müssen den örtlichen und regionalen Bedingungen entsprechen. Nicht oder nur bedingt geeignet sind „Arbeitsämter für ehrenamtliche Mitarbeiter“, die kopflastig und basisfern arbeiten und die bestehenden Strukturen nicht verändern, sondern als Alibis in die Landschaft gestellt werden (in allbekannter Eintracht von Politikersatz und legitimatorischer Begleitforschung). 10. Freiwilliges Engagement braucht professionelle Unterstützer für Beratung, fachliche Begleitung und Schulung. Ansprechpartner und aktive Werber für freiwilliges Engagement braucht jede Institution im sozialen Bereich. Diese Ansprechpartner müssen für ihre Aufgaben vorbereitet und ausgebildet werden: - Sie müssen aktiv ansprechen können, - sie müssen Freiwillige beraten, unterstützen, Enttäuschungen auffangen, - sie müssen den Erfahrungsaustausch der Freiwilligen organisieren und fördern, - sie müssen Fortbildungen anbieten und bereithalten sowie Freiwillige qualifizieren,

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- sie müssen Institutionen und professionelle Mitarbeiter für freiwilliges Engagement öffnen. 11. Freiwilliges Engagement gedeiht auf Dauer nur dort, wo Institutionen für ein hohes Maß an Eigeninitiative und Engagement offen sind und die Bereitschaft besteht, Freiwillige unkompliziert in Mitwirkungsund Verantwortungsstrukturen einzubinden. 12. Freiwilliges Engagement bedarf der Anerkennung. Die wichtigste Form der Anerkennung ist es, freiwilliges Engagement nicht mehr als „5. Rad am Wagen“ anzusehen, sondern es als konstitutiv für eine offene, demokratisch organisierte und vom Gestaltungswirken der Bürger getragene Gesellschaft anzuerkennen. Selbstverantwortung und Selbstorganisation leben von der Freiwilligkeit. Sie zu fördern ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe. 13. Freiwilliges Engagement ist kein Ersatzarbeitsplatz für Arbeitslose - alle Versuche, Strukturen zu entwickeln, die „sinnvolle“ Beschäftigung (oder Beschäftigungstherapie) für Arbeitslose an Stelle von Arbeitsplätzen schaffen sollen, diskreditieren in Wirklichkeit freiwilliges Engagement. Das heißt nicht, daß nicht auch Arbeitslosen mehr Chancen für freiwilliges Engagement geboten werden sollten. Aber Arbeitslosigkeit wird nicht durch Schaffung zusätzlicher „Freiwilligenarbeitsplätze“ bekämpft. 14. Freiwilliges Engagement braucht Öffentlichkeit, seine Vielfalt auch die Bündelung, und seine gesellschaftliche Bedeutung erfordert finanzielle Förderung. Es muß darüber nachgedacht werden, Stiftungen bürgerschaftlichen Engagements zu gründen, die Selbsthilfe, Nachbarschaftshilfen, Erfahrungswissen, soziales Engagement in jeder Form begleiten und fördern, vor allem aber die strukturellen Voraussetzungen verbessern, z.B. durch die Schaffung von Bürgerhäusern, Stadtteilzentren, Nachbarschaftsinitiativen. Je mehr Aufgaben auf die freie Wohlfahrtspflege zukommen, desto eher benötigen wir das innovative Potential freiwilligen Engagements! Wohlfahrtsverbände müssen daher in freiwilliges Engagement investieren: in Öffentlichkeitsarbeit und in die Ausbildung und Qualifizierung geeigneter Mitarbeiter.


Das Ehrenamt zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Ehrenamtliche als Sparfaktor? Eine polemische Betrachtung

von Jürgen Altmann

Die gegenwärtige Gesellschaft postuliert unüberhörbar und unübersehbar ihre Wertvorstellungen: Die Anhäufung und geschickte Vermehrung von Geld und materiellen Werten. Kann dies nicht durch verzinsliche Anlagen oder durch den Erwerb von Immobilien geschehen, dann sollen wenigstens „Schnäppchenangebote“ und Rabattkäufe das „Sparen durch überlegtes Ausgeben“ suggerieren. Dazu müssen nichtvorhandene Bedürfnisse geweckt werden, deren Befriedigung dann über die „Zugehörigkeit“ zu einer imaginären Gruppe „modern orientierter“ Menschen entscheidet. Natürlich fördert eine so gesteuerte Konsumption die Vereinzelung der Konsumenten; ja selbst die mit Hilfe neuer Medien betriebene Kommunikation setzt Individualisierung voraus, ehe mit dem Telefon oder im Internet kommuniziert wird. Alles aber hat seinen Wert - ablesbar am Preis; Wertvorstellungen sind mithin in erster Linie Preisvorstellungen, das Wort „unentgeltlich“ kommt da nicht vor.

Diogenes soll gesagt haben, als er in Begleitung über den Markt von Athen schritt: „Oh, wie vielfältig sind die Dinge, derer ich nicht bedarf.“ Er konnte sich das erlauben - wie man weiß, wohnte er zeitweilig in einer Tonne, seine Wertvorstellungen als antiker griechischer Philosoph waren mithin andere, sie waren in seiner Gedankenwelt zu finden. Was hätte die heutige Gesellschaft jemandem wie ihm zu bieten, jemandem also, der seinen Gewinn im Verzicht sieht, der seinen Lebenssinn nicht im materiellen Wohlstand findet, der wohltuende und nützliche Ausweichmöglichkeiten sucht? Genau: das Ehrenamt! Und wo wäre dies - neben anderem besser anzusiedeln als auf dem sozialkulturellen Gebiet und folgerichtig im Nachbarschaftshaus? Hier finden sich mannigfaltige Möglichkeiten. Unterschiedlich nach Alter, Geschlecht, sozialer Herkunft, Bildung, Fähigkeiten und Neigungen kann sich jeder in ein - auch durch sein Mittun - funktionierendes Ganzes einbringen. Er wird dafür nicht bezahlt; sein „Lohn“ ist vielmehr das Treffen Gleichgesinnter, das schöne Gefühl zu helfen, Fertigkeiten zu vermitteln und selbst zu erlernen, Ersatz für fehlende Familie, für den Mangel an Freunden, an sozialen Kontakten zu finden; kurz: nützlich, geachtet und anerkannt zu sein ist für den Ehrenamtlichen Grund genug,

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gemeinnützig zu arbeiten. Diese in unserer Zeit selten gewordene menschliche Eigenschaft wurde rasch von gesellschaftlichen und politischen Gremien erkannt und zunehmend instrumentalisiert. Listig wurden und werden Grundsätze, Verträge, Bedingungen, zu erfüllende Voraussetzungen für Anerkennung und Förderung formuliert, die das Ehrenamt nötig machen. Helfend, erklärend und bewertend dienen dazu Begriffe wie Demokratie, Subsidiarität, Bürgerengagement. Auch die finanzielle (seltener: die ideelle) Förderung von ausgewählten Projekten und der Weiterbildung Ehrenamtlicher steht dem zur Seite. Wieso auch sollte hier der institutionalisierte Zwang zum Sparen und der Wille, viel Leistung für möglichst wenig Geld zu bekommen, verleugnet werden? Hier nämlich läßt er sich am leichtesten durchsetzen. Zudem enthält der Begriff „Ehrenamt“ gleich zwei Komponenten, die anziehend sind: das „Amt“ (im deutschen seit jeher mit „Solidarität“, „Anerkennung“ und „Befugnis“ assoziiert) und die „Ehre“ (im großen und ganzen ebenfalls positiv besetzt). Die Franzosen benennen jene, die „ehrenamtlich“ arbeiten, bénévoles, die „Wohlwollenden“, die aus Neigung willentlich mittun.

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Die Wirklichkeit (aus meiner Sicht) und nur die im Rabenhaus, dem Köpenicker Nachbarschaftshaus, kann stellvertretend für zu beobachtende Tatbestände herangezogen werden - ist gekennzeichnet durch den weitestgehend unverzichtbaren Einsatz ehrenamtlicher Mitarbeiter. War das Rabenhaus bereits von Beginn an als „Sparmodell“ konzipiert, so wurde es im Verlauf der Jahre durch die Kürzung hauptamtlicher Stellen (es sind jetzt anderthalb statt der ursprünglich zwei, aber eigentlich benötigten drei) noch „verschlankt“. Aus der Not wurde eine Tugend und diese Tugend wiederum notwendig für den Fortbestand der Einrichtung. Natürlich fühlen sich ehrenamtliche Mitarbeiter motiviert angesichts des umfangreichen ehrenamtlichen Einsatzes der Hauptamtlichen, die „neben“ ihrer immensen Tätigkeit beispielsweise noch die (zum Teil von ihnen selbst bezahlte!) Betreuung von Feriencamps übernehmen. Einzigartig dürfte auch der Umzug des Rabenhauses von der Borgmannstraße in die Puchanstraße sein: Mit notwendiger Renovierung und zweckmäßiger Einrichtung geschah dies fast ausschließlich durch den Arbeitseinsatz, durch Material- und Geldspenden von Vereinsmitgliedern und ehrenamtlichen Mitarbeitern. Mit Recht ist das Rabenhaus stolz auf das Engagement seiner Ehrenamtlichen und auf die durch sie und die Hauptamtlichen ehrenamtlich erarbeiteten Ergebnisse. Und so ist längst ein subjektives Wollen (ein „Wohlwollen“ wie - wir erinnern uns - die Franzosen es bezeichnen) der Ehrenamtlichen zu einer objektiven Notwendigkeit geworden. Auch eine mentale „Wohlfühlsituation“, die sich im Verlauf der Zusammenarbeit einstellen mag, kann die inzwischen eingetretene Realität nicht widerlegen: Ein anfängliches „Möchten“ wird zum „Müssen“, um den Gang des Ganzen aufrechtzuerhalten, um Verstimmungen und Enttäuschungen zu vermeiden. Person und Persönlichkeit des Ehrenamtlichen prägen Aktivitäten und Angebote - in jedweder Hinsicht; individuelle Vielfalt und subjektive Grenzen markieren folglich Projekte und Kurse. Das betraf den deutsch-französischen Austausch (der ohne die ehrenamtliche Begleitung durch einen ehemals hauptamtlichen Mitarbeiter nicht weiterzuführen gewesen wäre) ebenso wie es Medienwerkstatt und Computerangebote, künstlerisches Gestalten oder Mal- und Zeichenkurse betrifft.

Aus all den genannten Gründen und Überlegungen (und der noch zahlreichen ungenannten) setzt sich immerhin - wie ich kürzlich im Wahlprogramm einer großen Linkspartei las - diese „für eine gesellschaftliche Aufwertung des Ehrenamtes“ ein. Dabei „distanziert sie sich deutlich von Auffassungen von Teilen der in Berlin regierenden Parteien, die das Ehrenamt als Alternative zum Rückzug des Staates aus seinen Pflichtaufgaben mißbrauchen wollen“. Und weiter heißt es: „Das freiwillige, unbezahlte und gemeinnützige ehrenamtliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger kann bezahlte Arbeit nicht ersetzen.“ Darüber darf zumindest nachgedacht werden. Und dies auch unter dem Aspekt, daß ehrenamtliche Mitarbeiter normalerweise die ständige Möglichkeit zum Rückzug aus ihrer unbezahlten Arbeit haben (sollten), die Lebensfähigkeit langjähriger Projekte dagegen von ihrer Planbarkeit und also der uneingeschränkten Verfügbarkeit bezahlter Mitarbeiter abhängt. Der Verfasser dieses Beitrages arbeitet übrigens selbst seit längerer Zeit ehrenamtlich; er entzieht sich damit dem Verdacht, mit einem gewaltsam herbeigeführten Mißton das Hohelied vom Ehrenamt trüben zu wollen. Es soll lediglich dazu angeregt werden, Text und Noten dieses Liedes genau zu prüfen, ehe man sich entschließt, laut mitzusingen.

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