revue 2020/23

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LIFESTYLE   53

Neue Startaufstellung Zu behaupten, Covid-19 hätte auch sein Gutes, wäre wohl maßlos übertrieben, aber die wochenlange Selbstisolation im stillen Kämmerlein hat zumindest dazu geführt, dass die Öffnung der Kneipen-Terrassen trotz Einschränkungen bei Tischwahl und obligatorischem Sitzplatz zum sozialen Highlight avancierte.

Wir stehen erst mal wie bestellt und nicht abgeholt in der Landschaft rum, wollen ein erstes Mal prosten, und schon ist es vorbei. „Ihr müsst euch setzen, tut mir leid, aber das ist so“, sagt ein auf der Terrasse sitzender Mann mit freundlicher, aber keineswegs zweideutiger Stimme. „Das sind die Vorschriften, ihr wisst schon“, sagt er und zeigt auf eine Bank aus Paletten gegenüber von einem Bikertypen, der eine Flasche Bier vor sich auf dem ebenfalls aus Paletten gezimmerten Tisch mit seiner tätowierten Hand liebkost. Also setzen und keine Fisimatenten machen. Endlich können wir die zwei Humpen zum Glockenspiel machen. Klinggg… „Skol“, sagt der eine, „Slainte“, antworte der andere und erspäht bekannte Gesichter am Nebentisch – oder vielmehr der Nebenpalette. „Cheers Leute, wann macht denn das Pitcher eigentlich auf?“, will einer wissen. „Am Dienstag oder Donnerstag, der hat ja keine Terrasse…“ „Aber da ist doch eine Baustelle vor der Tür, vielleicht bekommt er eine.“ „Nee, da werden jetzt die Walk of Fame-Gedenktafeln für die ganz guten Stammkunden hingelegt. Ich habe meinen Namen ganze vier Mal dort stehen

sehen, und deinen nicht einmal, du musst dich in Zukunft vielleicht etwas mehr anstrengen.“ Ein neuer Gast will sich am Nebentisch breitmachen, aber da ist, Social Distancing hin, Sicherheitsabstand her, kein Platz mehr. Der Vordenker der Gegenpartei, ein bärtiger „Educateur“ ergreift, wie es seine Ausbildung von ihm verlangt, sofort die Initiative: „Darf er sich zu euch setzen?“ „Natürlich darf er das, sobald er die Pandemie-Hefe-Steuer bezahlt hat. Du weißt ja, das ist wie bei den Luden am Kiez, erst wird artig die Stecke abgedrückt.“ Nach fünf Minuten auf der Terrasse des „Escher Kafé“ in der rue du Clair-Chêne, wo Schatten spendende Platanen Spalier stehen und der Autoverkehr an diesem Tag zu einem symbolisch-sporadischen Akt verkümmert ist, hat sich das Ambiente ruckzuck auf Vor-Corona-Niveau eingependelt. Es wird gelacht, gebechert und eine Menge therapeutischer Stuss geredet. War wohl doch ein bisschen lang, die Sache mit der Isolation. Und es fällt auf: Niemand verliert ein einziges Wort über die Pandemie an sich. Die Zeitungen, die Glotze, das Radio, alle hatten sie nur das Eine im Sinn, tagein, tagaus, jetzt scheint jeder die Nase gestrichen voll davon zu haben.

Ein neuer Gast will sich am Nebentisch breitmachen, aber da ist, Social Distancing hin, Sicherheitsabstand her, kein Platz mehr.


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