revue 2020/23

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Auch die Themen Gewalt und Missbrauch werden von ESA einbezogen. Oft kommen die Jugendlichen schon selbst darauf zu sprechen, wobei es im Klassenverband jedoch nie um persönliche Erfahrungen gehen darf, sondern nur um die Definition, ab wann ein Missbrauch Missbrauch ist und wie man lernt, nein zu sagen. Natürlich reichen ein paar Stunden nicht, um aus allen Jugendlichen verantwortungsvolle und aufgeklärte junge Menschen zu machen. Das wissen auch Sandra Michely und ihre Kolleg*innen. Doch sie können eine erste Verbindung herstellen, ein Herantasten an ein Thema, das leider noch immer für viele Erwachsene ein großes Tabu darstellt. Die Experten wünschen sich, dass mehr Schulen von ihrem Angebot Gebrauch machen würden, um Jugendlichen so viele Möglichkeiten wie möglich zu geben, ihre Körper besser kennenzulernen und das Thema zu enttabuisieren. Für Dr. Christel Baltes-Löhr, Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Luxemburg, sind Sexualerziehung und -wissenschaft spannende Themen. „Leider wird das Thema noch immer tabuisiert“, sagt sie. Selbst unter Freunden und Freundinnen tausche man sich nicht darüber aus. „Mit wem redet man schon über seinen letzten Orgasmus?“, fragt sie. Gute Sexualerziehung hält die Wissenschaftlerin für sinnvoll. Externe Dozent*innen dafür an Schulen kommen zu lassen, überzeuge sie hingegen nicht. Das dramatisiere das Thema, anstatt es zu entspannen. Ein großes Forschungsthema der Professorin ist die stereotype Darstellung

von Geschlechtern. „Viele Schulbücher und auch der offizielle Internetauftritt des Großherzogtums gehen bislang noch immer von einer Binarität, einem Zweigeschlechtersystem von heterosexuellen Männern und Frauen aus“, sagt sie. „Und so lernen es auch die Kinder: Sexualerziehung geht meistens mit einer unreflektierten Reproduktion der Geschlechterstereotype einher.“

Die WHO empfiehlt eine ganzheitliche Sexualaufklärung. Dabei geht es ihr nicht nur darum, alle anderen Geschlechtsformen wie Transgender, intergeschlechtlich, queer, A-Gender (Menschen ohne geschlechtliche Zuordnung) daneben zu stellen. Sie kritisiert zudem die tradierte Kategorisierung von Frauen und Männern, basierend auf der oftmals strikten Einteilung in physische, soziale und psychische Merkmale. Mit dem Mann- und dem Frausein werden immer noch Rollenbilder vermittelt, die nicht der Realität entsprechen und in denen sich viele Menschen – sowohl alte als auch junge – nicht wiederfinden, weil sie sich anders als das gängige Klischee es vorgibt – im schlechten Fall unpassend – fühlen und wahrnehmen. „Sobald man über Geschlechter spricht, ist man ganz nah am Menschen“, sagt Baltes-Löhr und sieht darin eine

Chance. Kinder und Jugendlichen spüren, dass sich ihr eigener Körper verändert. Viele suchen Antworten im Internet. Dort gibt es unendlich viele Infos, richtige und falsche, gute und schlechte. Kinder zu erziehen, bedeute für alle am Erziehungsprozess Beteiligten, kindliche Fragen ernst zu nehmen, Antworten zu geben und die Kinder mit ihren Fragen, Gefühlen und Gedanken nicht allein zu lassen. „Für viele Eltern ist es fast unmöglich, mit ihrem Kind über Sex zu sprechen, weil das Thema sehr viel mit ihnen selbst zu tun hat. Für den – im besten Fall – intimen und lustvollen Akt der Zeugung gibt es bislang gegenüber dem aus gerade dieser Begegnung entstandenen Kind, das nun fragend vor der Mutter, dem Vater oder beiden steht, wenig Raum, weniger Vorbilder. Wenn Eltern aber in ihrer eigenen Entwicklung das Thema „Sexualität“ entdramatisiert haben, können sie besser mit ihren Kindern reden.“ Wichtig sei dann aber, fügt Baltes-Löhr hinzu, dass der Impuls zum Gespräch und die Gesprächsführung beim Kind oder Jugendlichen selbst liegen, man ihnen das Thema also nicht aufdrängt und auch wirklich nur die Fragen beantwortet, die das Kind oder den Jugendlichen beschäftigen. Und wenn man etwas nicht weiß, sollte man es auch offen zugeben. Denn Kinder bemerken sowieso – fast – jeden Bluff. Und sicherlich auch die bei den Eltern auftretende Scham, die sich das Kind nicht erklären kann, aber möglicherweise selbst übernimmt.  Text: Heike Bucher   Fotos: highwaystarz (Adobe Stock), ESA-Planning Familial, Freepik, a4stockphotos, jackfrog (beide Adobe Stock)


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