Go 06/11: Verantwortung

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weit weg

GO # 06/11

Seenomaden In jedem Hafen kommen neue Mitreisende an Bord, die für ein paar Tage bleiben. Ihre Klamotten trocknen sie am Kai und Geld verdienen sie mit selbstgebasteltem Schmuck. Für Sicherheitseinweisungen bleibt immer weniger Zeit

 Wellen Mauern. Vom Motor kommt noch immer nicht mehr als

ein Würgen. Johannes will verhindern, dass sie auf Grund laufen und kurbelt das Schwert hoch. Die Taube verliert ihren Schwerpunkt, die Wellen werfen sie wie Treibgut hin und her. Manche sind schon höher als das Boot lang ist und, schlimmer noch, sie beginnen zu brechen. Einer will einen Hilferuf absetzen, bleibt aber ungehört, das Funkgerät ist außer Betrieb. Gerade als der Motor anspringt und die Schiffsschraube sich zu drehen beginnt, kracht eine Welle aufs Deck, zerschlägt das ungeschützte Plexiglasfenster zur Kajüte. Wasser drückt herein, spült die Lache vom Eingang und reißt mit sich, was es kriegen kann. Dhara rennt nach oben. Jemand ruft “where is Sol?” und ein anderer antwortet “sie ist hier!”. Der Moment dehnt sich unwirklich lange, zieht sich wie alter Schiffsteer, wie immer, wenn man mittendrin steht und spürt, dass etwas Schreckliches im Gange ist. Dhara denkt noch darüber nach, warum Sören nicht auf Englisch antwortet, da wird sie mit der nächsten Welle in den schwarzen, januarkalten Atlantik gerissen. Sie bekommt eine Isomatte zu fassen, krallt sich an ihr fest. Die Brecher schlagen ihr blaue Flecken unter die Haut und reißen ihr die Klamotten fort. Doch von den hohen Wellen kann sie den Strand anpeilen. Sie hat seit einem Tag nichts gegessen oder getrunken. Nur gespuckt, immer wieder. Trotzdem schafft sie es an die rettende Küste. Als einzige von sieben. Sol und eine slowenische Mitfahrerin werden Tage später gefunden, tot, von Johannes und den anderen drei fehlt jede Spur. Auf einem normalen Schiff wäre Johannes, der Skipper, weitergefahren und es hätte eine klare Hierarchie gegeben und keine Mehrheitsentscheide in stürmischer See. Aber die ‚Taube’ war kein normales Schiff. Johannes entschied, dass alle zu entscheiden hätten und befahl die Regellosigkeit. Es gab keinen Zeitplan,

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nur ein vages Ziel: Südamerika. Die Crew vertraute ihrem Steuermann mit den grünen Piratenaugen. Wie sollten sie sich auch eine Meinung bilden, keiner von ihnen hatte Segelerfahrung. Johannes war der einzige mit Sportbootführerschein. Er hatte ihn zwei Jahre zuvor extra für diese Fahrt gemacht, auf dem Bodensee, und die Taube in den vergangenen neun Monaten von Sønderborg in Dänemark bis nach Marokko gesteuert. 1800 Seemeilen weit. Er hatte den gefürchteten Golf von Biskaya gekreuzt, den Ärmelkanal bei acht Windstärken gequert und die Straße von Gibraltar durchsegelt. Die Crew, die keine war, weil sie in jedem Hafen neu zusammengewürfelt wurde, vertraute ihrem Skipper, dem See-Nomaden, der auf dem Boot zu Hause war. Der es immer wieder schaffte, lastwagenweise Nahrungsspenden aufzutreiben, eine Sicherheitsfirma überredete, ihnen sieben Schwimmwesten zu überlassen und jeden Hafenmeister um den Finger wickelte, um die Liegegebühren zu sparen. Der vor Energie und Begeisterungsfähigkeit

überquoll und deshalb nicht in eine Wohnung mit anderen MenMigrobirdo bleibt sechs Wochen für die Reparatur. Solange schen passte, denn jeder mag Begeisterung, aber nur sehr wenige hat der Vorbesitzer den Werftplatz für das Bastlerobjekt vorbehalten sie dauerhaft aus. Seine Energie genügte, um das Projekt zahlt. Kaum ein Außenstehender glaubt daran, dass die schrottzu tragen. Sie war so überbordend, als hätte sie von ihrer kurzen reife Taube die Werft je verlassen wird. Manch einer räumt schon Lebenszeit gewusst. Johannes wurde 24. in Gedanken Platz frei im Garten der Steinlach48. Für die RepaBegonnen hat alles in der Steinlach48, einem dieser Tübinger raturen hat der Verein kein Geld, dafür aber eine Menge zupaHäuser, das den Vermietern irgendwann entglitten ist. Einst ver- ckender Arme. Die schleifen den alten Lack runter, flicken das mietet an anständige Studenten, die sich ihre Mitbewohner selbst Loch im Rumpf, feilen das Schwert frei und bringen den Motor aussuchen durften, wird es zum linken Treffpunkt, und ehe der zum Laufen. Die Werftarbeiter staunen über den bunten, unorVermieter Eigenbedarf sagen kann, steht der mittlerweile Kult ganisierten Haufen, warnen ihn aber eindringlich davor, mit dem gewordene Hausname an die Wände gesprüht, man wohnt zu dritt auf Zuhause verfolgen besorgte Freunde die Reise des Schiffs per Internet. fünfzehn Quadratmetern im Keller, entsorgt das schimmelnde Geschirr Sie scharen sich um die jeweils auf dem Dachboden und sammelt neuesten Nachrichten wie um einen Weltempfänger im Krieg Sperrmüll im einstigen Garten. Ein wundervoller Ort. Dort sitzt also Johannes in der Küche, um den Kopf das rote Stirnband, das er immer trägt, wes- Kahn woanders als in der küstennahen Ostsee zu segeln, sollte er halb ihn die einen Stirnband-Johannes nennen, in der Hand den überhaupt jemals schwimmen. Allmählich bildet sich in TübinMate-Tee, den er immer trinkt, weshalb ihn die anderen Mate- gen ein kleiner Chor von ernsthaft Besorgten, der sich um den Tee-Johannes nennen, und am Leib den Strickpullover, den Vereinsblog schart wie um einen Weltempfänger im Kriegsgebiet. er schon in der Schule trug, der ihm aber keinen Spitznamen Am 16. Oktober 2007 sticht die Taube in See. Im Novemeingebracht hat, und verkündet: Wir segeln nach Südamerika! ber soll die Reise zu den Kanaren beginnen, Migrobirdo liegt im Draußen verschwimmt der Gartenschrott im Nebel; es ist der Zeitplan. Zu Hause reibt man sich verwundert die Augen, kaum 13. November 2006. Johannes und Lolo gründen den Verein einer hatte geglaubt, dass sie je so weit kommen würden. Doch Migrobirdo, das Esperanto-Wort für Wandervogel. Livi und schon im Nord-Ost-See-Kanal verliert die Crew die Kontrolle Melina gehören zum engen Kreis. Livi soll den Kontakt zu brasilianischen Straßenkünstlern herstellen. Melina ist zwar schwanger, will aber trotzdem mit und ihr Kind auf See oder in einem Krankenhaus auf dem Weg zur Welt bringen. Ihrem Verein für Ökologie und Völkerverständigung geben sie das Motto Segeln in/für eine andere Welt. Es klingt wie eine nette Idee, statt mit dem Flugzeug zum Zapatisten-Camp zu jetten, will Migrobirdo im Einklang mit der Natur, in angemessener Geschwindigkeit und mit minimalem Budget reisen, um vor Ort Hilfsprojekte zu unterstützen. Wer von dem Verein erfährt, belächelt die jungen Idealisten und wünscht wohlwollend gutes Gelingen. Nach wenigen Wochen ist der Keller der Steinlach48 verstopft. Säckeweise Linsen und Kokosflocken lagern dort, gespendet von Bio-Firmen. Jede Woche kochen sie von den Massen für Freunde und Freunde von Freunden. Doch der kostbare Proviant droht Steuermann Angst kennt Johannes nicht. Obwohl an Bord oft Chaos herrscht, im feuchten Gemäuer zu vergammeln. Ein Boot muss her. Viel hält er die ‚Taube’ bis zuletzt auf Kurs Geld ist nicht da, und so fällt die Wahl für die Atlantiküberquerung auf “ein billiges verfallenes Schiffchen”. Am 4. August 2007 über ihr Schiff und havariert beinahe. Der Chor schwillt mahersteigert Johannes die ‚Taube’ bei eBay. Baujahr ‘71, Kaufpreis nend an; Migrobirdo erkennt, dass ihnen die Erfahrung fehlt, deutlich unter zweitausend Euro. Nur für Bastler!, betont der Ver- macht kehrt und fährt die ‚Taube’ ins Winterlager nach Kappeln; käufer. Als Mängel führt er auf der Auktionsseite an: Motor läuft der Chor wird leiser. Winterpause. nicht, Schwert sitzt fest, Elektronik funktioniert nicht, Rumpf Für die Beteiligten von Migrobirdo geht das Leben weiter, hat ein Loch, Segel nicht vorhanden und, in großen Lettern: Das während die ‚Taube’ Winterschlaf hält. Perspektiven verschieben Boot ist nicht fahrtüchtig! sich, die Vereinsspitze bröckelt. Melina hat ihr Kind in einem  125


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