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Lügen tut man nicht!

Vor ein paar Wochen hat meine siebenjährige Tochter ihren fünften Milchzahn verloren. Traditionsgemäss legten wir das kostbare Stück am Abend unter ihr Kissen und warteten auf den Besuch der Zahnfee.

Am nächsten Morgen lag dort eine Münze mit einem kleinen Briefchen: «Von der Zahnfee» stand da drauf, alles bestens. Bis plötzlich unser schlaues Kind die Schrift wiedererkannte. Schleunigst verglich sie den geschriebenen Gruss mit einem Notizzettel auf dem Pult, und es stimmte tatsächlich mit Papas Handschrift überein. Wir sind aufgeflogen: «Ihr könnt mich nicht mehr ver**schen» bekamen wir zu hören.

Text: Lea Imhof | Illustration: Vera Kobler

Wie fühle ich mich nun als Elternteil, der sein Kind angelogen hat, wenn wir ihr doch immer wieder einbläuen, sie solle ja immer die Wahrheit sagen? Müssen wir jetzt auch den Samichlaus, das Christkind und den Osterhasen auffliegen lassen? Spielen wir erst dann mit offenen Karten oder entziehen wir unserem Nachwuchs eine wichtige, magische Welt?

Wir dürfen von den Kindern nicht immer erwarten, dass sie uns die Wahrheit erzählen.

Mit einem Dozenten der PH Zürich habe ich eben diese Frage kurz durchdiskutiert: Wie reagierte er auf die Feststellung, dass es den Osterhasen gar nicht gibt? Traurig, enttäuscht, frustriert – aber es war nicht an seine Eltern gerichtet. Eher auf die Tatsache an sich, dass dieses Fabelwesen gar nicht existierte. Bei mir war es genauso. Wie dem auch sei, dürften wir demnach von den Kindern nicht erwarten, sie müssten uns immer die Wahrheit erzählen, wenn wir ihnen den Osterhasen vorgaukeln – welch Paradoxie! Und was soll das mit elterlichen Aussagen wie: «Wenn du zu viel Fernsehen schaust, bekommst du viereckige Augen!»

Das Erlernen von lügen ist eine sehr wichtige Entwicklung eines Kindes.

Okay, wir lügen unseren Nachwuchs an. Wir sind die Eltern, das ist Teil der Erziehung (reden wir uns ein). Aber wie sauer werde ich, wenn meine Tochter darauf schwört, nicht die letzte Glace gegessen zu haben oder dass sie einen «Räuber» auf dem Spielplatz beobachtet hat, der mit einem Messer in der einen und einem Sack für Kinder in der anderen Hand sein Unwesen treibt. Zudem werden diese Ansichten in der Märchenwelt von einem allseits bekannten hölzernen Jungen unterstützt: Pinocchio. Und die Moral von der Geschicht: Lügen tut man nicht! Dabei ist das Erlernen von lügen eine sehr wichtige Entwicklung eines Kindes. Um den Unterschied zwischen Wahrheit und Fantasie erkennen zu können, bedarf es an einer gewissen Reife. Das bewusste Mogeln wird im Alter von etwa vier Jahren ermöglicht, da sich die dafür nötigen Nervenbahnen anfangen zu entwickeln. Ein Bericht erklärt ausserdem, dass die Lügenqualität mit dem Stand der geistigen Entwicklung zusammenhängt.

«Eine Täuschung gelingt nur, wenn wir uns in unser Gegenüber hineinversetzen können. Um lügen zu können, muss man eine Vorstellung davon haben, was der andere schon weiss»². Anders gesagt, die Entwicklung der «Theory of Mind» (Siegler lässt grüssen). Es geht hier also um Empathie – ein eigentlich positiver Charakterzug. Jener Bericht setzt sogar noch einen obendrauf und erklärt, wenn ein Kind vor dem vierten Lebensjahr bereits lügt, hat sich sein oder ihr Gehirn schneller als üblich entwickelt und wird demnach im Erwachsenenleben eher erfolgreich sein. Bevor wir also unsere Kinder wegen lügen bestrafen, sollten wir uns erstens überlegen, was hinter der Lüge genau steckt. Hat das Kind eine blühende Fantasie und will uns Erwachsenen mal etwas Spannendes erzählen oder will es jemand anderen gar beschützen?

Wie oft lügen wir Erwachsenen eigentlich selbst im Alltag?

Und zweitens: Wie oft lügen wir Erwachsenen eigentlich selbst im Alltag? «Ja, mir geht es gut.», »Wow diese Rosenkohlterrine schmeckt ausgezeichnet!», «Aha, jetzt habe ich es verstanden!» Oder aber wir lügen aus Höflichkeit, sogenannten prosoziale Lügen. Immanuel Kant sagte eins: «Wenn wir uns alle immer die Wahrheit sagen würden, wäre die Gesellschaft unmöglich!»

Ein bisschen lügen hier und dort macht unser Leben ein wenig fantasievoller, sozialer und, da unser Schwindel mit der Zahnfee aufgeflogen ist, eventuell auch etwas günstiger.

Referenzen: www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/warum-kinder-luegen-muessen/ 2- (www.br.de/wissen/luegen-schwindeln-kinder100.html)

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