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Rückenwind für die Wende

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Klarheit schaffen

Klarheit schaffen

LEITARTIKEL | VON MICHAEL GNEUSS

Der Umbau der Energieversorgung hat vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine noch einmal eine neue Bedeutung bekommen. Der Ausbau der Kapazitäten für Wind- und Solarstrom wird beschleunigt. Gut möglich, dass auch die CO2-Emissionen in Deutschland nun stärker sinken, als es sonst der Fall gewesen wäre. Dennoch: Der Umbruch wird für die Wirtschaft und die Verbraucher umso härter.

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Es scheint, als wenn nichts mehr so ist, wie es einmal war. Energie ist für uns immer schon existenziell gewesen. Dass es mit der Versorgung wirklich einmal knapp und die Preise fast unbezahlbar werden würden, konnten wir uns kaum vorstellen. Mittlerweile wissen wir, dass Strom, Wärme und Benzin bei Weitem nicht so selbstverständlich sind, wie wir geglaubt hatten. Auch der Fahrplan zur Energiewende steht auf dem Prüfstand. Der Ausstieg aus der Kernenergie und ebenso der aus der Kohle scheinen nicht mehr in Stein gemeißelt zu sein. Gleichzeitig hat das Gas aber auch seinen Ruf als zuverlässige Brückentechnologie verloren. Jetzt, da die Knappheiten

Auch der Fahrplan zur Energiewende steht auf dem Prüfstand.

auf den Energiemärkten die Preise dramatisch ansteigen lassen, gerät leicht in Vergessenheit, dass die Abkehr von den fossilen Energien eigentlich schon lange das Ziel ist. Die Grausamkeiten des Krieges verdrängen aber aktuell die Gefahren des Klimawandels und die Herausforderungen der Klimaanpassung.

Green Deal und Digitalisierung

Die Energiesicherheit und eine möglichst hohe Unabhängigkeit von der Belieferung einzelner

Der Ausbau der erneuerbaren Energien muss beschleunigt werden.

Staaten müssen daher im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Klimawandel betrachtet werden. Der Ökonom und Zukunftsforscher Jeremy Rifkin, Gründer und Vorsitzender der Foundation of Economic Trends in Washington, spricht in diesem Zusammenhang sogar von der „dritten industriellen Revolution“, die für ihn aus der Digitalisierung und dem Green Deal besteht.

Grundsätzlich hat ein großer Teil der Unternehmen diese Themen schon vor der russischen Invasion auf der Agenda gehabt – und zwar mit hoher Priorität. Sie haben sich der doppelten Transformation verschrieben, also dem Umbau zu digitalen und nachhaltig wirtschaftenden Organisationen, die sich an ihren Erfolgen im Kampf gegen die CO2-Emissionen messen lassen werden. Diese strategischen Weichenstellungen in vielen Konzernen sind gerade vor dem Hintergrund der neuesten Verwerfungen an den Energiemärkten unumkehrbar. Auch Rifkin glaubt nicht, dass es zu einer Abkehr vom Ausstieg aus den fossilen Energieträgern kommen wird. Jetzt werde in der Europäischen Union erst recht am Abbau der Abhängigkeiten gearbeitet, meint er. Mit einem Comeback der Kernenergie rechnet er ebenfalls nicht. Einer der Gründe: Der Bau neuer Atommeiler dauert lange, auf jeden Fall länger als die Schaffung weiterer Kapazitäten für Wind- und Solarstrom.

bombermoon / iStock

Ausbau der Erneuerbaren beschleunigen

Von welcher Seite aus die gegenwärtigen Herausforderungen auch betrachtet werden: Der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien ist so oder so das Gebot der Stunde. Er senkt die Abhängigkeiten von fossilen Energieträgern und reduziert die CO2-Emissionen. Der Teil der Energiewende, der vor uns liegt, ist aber weitaus komplexer. Das gesamte Versorgungssystem muss renoviert werden. Benötigt werden Speicher, die den volatilen Strom auch in Dunkelflauten verfügbar machen, und eine Wasserstoffwirtschaft, die grünen Wasserstoff

„Die Energiewende als ,Mission Impossible‘?”

Fokusinterview Ob wir die Energiewende schaffen und das Ziel der Klimaneutralität erreichen, hängt von wenigen Erfolgsfaktoren ab, sagt Henrik Töpelt. Er ist Head of Energy bei der Drees & Sommer SE. Das Planungs- und Beratungsunternehmen hilft seinen Kunden in allen Sektoren, das Ziel der CO2Neutralität schnellstmöglich zu erreichen.

Wie würden Sie den Status der Energiewende einschätzen? Einerseits haben wir bereits viel erreicht, und die neue Bundesregierung bringt wichtige Impulse. Andererseits führen uns Energiepreiskrise und Ukrainekrieg vor Augen, wie umfassend die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern noch ist. Aktuell rücken Aspekte wie Bezahlbarkeit und Versorgungssicherheit wieder in den Fokus. Sie sind keine Selbstverständlichkeit.

Welches sind die größten Hindernisse? Über allem steht die Frage, wie die dringend benötigte Beschleunigung in verschiedenen Handlungsfeldern zu erreichen ist. Im Kern geht es um zwei Dinge: Fachkräfte und Finanzierung. Der Fachkräftemangel ist bereits heute eklatant. Zudem rechnen sich viele Investitionen erst mit staatlicher Förderung. Diese Tendenz wird sich noch verstärken.

Handelt es sich bei der Energiewende also um eine „Mission Impossible“? Nein, das würde ich nicht sagen. Wir benötigen jedoch mehr Konsequenz im Vorgehen und ein anderes Mindset. Der Schlüssel sind Skaleneffekte. Offshore-Windparks, Anlagen zur Erzeugung von grünem Wasserstoff, großflächige Solaranlagen oder Geothermiekraftwerke zur nachhaltigen Wärmeversorgung müssen „wie am

Henrik Töpelt, Head of Energy bei Drees & Sommer

Fließband“ entstehen. Wenn wir beim Umbau der Energieinfrastruktur in Einzelvorhaben denken und nicht stärker standardisierte Portfolio-Ansätze verfolgen, wird es mit der Zielerreichung eng.

Umfassende Transformation

Unternehmen stehen dabei vor einer Fülle an Herausforderungen, die es so wohl noch nie gegeben hat. Während sie noch inmitten der digitalen Transformation stehen, müssen nun auch der Green Deal und gleichzeitig der eklatante und wachsende Fachkräftemangel bewältigt werden. Das wird insbesondere Auswirkungen auf die Produkt- und Dienstleistungspalette haben. Als aussichtsreich für die Märkte der Zukunft gelten Güter, die zur Klimaneutralität beitragen und zum Beispiel in einer Kreislaufwirtschaft integriert sind. Zum Treiber der Entwicklung kann dabei auch die Finanzwirtschaft werden. Sie stellt Kapital vermehrt für nachhaltige Investitionsvorhaben bereit. Das heißt: Für Innovationen, die aussichtsreich zur Klimaneutralität beitragen können, sind die Finanzierungschancen gut. Und das ist immens wichtig. Denn jetzt werden neue Erfindungen gebraucht, die das künftige Energieversorgungssystem optimieren.

Dabei rücken auch die Wärme- und die Verkehrswende vermehrt in den Blickpunkt. Beide Bereiche wurden bislang stark vernachlässigt. Entsprechend hoch sind hier die CO2-Einsparpotenziale. Für den Gebäudesektor schätzt etwa Lamia Messari-Becker, Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen, dass schon mit kurzfristigen Maßnahmen etwa 25 Prozent des Energieverbrauchs eingespart werden könnten. Dazu kann auch die Modernisierung der verwendeten Heiztechnologien beitragen. Bislang liegt der Anteil der erneuerbaren Energien in der Wärmeversorgung erst bei 15 Prozent. Ein weiterer wirkungsvoller Hebel ist schlichtes Energiesparen. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) beträgt in der Europäischen Union die durchschnittliche Temperatur in beheizten Gebäuden rund 22 Grad Celsius. Würden wir nur auf ein Grad Celsius Wärme verzichten, würde es unverzüglich zu jährlichen Einsparungen von etwa zehn Milliarden Kubikmetern Erdgas führen. Es gibt also viele Möglichkeiten, mit der Energiekrise fertig zu werden. Jetzt gilt: einfach machen. 

Welche der folgenden wirtschaftlichen und energiepolitischen Maßnahmen halten Sie nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine für richtig/falsch?

Schnellerer und stärkerer Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland

Verstärkte Einfuhr von Öl und Gas aus Katar und SaudiArabien nach Deutschland

Einführung eines zeitlich befristeten Tempolimits auf deutschen Autobahnen

Aufhebung des geplanten Atomausstiegs zum Jahresende und Weiterbetrieb von Atomkraftwerken in Deutschland

Einfuhr von sogenanntem Fracking-Gas aus den USA nach Deutschland

9 %

30 %

38 % 58 %

57 %

38 %

53 %

45 % 41 % 87 %

falsch

richtig

Wer A sagt, muss auch B sagen

Gastbeitrag Mit der Ampelregierung sind Deutschlands Klimaziele deutlich ehrgeiziger geworden. Und was in Berlin beschlossen wurde, muss nun von den Ländern und Kommunen umgesetzt werden. Strom spielt bei der Energiewende eine Schlüsselrolle. Das ist nicht nur die Sichtweise des Übertragungsnetzbetreibers TransnetBW, sondern allgemein anerkannt. Die Strominfrastruktur steht jedoch vor großen Herausforderungen.

Erstens verlagert sich die Stromerzeugung räumlich. Ökostrom wird überwiegend in Küstennähe fern der Verbrauchszentren erzeugt. Deshalb muss Strom über weite Strecken transportiert werden.

Zweitens steigt der Strombedarf enorm, weil viele Sektoren mittels Strom dekarbonisiert werden sollen. Bis 2045 ist mit einer Verdoppelung des heutigen Bruttostromverbrauchs zu rechnen. Mehr als Klimaschutz Unser Stromnetz muss also dringend fit gemacht werden, um mehr Strom über weitere Strecken zu transportieren. Und das muss sehr schnell passieren – für die Energiewende, hinter der wir Deutschen als Gesellschaft stehen. Die Energiewende bedeutet nicht nur Klimaschutz, sondern auch energiepolitische Unabhängigkeit. Mittels erneuerbarer Energien weniger abhängig von Energie-Importen zu werden erscheint aktuell dringlicher denn je. Allerdings muss die dazugehörige Infrastruktur ebenso ausgebaut werden wie die Erneuerbaren-Erzeugungskapazitäten.

Bekenntnis zu Beschlüssen Nur: Dort, wo Stromleitungen gebaut werden sollen, ist man schnell dagegen. Das ist nachvollziehbar, und es ist gut, dass Betroffene angehört werden. Proteste dürfen aber nicht die Umsetzung demokratischer Beschlüsse blockieren. Auch die örtliche Politik muss sich der Verantwortung stellen. Die Energiewende ist gesellschaftlicher Konsens. Damit sie gelingt, braucht sie auch bei der Umsetzung ein klares Bekenntnis: Wer für die Energiewende ist, muss auch den Netzausbau mittragen.

Dr. Werner Götz, CEO bei TransnetBW Für Klimaschutz und energiepolitische Unabhängigkeit muss mehr erneuerbare Energie erzeugt und transportiert werden.

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