Michel Warschawski: Ist Antizionismus gleich Antisemitismus? (2003)

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heute große Bedeutung – z.B. in Frankreich. Antisemitismus einerseits und Kolonialismus andererseits sind zwei schwarze Flecken in der modernen Geschichte Europas (von älterer Geschichte möchte ich hier nicht sprechen), die es sehr schwierig machen, die konkreten politische Probleme der Gegenwart, sei es der Nahostkonflikt, das Irak-Problem, sei es der Rassismus gegen die arabische und muslimische Minderheit in Europa, zu behandeln. Das bringt mich zur dritten Frage – warum sich so viele Juden mit Israel identifizieren. Auch hier möchte ich widersprechen. Erstens ist der großen Mehrheit der Juden in Europa Israel völlig gleichgültig. Das Problem ist, dass diese Juden nicht als Juden organisiert sind. In den meisten Ländern reagieren sie als Staatsbürger dieser Länder und äußern ihre Meinung als Staatsbürger dieser Länder – zu allen möglichen Fragen, darunter zur israelisch-palästinensischen Frage, falls sie dazu überhaupt eine Meinung haben. Das Problem ist, dass die jüdischen Institutionen, die normalerweise zehn bis fünfzehn Prozent der Juden in den meisten großen Gemeinden vertreten (in kleinen Gemeinden, wie in Österreich, vertreten sie mehr), die jüdische Stimme, die jüdische Haltung zu Israel monopolisieren. Doch die meisten Juden sind überhaupt nicht in diesen Gemeinden organisiert. Deshalb gibt es in vielen Ländern, v.a. in den USA, neue Initiativen von Bürgern, die sich in der Vergangenheit nicht als Juden gefühlt hatten, sondern als Franzosen, Belgier, Italiener, z.B. unter dem Titel „Nicht in unserem Namen“ und „Als Juden verurteilen wir die israelische Politik“ und versuchen, das Monopol der selbst ernannten Vertreter der jüdischen Gemeinden zu brechen, da diese nicht die Gesamtheit der Juden vertreten. Doch das ist nur die Hälfte meiner Antwort. Der andere Teil meiner Antwort ist, dass es nicht ein Problem der jüdischen Gemeinden, sondern ein Problem Ihrer Gesellschaften ist, wenn man z.B. fernsieht oder Zeitungen liest – die Journalisten sind einseitig. Sie sind nicht hundertprozentig auf israelischer Seite, das kann man nicht sagen und sie sind sicher nicht auf der Seite der Palästinenser – aber im Allgemeinen sind sie eher auf der Seite Israels, auch wenn es sehr seriöse und ehrliche Journalisten sind. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe viel mit Journalisten zu tun. Sie verwenden israelische Argumente, den israelischen Sprachgebrauch, israelische Definitionen. Sie sagen oder schreiben z.B. „Palästinenser ermordeten zwei Israelis“ und „Israelis töteten zwei Palästinenser“; „palästinensischer Terror“ und „israelische Vergeltung“ – niemals ist von israelischem Terror und palästinensischer Vergeltung die Rede. Es handelt sich nicht um Menschen, die z.B. von der Jewish Agency bezahlt werden und fanatisch, ideologisch auf der Seite Israels stehen, ich spreche hier vom aufrichtigen österreichischen, deutschen, belgischen, italienischen, französischen Durchschnittsjournalisten, der sich unbewusst und spontan mit Israel identifiziert. Denn der Krieg zwischen Israel und den Palästinensern ist ein Krieg zwischen Norden und Süden, ein Krieg, in dem laut Herrn Bush und seinen Freunden in Europa Zivilisation und Barbarei aufeinander prallen und kämpfen. Ein Mensch aus dem Westen wird sich spontan – wenn er dem nicht bewusst politisch-ideologisch gegensteuert – stets mit dem identifizieren, der ihm selbst ähnlicher ist, und er wird sich gegen jene wenden, die wie die arabischen Jugendlichen aus der Vorstadt aussehen, die seine Normalität bedrohen. Nun zur Frage eines palästinensischen Staats oder eines demokratischen, binationalen Staats. Ich möchte das, was der Genosse eben sagte, in Frage stellen. Wie viele von Ihnen wissen, habe ich sogar ein Buch [Le défi binational] geschrieben, in dem ich die gemeinsame Existenz von Juden und Arabern in einem gemeinsamen, binationalen Rahmen verteidige – doch ich habe kein Recht, zu entscheiden. Als ich dem Genossen zuhörte, hatte ich das Gefühl, nicht das in Frage zu stellen, was er sagte, sondern wie er es sagte. Ich musste an eine Frau denken, die von ihrem Mann geschlagen oder vergewaltigt wird. Sie versucht, sich zurückzuziehen, innerhalb ihres Hauses, sie möchte von vier Stockwerken ein einziges für sich alleine, um nicht mehr geschlagen zu werden; doch es kommen ihre Nachbarn, Freunde, vielleicht ihre Kinder und sagen: „Geh nicht weg. Du wirst allein sein, ohne Geld, vielleicht wirst du dich prostituieren müssen. Bleib und wir werden die Geschichte deiner Vergewaltigung in eine Liebesgeschichte verwandeln.“ Ich habe in der sozialistischen Bewegung das Konzept der Selbstbestimmung kennen gelernt. Das Konzept der Selbstbestimmung ist ein Konzept der Unterdrückten, und ich glaube, unsere Haltung als Israelis, als israelische linke, fortschrittliche Kräfte, muss sein, so wie es auch Eure Haltung als Österreicher, Europäer, die solidarisch mit den Palästinensern sind, sein muss: Sie müssen entscheiden, wie sie leben möchten. Wir mögen unsere Einschätzung haben, wir denken wirklich, dass es draußen schwer sein wird, dass sie sich draußen vielleicht prostituieren muss, um zu überleben, dass es ungerecht ist, dass sie auf ein Viertel des Hauses beschränkt ist, während ihr doch das ganze Haus gehört, und so weiter und so fort. Doch letztlich ist es die geschlagene Frau, die entscheiden muss, ob sie mit ihrem Vergewaltiger leben will und nach langer Zeit eine Liebesgeschichte aufzubauen, oder ob sie erst einmal sicher sein will und die Präsenz loswerden möchte, die Besatzung usw. Das muss unser Herangehen sein. Wir haben das Recht und vielleicht sogar die Pflicht, uns Gedanken über die Kosten und den Nutzen jeder Lösung zu machen, verschiedene Szenarios zu entwerfen, was für die Palästinenser und auch für die Israelis am besten wäre. Letztendlich jedoch geht es um das Recht des palästinensischen Volks auf Selbstbestimmung. Sie müssen entscheiden, wie sie leben wollen, zu welchen Kompromissen sie bereit sind, gemäß ihren eigenen Prioritäten. Was die Frage über die sogenannte „Transferlösung“ betrifft, so spricht sich ein substantieller Teil der israelischen Regierung dafür aus. „Transfer“ ist ein israelischer Euphemismus für „ethnische Säuberungen“. In den israelischen Medien wird offen darüber diskutiert den Krieg gegen den Irak dafür zu benützen um die palästinensische Existenz in den besetzten Gebieten „auszudünnen“. Dabei wird über eine Maximal- und eine Minimalvariante gesprochen. Die Maximalvariante wäre, alle Palästinenser aus den jetzt besetzten Gebieten zu


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