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MOUNTAINBIKE

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ine Liste von exakt zehn Personen, die dich beruflich geprägt haben und die du gern zum Abendessen einladen würdest: Wer Tarek Rasouli, 46, diese Frage stellt, beschäftigt ihn über Tage. Zehn Namen, keiner mehr. Legenden der Frühzeit, Superstars von heute, visionäre BikeparkEntwickler, prägende Event-Erfnder, legendäre Filmer, renommierte Sportärztinnen, hingebungsvolle Trainer: Es ist das Who’s who der Szene. Wirklich nur zehn Namen? Tarek streicht und ergänzt, doch die Liste bleibt viel zu lang.

Der Start: Ein Sonnyboy erobert die Bike-Welt Wer wissen will, warum dieser Mann so gut vernetzt ist, muss mitkommen auf eine kleine Zeitreise um die Jahrtausendwende. Wer damals Mountainbike-Fan war, hatte sehr wahrscheinlich ein Poster oder ein Magazin mit Tarek zu Hause. Der Münchner war der einzige Europäer unter den legendären „Fro-Ridern“, dem ersten Prof-Freeride-Team des KultHerstellers Rocky Mountain. Diese rare Pfanze hatte seine Wurzeln in einer BMX-Karriere und einer als Fotomodell. Tarek zierte in seiner Karriere eine zweistellige Zahl an Covern internationaler Bike-Magazine. Er sah gut aus und konnte verdammt gut fahren – eine seltene Kombination, vor allem in Europa. So startete er nach dem Abi eine Karriere, die er selbst managte. „Ich war meine eigene globale One-Man-Show: Manager, Pressesprecher, Trainer und mehr. Ich war überarbeitet, aber oft untertrainiert. Manchmal war mein Training das Fotoshooting selbst!“ Aber es funktionierte. Sein Geld verdiente er auch mit Shows und BMXRennen. Und dann das: „1999 wurde ich auf meiner Heimbahn nur Vizemeister. Im Ziel hab ich geweint, weil ich so enttäuscht war.“ Tarek war da immerhin schon 24 Jahre alt. Er stellte das BMX in die Ecke, konzentrierte sich voll aufs Mountainbike – aber nicht auf Rennen, sondern auf Videoproduktionen.

Mit immer actionreicheren Clips wuchs er in die Freeride-Szene rein, die sich ausgehend vom kanadischen British Columbia gerade etablierte. Das Medium jener Tage war die VHS-Kassette, die KultReihe hieß „Kranked“. Dort fuhren die Götter. Dank seiner Professionalität, aber auch seinem Style arbeitete sich Tarek bis zu den Fro-Ridern nach oben. Seine Sponsoren inszenierten ihn als Sonnyboy mit Models, Party und Glamour, selbst mit dem Lift im Bike-Resort Sun Peaks rauffahren durften, um die Stelle anzuschauen, auf der sie drehen wollten, sagte Tarek: „What a beautiful view from a wheelchair.“ Er hatte eigentlich „chairlift“ gemeint, also Sessellift – und doch war der Satz beinahe prophetisch. Was die wenigsten wissen: Tareks Halbbruder, der im österreichischen Kärnten lebt, sitzt seit einem Kletter-Unfall im Rollstuhl. Kurz dachte er an ihn. Zwei Stunden nach diesem Satz schlug der Blitz bei Tarek ein. Der Landehügel war unterdimensioniert, er zu hoch gesprungen. In mehreren Metern Höhe warf er das Bike weg. Bei der Landung auf den Beinen gab der oberste Lendenwirbel auf. Sofort waren bestialische Schmerzen da. Taubheit. Und die Vermutung, dass die BikeKarriere unwiderruflich zu Ende war.

Der Neuanfang: Optimismus als Rettung Wenn Tarek Rasouli von jener Zeit spricht, in der er den Grundstein zu allem Weiteren legte, beginnt er noch im Krankenhaus in Kanada. Der freundliche 150-Kilo-Pfeger mit der Piepsstimme. Dann das Dreibettzimmer in der Reha in Murnau, wo sich der eine Nachbar gar nicht und der andere nur einen Arm bewegen konnte, was diesem immerhin das Kettenrauchen ermöglichte. Tarek lag fröhlich dazwischen: „Ich habe einen Luxus-Querschnitt! Volle Beweglichkeit der Arme und Hände, sogar der Bauchmuskeln. Was soll ich da jammern?“

Eine Eigenschaft, die Trial-Legende Danny MacAskill an Rasouli bewundert: „Ich habe Tarek noch nie – niemals – über seinen Zustand klagen gehört.“ In seinem Inneren sieht es bisweilen freilich anders aus: „Natürlich habe ich Schmerzen. Jeden Tag. Aber andere sind viel schlechter dran.“ Man würde seine Schmerzen nicht ahnen, genau wie man vergisst, dass der charismatische Mann mit den vielen Ideen im Rollstuhl sitzt, wenn man länger mit ihm zu tun hat. Seine Zuversicht und sein Anpackergeist sind es auch, die ihn schnell in Kontakt mit Gleichgesinnten bringen – etwa mit den Machern der Wings for Life Stiftung, die sich für die Heilung von Querschnittslähmung einsetzt (s. Kasten S. 55). Als Stiftungs-Botschafter spricht Tarek seit über 15 Jahren anderen Betroffenen Mut zu, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen.

PIONIER DER LÜFTE

Tarek sprang den später ikonisch gewordenen Stunt „Mushroom Drop“ in Moab, Utah, als Erster.

wenn es hinter den Kulissen nicht immer so glitzerte – aber wen kümmerte das schon: „Nach meinem ersten Auftritt in ‚Kranked‘ musste ich reihenweise Autogramme geben – etwas, was mir all die Cover und die sportlichen Erfolge im BMX nie gebracht hatten.“

Der Einschlag: ein Sturz, der plötzlich alles veränderte Für „Kranked 5“ sollte im Spätsommer 2002 im kanadischen British Columbia gedreht werden, jenem Geburtsort des Freeriding. Ein neuer Berg, große Verwirrung bezüglich der Drehgenehmigungen, alles sehr konfus. Als die Rider endlich

DAS NETZWERK DES TAREK RASOULI

Bei ihm laufen die Fäden zusammen: Der Bike-Manager (in der Mitte) kennt auf zwei Rädern die Götter und die Welt – und bringt sie zusammen.

DER KULT-FILMER DEREK WESTERLUND

Von „New World Disorder“ bis „Where the Trail Ends“: Er setzt die Athleten in Szene.

DER LOCAL HERO ERIK FEDKO

Tarek hat den besten deutschen Freerider einst bei einem kleinen Event entdeckt.

DER EVENT-GURU TODD BARBER

Erfinder des legendären Red Bull Rampage und weiterer Bike-Spektakel

DIE TRIAL-IKONE DANNY MacASKILL

Der Mann, der uns immer wieder staunen lässt, ist mittlerweile mehr Freund als Klient von Tarek.

DIE ÄRZTIN DR. CHRISTINE BACHMANN

Behandelt Tareks Biker und weitere Top-Athleten.

DER TRAINER LORENZ WESTNER

Kümmert sich um begnadete Körper auch in schwierigen Lagen.

DER BIKEPARK-VISIONÄR KORNEL GRUNDNER

Setzte Leogang in Salzburg auf die Bike-Landkarte – auch dank Tareks Events. DER YOUTUBESUPERSTAR

FABIO WIBMER

Der gebürtige Osttiroler hat die Ideen, Tarek und Co tragen sie in die Welt.

DIE BESTE SCHWESTER NATHALIE TANOS

Stellvertretende Geschäftsführerin bei Rasoulution und Tareks rechte Hand

DER FREERIDEÜBERFLIEGER EMIL JOHANSSON

Der Freerider mit dem vielleicht größten sportlichen Potenzial weltweit vertraut auf Tareks Netzwerk.

WIEDER AUF DEN BEINEN

Es ist ein persönlicher Durchbruch: Seit kurzem kann Tarek wieder eigene Schritte machen – mit Hightech-Unterstützung des Exoskeletts EksoNR von Ekso Bionics und immer in Begleitung einer Physiotherapeutin. So will er am 9. Mai sogar beim Wings for Life World Run wieder als Läufer starten.

Die Revolution: Ein Kolumnist erfndet etwas andere Bike-Events Nach der intensiven Reha-Phase machte Tarek da weiter, wo er vor dem Unfall aufgehört hatte: Er jammerte nicht, sondern managte sich selber, genau wie er es immer getan hatte. Nutzte seine Kontakte. Er schaute beim Magazin „Bike“ rein und kam mit dem Auftrag für eine ständige Szene-Kolumne raus. Schließlich die Anfrage, ob er sich zutrauen würde, ein Event zu organisieren. Hatte er zwar noch nie gemacht, aber er hegte schon lange den Traum, auch Menschen jenseits der Szene für Bike-Events zu begeistern. Und so wählte er die Location nicht versteckt in den Bergen, sondern bei Konstanz am Bodensee und setzte auf Good Vibes und Partystimmung. Aus „Ride to the Lake“ sollte später der Red Bull District Ride entstehen, ein BikeSpektakel vor zehntausenden Zuschauern, zuletzt etwa in der Nürnberger Altstadt. Ermutigt vom Erfolg in Konstanz, gründete Tarek mit einer Freundin eine Event-Agentur: Rasoulution.

Die Begeisterung und der Optimismus, mit denen Tarek an die Sache heranging, erweckten Dinge zum Leben, die sonst nie und nimmer funktioniert hätten. Das Feuer, das damals auffackerte, brennt heute unverändert hell: Wenn er vorab den streng geheimen Pilot des jüngsten Danny-MacAskill-Videos „The Slabs“ durchschickt, freut er sich wie ein Kind, weil einem seiner Athleten wieder einmal etwas Unfassbares gelungen ist und er seinen Teil dazu beitragen konnte.

Die Familie: Eine Heimat für globale Zweirad-Stars entsteht Rasoulution bietet nämlich auch AthletenManagement, also genau das, was Tarek einst für sich selbst gemacht hat, bloß viel, viel professioneller. Es sind nicht die Schlechtesten, die auf Rasoulution vertrauen: YouTube-Megastar Fabio Wimber zum Beispiel. Das deutsche Supertalent Erik Fedko. Danny MacAskill, längst mehr Kumpel als Kunde. Wer bei Rasoulution ist, gehört zur Familie. Als den schwedischen Jungstar Emil Johansson monatelang mysteriöse Rückenprobleme quälten, ließ Tarek ihn nach München einfiegen, wo Spezialisten ein Problem mit einem Wirbel diagnostizierten, außerdem ein Autoimmun-Problem. Nach zehn Monaten konnte Emil sein Comeback auf dem Bike geben: „Ohne das persönliche Engagement von Tarek weiß ich nicht, wie es ausgegangen wäre. Dafür bin ich ihm total dankbar!“

In Summe hat Rasoulution elf Athleten unter Vertrag. Wie sucht ihr die aus? „Spezielles Talent. Und ganz wichtig ist ihr Charakter. Ihre Offenheit, Umgänglichkeit und Bodenständigkeit.“ Die letzte Entscheidung trifft Tarek. Ein junger Local Boy wie Erik Fedko kann es genauso schaffen wie jüngst ein bis dato völlig unbekannter Japaner namens Tomomi Nishikubo, den Tarek auf Videos entdeckte. Oder man nimmt den klassischen Weg wie Fabio Wibmer, der als Sechzehnjähriger bei einem von Tarek und Danny MacAskill organisierten Camp auffällt, behutsam reift, mit „Fabiolous Escape“ den YouTube-Hit des Jahres landet – und dann zum globalen Star wird: Der Clip „Wibmer’s Law“ zählte zu Redaktionsschluss über 160 Millionen Views.

Das Ergebnis: ein neues Level für das Fahrrad-Universum Das alles liest sich wie ein Märchen. Fest steht: Die Freeride-Szene wäre nicht so professionell und präsentabel, würde nicht Tarek mit seiner Crew die Standards hochschrauben. Vorbei sind die Zeiten, in denen Poster von Mountainbikern nur in den Zimmern der Freaks hingen. Typen wie MacAskill oder Wibmer kennt heute jedes Kind. Auch dass Events um so viel sicherer geworden sind, bei gleichzeitig immer ärgeren Stunts, ist ein Verdienst von – nicht nur, aber auch – Tarek Rasouli. Wenn er vom Rollstuhl aus befndet, dass eine Landung breiter gemacht werden soll, wer würde da widersprechen? Oder dass es eine Kameraposition gibt, die die Action der Kids besser einfängt? Oder tausend Details, die nur jemand kennt, der dem Sport seit fast drei Jahrzehnten so viel gegeben hat? „Und warum gibt es im Großraum München nur drei Pumptracks, aber hunderte Fußballplätze?“, fragt Tarek provokant, und man ahnt, womit er sich die nächsten Jahre beschäftigen wird.

Das einzig unlösbare Problem bleibt jenes mit den zehn wichtigsten Menschen seiner Karriere. Typen mit einem dermaßen fest gewobenen Beziehungsnetz kann man kaum in ein so enges Korsett zwängen – sie brauchen Events, um dort alle zu treffen. Wie passend, dass Tarek Rasouli diese Events veranstaltet. Dieser Mann ist goldrichtig da, wo er ist.

Hast du dir jemals überlegt, wo du heute ohne den Unfall wärst? „Vermutlich wäre ich viel zu lang bloß Rider geblieben und hätte einiges versäumt.“ Wenn er da so sitzt, beim Red Bull Rampage in Utah, dem Red Bull District Ride in Nürnberg oder einem kleinen Event irgendwo, wenn die Jungs draußen sind und fahren, wenn alles läuft, dann fällt ihm manchmal der Satz ein, den er einst zwei Stunden vor dem großen Crash gesagt hat: „What a beautiful view from a wheelchair.“

Am 9. Mai: Mit Tarek für die gute Sache laufen

Wings for Life World Run

Weltweit starten zeitgleich alle Teilnehmer zum Wings for Life World Run. Jeder läuft einzeln, eine App feuert dich an und signalisiert, wenn dich das virtuelle Catcher Car eingeholt hat. Die Einnahmen fließen zu 100 Prozent in die Rückenmarksforschung. Übrigens, über die App kannst du auch Tareks Rasoulution-Laufteam beitreten. Sei dabei: wingsforlifeworldrun.com

Zusammen stark für die Forschung

Wie die Wings for Life Stiftung Querschnittslähmung heilen will.

Robotergestützte Reha, Proteine, die Nervenwachstum fördern, künstliche Intelligenz, die maßgeschneiderte Therapien berechnet: Weltweit fördert die von Botschaftern wie Tarek Rasouli unterstützte Wings for Life Stiftung wegweisende Forschungsprojekte zur Heilung von Querschnittslähmung – und ermöglicht damit schon heute vielen Betroffenen ein besseres Leben. Mehr Infos: wingsforlife.com

EINE FRAU STEHT KOPF

Auch aus diesem Blickwinkel bewahrt Sina die Übersicht.

DIE WUNDERSAME VERWANDLUNG DER SINAMARIA NEUGEBAUER IN #SOULSISTERSINA

B-Girl SINA, 26, Vater Tiroler, Mutter Marokkanerin, fühlt sich zunächst „halb-halb“. Heute hat sie begriffen, dass das kein Makel, sondern eine perfekte Mischung ist. Dazwischen übt sie in Casablanca Salti, lernt, einer Legende zu vertrauen und Reisen ohne Ziel zu akzeptieren.

„Du musst die Atmosphäre lesen, du darfst dich aber nicht von ihr irritieren lassen.“

„Das ist meine Zeit, um zu zeigen, was ich kann. Das ist meine Zeit, um zu glänzen.“

SELBSTBEWUSST

Offener Blick, klassische Pose. Sina hat gelernt, sich zu behaupten.

Sina weiß, was sie will, wenn sie in den Kreis springt. Sie will in 45, höchstens 60 Sekunden etwas Einzigartiges erschaffen. „Das ist meine Zeit, um zu glänzen“, sagt sie. Der Kreis ist ihre Bühne. Eine Bühne, wie es sie kein zweites Mal gibt. Immer einzigartig, jedes Mal neu. Geformt von Menschen, die gleichermaßen Freunde und Kritiker, Quelle der Inspiration und Konkurrenten sind. B Boys. BGirls. Wie Sina, 26.

Das B steht für Break, es ist ihre Art zu tanzen, in der Szene Breaking genannt, der allgemein geläufge Begriff heißt „Breakdance“. Sina war die erste Österreicherin im Finale des weltweit größten und wichtigsten BreakingBewerbs, des Red Bull BC One.

Bevor Sinas Zeit zu glänzen gekommen ist, gilt es, den Kreis zu erobern. „Du musst die Atmosphäre lesen“, sagt Sina, „du darfst dich aber nicht von ihr irritieren lassen.“ Das heißt auch, kaum erkennbare Gesten der BGirls und BBoys, die es wie sie ins Zentrum zieht, richtig zu interpretieren. Und sie, wenn’s sein muss – weil nichts und niemand jetzt ihrem Auftritt im Wege stehen soll –, davon abzuhalten, vor ihr hineinzuspringen.

Oft reicht ein angedeuteter Schritt, um den Raum zu sichern, manchmal braucht es eine leichte Schulterdrehung, um den Weg in Zentrum zu blocken. Dafür sind Präsenz und Präzision notwendig. Und das Gespür für die Situation: „Ich gehe oft direkt runter auf den Boden. Dann habe ich den meisten Platz für mich“, sagt Sina.

Das hat viel mit Stärke und Selbstbewusstsein zu tun – und mit Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Denn Moves – Bewegungen anderer Breaker – zu übernehmen ist verpönt. Wer das macht, ist schnell als übler Nachahmer oder als „Biter“, wie es im BJargon heißt, abgestempelt: „Du darfst dich von Moves inspirieren lassen, darauf antworten, reagieren, sie weiterentwickeln, aber du darfst sie niemals kopieren“, sagt Sina.

Wenn Sina ihre Welt erklärt, tut sie das oft mit einem kaum merkbaren Zögern, so, als würde sie noch einmal nachdenken über das, was sie gerade zu sagen beabsichtigt. Abseits ihrer Bühne ist sie „eher zurückhaltend“, wie sie meint. Beobachterin statt Akteurin. Hat sie jedoch den Kreis erobert, verändert sich alles, dann wird sie zum Mittelpunkt ihrer Welt. „Das ist meine Zeit, um zu zeigen, was ich kann. Diese Zeit genieße ich“, sagt sie, oder eben: „Das ist meine Zeit, um zu glänzen.“

Dies ist die Geschichte ihrer Reise ans Licht, die Geschichte der wundersamen Wandlung der Innsbruckerin Sinamaria Neugebauer zur SoulSisterSina. Sie beginnt in einem Palast. DAS ZAUBERHAFTE LEBEN IN EINEM PALAST IN TAROUDANT

Das Palais Salam liegt an der Avenue Moulay Ismail mitten in Taroudant. Etwa 80.000 Menschen leben in dieser Stadt im Süden Marokkos. Sie befndet sich an der Straße nach Ouarzazate, dem vier Autostunden entfernten Tor zur Sahara.

Manche nennen Taroudant Marrakeschs kleine Schwester, andere dessen Großmutter. Denn mit ihrer sechs Kilometer langen Stadtmauer aus rotbraunem Lehm ähnelt sie Marokkos MillionenMetropole. Der Palast, im 18. Jahrhundert errichtet, war lange Zeit Regierungssitz des Sultans.

All das interessiert Sina, die hinter den Mauern des Palais Salam aufwächst, nicht. Sie spielt mit den Kätzchen, die wie aus dem Nichts auftauchen und wieder verschwinden, planscht im Pool; und wenn sie Lust hat, bestellt sie sich Eis mit Erdbeeren. Regen ist selten, und selbst in den Wintermonaten sinkt die Temperatur kaum unter zehn Grad.

Sie führt ein sonniges Leben, unbeschwert wie eine kleine, glückliche Prinzessin. „Ich bin sehr dankbar für meine Kindheit, ich habe mich sehr frei gefühlt“, sagt Sina. In der Realität ist der Palast ein Hotel. Und Sina bewohnt mit ihren Eltern eines der Appartements.

Mama Keltouma ist Berberin, Papa Arthur Tiroler. Den Sommer verbringt die dreiköpfge Familie in Österreich, den Winter in Marokko. Hier wie dort organisiert der Vater Touren, die Mutter plant, zeichnet und steht ihm mit Tipps zur Seite. Mit fünf Jahren begleitet Sina ihren Vater erstmals in die Wüste: „Wir haben im Auto geschlafen, das war aufregend.“

Die kindliche Leichtigkeit verschwindet mit Schulbeginn. „Meine Eltern hatten die Idee, dass ich eine bessere Zukunft habe, wenn wir ganz in Österreich leben.“ Die Familie übersiedelt nach Innsbruck: „Mit sechs Jahren habe ich das erste Mal Schnee gesehen.“

SINA & DIE B-BOYS

Ihre Bewegungen fließen: Sina beim Red BulletinFotoshooting in Wien mit Arno (links) und Imad.

„Du darfst dich von Moves inspirieren lassen, darauf antworten,

Die Tage im Palast verblassen. Ob sie Heimweh nach dem Königreich am Meer hatte? Sina zögert, dann sagt sie: „In Marokko ist alles ein bisschen lebendiger.“

Die Schulzeit ist nichts, was besondere Erinnerungen in Sina weckt. Sie lässt sich mit einem Satz erledigen: „Ich hab mich aufgehalten gefühlt.“

Nach der Matura ist sie nicht mehr zu stoppen. Sie arbeitet bei der Streetwear-Kette Snipes und verdient dort genug Geld, um mit einer Freundin für drei Monate nach Casablanca zu übersiedeln.

VERSTÄNDIGUNGSPROBLEME IM LAND DER KINDHEIT

Casablanca ist wie Taroudant eine Stadt in Marokko. Aber das ist auch schon die einzige Gemeinsamkeit. Die Hafenstadt am Atlantik hat knapp dreieinhalb Millionen Einwohner, rund 40-mal so viele wie Taroudant. Das marokkanische Arabisch, das hier gesprochen wird, hat mit Sinas Dialekt aus Taroudant wenig zu tun. Plötzlich hat sie im Land ihrer Kindheit Verständigungsprobleme. Und nachts allein rauszugehen ist nicht die klügste Entscheidung, die eine junge Frau treffen kann.

Wer sich also fragt, was eine Zwanzigjährige dazu treibt, in eine Stadt aufzubrechen, die erst einmal nur groß ist, stellt die richtige Frage. Sinas Antwort: „Ich wusste, die Leute hier trainieren anständig, von denen kann ich etwas lernen, und ich wollte auch zurück zu meinen Wurzeln.“ Die Leute, von denen Sina spricht, sind B-Boys und B-Girls rund um den bekannten marokkanischen Breaker The Wolfer.

Sie hat die Crew ein Jahr zuvor, 2013, kennengelernt: beim Red Bull BC One in Agadir, von dem sie bei einem Besuch in ihrer alten Heimat Taroudant erfahren hatte.

Sina bittet ihre Mutter, sie in die 83 Kilometer entfernte Stadt zu fahren – ohne zu wissen, ob sie überhaupt mitmachen kann. Sie tanzt auf der Promenade am Strand, schafft die Pre-Selection, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt wenig Breaking-Erfahrung hat. Die Battles lässt sie aber aus: „Meine Mutter wollte nach Hause, es hat mir nicht leidgetan, es war ein schöner Tag.“

sie weiterentwickeln, aber du darfst sie niemals kopieren.“

Doch sie ahnt, dass diese Art zu tanzen ein Weg in ein neues Leben sein kann: „Was mir am meisten getaugt hat, war das Selbstbewusstsein, das die alle hatten. Die Kids. Die Anfänger. Die haben sich sofort getraut. Jeder will zeigen, was er kann.“ Sina will das auch. Und deshalb muss es Casablanca sein. Denn The Wolfer und seine Truppe sind dort daheim. „Ich wusste, dass ich tanzen will, und ich wollte nach Marokko, weil mich die Jungs schon in Agadir inspiriert haben, sie waren international bereits sehr bekannt, und ich habe mir gesagt, wenn du besser werden willst, dann musst du mit Leuten trainieren, die besser sind als du – man sagt doch immer, man soll sich mit den Leuten umgeben, die das erreicht haben, was man selber anstrebt.“

Sie tanzen auf der Straße, abends nach acht, wenn die Geschäfte geschlossen haben. Es gilt ein simples Prinzip: Nur wer wagt, gewinnt. „Man muss sich durchsetzen können, das geht bei uns unter, wir sind zu nett, zu schüchtern, wir halten uns zurück“, sagt Sina, wenn sie sich daran erinnert. Sie sagt wir und meint ich.

Sina verlässt ihre Komfortzone, geht Risiken ein: „Ich habe zum ersten Mal akrobatische Sachen gemacht, das hätte ich mich vorher nie getraut.“ Sie übt Salti am Strand – und verletzt sich dabei am Arm. Ellbogenluxation, sie muss zurück nach Österreich. Der Ausfug in ihre neue Welt endet einen Monat früher als geplant. Aber es nicht das Ende ihrer Reise.

„NUR WENN DU GUT BIST, FÄLLST DU AUF.“

In den nächsten Monaten ist sie viel unterwegs – reist nach Deutschland, Holland, Spanien. Vor allem aber geht es nach Schweden – und zwar für ein Jahr. Sie will es wissen. Will ihre Breaking-Skills perfektionieren.

Dort unterrichtet Fredrick Herranen – als „Freeze“ Mitglied der skandinavischen „Ghost Crew“ – eine Breaking-Legende seit den 1980er-Jahren. Ein Wissender. „Ich habe viel mit ihm geredet. Über meine Zweifel,

REVERENZ

Der Hut ist ein Verweis an die Anfänge von Breaking in den späten 1970er-, frühen 1980erJahren.

dass ich nie das werde geben können …“ Dieser Satz hat kein richtiges Ende, weil ihr wieder einfällt, was Freeze ihr vor Jahren beim Mittagessen gesagt hat und wie wichtig ihr das war: „Kannst du dich noch daran erinnern, was der und der am Vormittag gemacht hat? Kannst du nicht, nein, natürlich nicht, niemand erinnert sich daran. Wenn du nicht gut warst, denken die anderen nicht darüber nach. Das heißt aber auch, dass du nicht darunter leiden musst. Nur wenn du gut bist, fällst du auf. Du musst deine Perspektive wechseln.“

Das sind Sätze, die ihr zu denken geben. Aber es sind nicht nur Freeze’ Weisheiten, auch ihr Körper sendet Signale: „Ich habe in der Zeit in Schweden mit etwas Ähnlichem wie einem Hexenschuss gekämpft. Ich hatte ständig eine Blockade im Nacken, in der linken Schulter, im linken Ellbogen. Woher das gekommen ist, konnte niemand sagen.“ Sina beschließt, ihre Heilung selbst in die Hand zu nehmen: „Ich habe das wieder in den Griff gekriegt.“

Sie lernt loszulassen. Denkt viel nach. Heute sagt sie: „Das Tanzen habe ich gebraucht, um selbstbewusster zu werden, um meine Wurzeln zu fnden. Früher war ich disconnected. Heute gehört Marokko genauso zu meinem Leben wie Österreich. Ich fühle mich nicht mehr halb-halb.“ Und wie zum Beweis ihrer neuen Kraft sagt sie: „Ich bin eine schöne Mischung.“

Plötzlich geht alles leichter: 2016 heiratet sie The Wolfer (sie nennt ihn natürlich bei seinem Vornamen, Mustafa) in Österreich, ein Jahr darauf wird noch einmal in Marokko gefeiert. Ihre Modemarke „From The Soul“ nimmt Fahrt auf. Der Name ist funky, vor allem aber ehrlich: „Er ist perfekt“, sagt Sina, „weil jeder nur für sich selbst sagen kann, was seine Seele berührt.“

Und sie schafft es als erste Österreicherin ins Finale des Red Bull BC One.

Sie hat gelernt, was es heißt, die eigene Perspektive zu fnden, wie Freeze es ihr in Schweden geraten hat. Sie ist gut in dem, was sie macht. Und sie fällt damit auf. Und was, Sina, kommt als Nächstes? „Keine Ahnung, ich versteife mich nicht mehr auf ein Ziel. Ich weiß nur, dass die Reise noch nicht zu Ende ist.“

WIE DU DEINEN EIGENEN KREIS ERSCHAFFST

Beim Shooting für The Red Bulletin trägt Sina Weiß. „Ein Kompromiss“, sagt sie. Die anfangs geplanten bunten Outfts funktionieren nicht. Also setzt Sina erst die strahlend weiße Plüschvariante eines Kangol-Hutes auf. Als Reverenz an die Breaking-Anfänge in den späten 1970er-, frühen 1980er-Jahren.

Dann schlüpft sie in ein passendes weißes VintagePolo. Sie hat es abgeschnitten, mit Ösen und einem dünnen Band versehen, das vorn in einer Masche zusammenläuft und es so in ein bauchfreies „From The Soul“-Teil verwandelt. Dazu trägt sie eine weiße Hose und weiße Sneakers. Sieht nach allem aus, nur nicht nach einem Kompromiss.

Und wer beobachtet, wie sie sich bewegt, versteht den Satz, den sie in einem der Gespräche gesagt hat: „Für Breaking brauchst du den Körper eines Athleten und den Ausdruck eines Künstlers.“

Noch viel besser als dieser Satz ist eine Anmerkung, die sie nebenbei macht, die aber ihre Anstrengungen, ihre Kämpfe, ihre Wandlung widerspiegelt. „Weißt du, irgendwann merkst du, dass du keine Lust mehr hast, etwas zu beweisen. Du erkennst, dass die Stimmung in dem Kreis, in den du gerade noch unbedingt hineinwolltest, nicht deine Stimmung ist. In solchen Momenten mache ich einen Schritt zur Seite.“

Früher hätte dieser Schritt zur Seite ihren Rückzug eingeleitet, heute ist er der Beginn einer Offensive.

Sina erschafft ihren eigenen Kreis.

Mit B-Girls und B-Boys, die ihr folgen.

Dafür ist sie längst stark genug.

Wer Sina begleiten will: @soulsistersina Wer sie erleben möchte: Sina wird beim Red Bull BC One Cypher Austria am 22. Mai in Wien dabei sein. redbull.com/cypheraustria

„Ich versteife mich nicht auf ein Ziel. Ich weiß nur, dass die Reise nicht zu Ende ist.“

„PUTZEN IST KOMPLIZIERTER ALS SCHACH SPIELEN“

Der deutsche Spitzenforscher RICHARD SOCHER, 37, gilt als Star der künstlichen Intelligenz. Hier erzählt er, wie smarte Maschinen unseren Alltag verändern werden und welche menschlichen Talente in Zukunft gefragt sind.

Interview JÜRGEN SCHMIEDER Fotos JEREMY JACKSON

DER MASCHINENVERSTEHER

Richard Socher, bis 2020 Chef-Forscher des USSoftware-Unternehmens Salesforce und weltweit vielzitierter KI-Experte

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