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LESESTOFF. Der kanadische Autor
CROSSOVER-LITERATUR Mischung impossible
Mystery, Thriller, Horror oder Pulp? Der kanadische Autor Carsten Stroud vereint die unterschiedlichsten Genres zur meisterhaften Romantrilogie: Willkommen in „Niceville“.
Text JAKOB HÜBNER
Schweißtreibend wie ein Roman von Stephen King oder Lee Child, meisterhaft wie einer von Cormac McCarthy, mysteriös wie die TV-Serien „Twin Peaks“ und „Lost“, abgefahren wie ein Film von den CoenBrüdern und abgebrüht wie einer von Quentin Tarantino.“
Wer auch immer den Klappentext zu „Niceville“ verfasst hat, war offenbar in Gönnerlaune. Trotzdem muss man neidlos anerkennen, dass diese Referenzorgie die Sache erstaunlich treffsicher auf den Punkt bringt – tatsächlich hätte ich persönlich sogar noch eine Prise Elmore Leonard beigemengt.
Man ahnt: Wir haben es hier mit einem Werk zu tun, das jegliche Bemühungen, es in eine Genre-Schublade zu stecken, bereits im Keim erstickt. Im Fachjargon nennt man das Hybrid- oder Crossover-Literatur. Etwas bodenständiger formuliert: Kraut und Rüben.
In den meisten Fällen gehen derartige literarische Experimente in die Hose, die wenigen Ausnahmen dieser Regel, jene, bei denen sich das stilistische Potpourri jedoch wie von Zauberhand zu einem stimmigen Gesamtbild verdichtet, funkeln umso heller. Die „Niceville“-Trilogie des kanadischen Autors Carsten Stroud zählt zweifelsohne zu diesen seltenen Juwelen.
Als atmosphärische Grundierung zu seinem Mosaik dient dem 1946 in Hull, Quebec geborenen Stroud der klassische SüdstaatenRoman. Niceville ist eine Bilderbuchstadt irgendwo im schwülen Süden der USA, wo die Zeit stillzustehen scheint. Hier regieren die Hierarchien der Gründerfamilien, altes Geld, Kriegsnostalgie, College-Football und große, schweigende Bäume.
Dieser Kleinstadtidylle initiiert Stroud mit fein gesetzten
Zitat aus „Niceville“, Kapitel: „Byron Deitz hat ein Problem“
„Byron Deitz sah genau so aus, wie ein Mann mit einem solchen Namen aussehen sollte: Er war ein massiv gebauter Kerl ohne Hals, aber mit rasiertem Schädel, einem harten, unfreundlichen Gesicht und kleinen, gemeinen schwarzen Augen.
Im Film hätte er einen der glatzköpfigen Bösen mit schwarzem Ziegenbärtchen gespielt, der einen Stuhl aus Balsaholz auf den Kopf kriegt, wenn die hinreißende junge Frau im knappen Bikini versucht, ihn davon abzuhalten, den Helden mit dem langen blonden Haar zu vermöbeln.“
Nadelstichen ein schleichendes Gift, das etwas Uraltes, Gespenstisches und sehr, sehr Böses heraufbeschwört. Als Erstes verschwindet der zehnjährige Rainey Teague spurlos auf seinem Schulweg. Einfach so, von einem Moment auf den anderen. Nur wenig später sind auch andere Menschen plötzlich nicht mehr da. Und andere, die eigentlich längst weg sein sollten, weil sie im Grab liegen, sind plötzlich wieder da. Kurz: Die feine Fassade von Niceville gerät ernsthaft ins Bröckeln.
Doch noch während sich dieses diffuse Mystery-Setting wie ein Nebel des Grauens über Niceville legt, knallt Stroud einen brachialen CopThriller mitten in die Handlung und stanzt großkalibrige Löcher in seine Story – und in einige der Protagonisten. Sobald auch dieser Handlungsstrang ordentlich auf Zug gebracht ist, eröffnet Stroud bereits die nächste erzählerische Front, diesmal in Form einer schwarzhumorigen Gangster-Burleske in allerbester Pulp-Manier. Ganz nebenbei streut er eine kleine Coming-of-Age-Story ein, deutet eine zarte Romanze an und schickt – freilich fein gestaffelt – einen Erpresser, einen Psychopathen und einen Profikiller ins Rennen.
Von ganz entscheidender Bedeutung für das Gelingen dieses verwegenen Höllenritts quer durch sämtliche belletristischen Genres sind vor allem die Figuren, die Stroud zu diesem Zweck in den Sattel hebt. Die wirken zunächst einmal alle – vom zerrissenen Ex-Special-Forces-Helden und der smarten Junganwältin über den korrupten KillerCop und den cholerischen Mafiaboss bis hin zu der blondierten Sexbombe und einem hochnervösen Chihuahua – so klischeehaft, als wäre man in eine Familienaufstellung der Trivialliteratur geplatzt. Aber wie gesagt: zunächst einmal. Stroud setzt diese Figuren nämlich lediglich als eine Art Wegweiser durch sein großartiges literarisches Labyrinth ein, die – sobald man sie passiert hat – ein durchtriebenes psychologisches Relief und ein erstaunliches Eigenleben entwickeln.
Insgesamt umfasst die „Niceville“-Trilogie rund 1600 Seiten. Und nur wenige davon haben keine Überraschung parat.
CARSTEN STROUD „DIE NICEVILLE-TRILOGIE“
(„Niceville“, „Die Rückkehr“, „Der Aufbruch“) Deutsch von Dirk van Gunsteren, Robin Detje, Daniel Hauptmann.
DuMont
LESETIPPS Grauenhaft gut
Ein literarisches Quartett aus dem Gruselkabinett
JOE HILL
Bereits mit seinem Debütroman konnte der 1972 geborene US-Autor den Bram Stoker Award, den Locus Award und den International Thriller Award abräumen. Es folgten Horror-Heuler wie „Teufelszeug“ und „Christmasland“. Irgendwie scheint Joe Hill das Gruselgenre im Blut zu liegen. Vielleicht deshalb, weil sein richtiger Name Joseph Hillström King lautet und er der Sohn eines gewissen Stephen King ist.
„Blind“ (Heyne) MATT RUFF
Zuletzt hat Ruff seinem Ruf als Kultautor mit dem Gaming-Roman „88 Namen“ wieder einmal alle Ehre gemacht. In „Lovecraft Country“, auf Deutsch 2018 erschienen, unterfüttert er den ganz realen Horror der amerikanischen Rassentrennung während der Jim-Crow-Ära mit fiktiven Versatzstücken aus der Knister-Kiste des legendären Genre-Großmeisters H.P. Lovecraft (1890–1937). Ein wahrhaft meisterhaft makaberer Mix.
„Lovecraft Country“ (dtv)
DEAN KOONTZ Mit über 500 Millionen verkauften Büchern zählt Dean Koontz zu den erfolgreichsten Autoren der Welt. Dazu beigetragen hat auch seine fünfbändige „Frankenstein“-Reihe, in der Koontz, der mit dem stolzen Titel „World Horror Grand Master“ geadelt wurde, dem weltberühmten Monsterwerk von Mary Shelley aus dem Jahr 1818 eine artgerechte Frischzellenkur verpasst hat. „Frankenstein“ (Heyne)
CHUCK PALAHNIUK Wer einen Palahniuk („Fight Club“) aufschlägt, sollte sich bewusst sein, dass er es hier mit einem Autor der Neigungsgruppe „literarischer Wahnsinn“ zu tun hat. Allerdings mit einem der allerbesten in diesem Metier. In „Lullaby“ stimmt Palahniuk ein afrikanisches Wiegenlied an, das die unangenehme Nebenwirkung hat, jeden zu töten, der es hört. Gibt’s übrigens auch als Hörbuch… „Lullaby“ (Goldmann)