»Retrospektive Fiktion«

Page 11

Inhaltliches Konzept

11

bar. Der zentrale Bestandteil der Arbeiten Calles ist

sie die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Gegenwart

es, diese Entfremdung deutlich zu machen.

und Fiktion ab. Sie provoziert und irritiert; lässt

Die literarische Struktur ihrer Texte – zweckmä-

den Betrachter mit der Frage nach der wahren, der

ßig, geradlinig und in selbst auferlegter Strenge

echten Geschichte allein. Alles wirkt real, alles wirkt

rhythmisiert – erzeugt dabei o� eine produktive

austauschbar. Wirklichkeit, Inszenierung und Kunst

Dissonanz zur Darstellung der Fotografien, aus der

werden immer wieder neu interpretiert.

erst der besondere Charme der Arbeiten erwächst.       Die Bild- und Textebenen ergänzt

Alexander Demandt

­Sophie ­Calle durch ein drittes Charakteristikum: Durch die Verschmelzung von Imagination und re-

Der Berliner Althistoriker Alexander ­Demandt

alem Geschehen; von Fakten und Fiktionen. Durch

gehört zu den wenigen deutschen Geschichts­wis­

dieses formale Instrument hält sich Calle alle Wege

senscha�lern, die den Mut aufweisen, über alter-

der permanenten Selbsterfindung offen; schaf� es,

native Geschichtsverläufe zu publizieren. Mutma-

Authentizität in ihre Rollenspiele und multiplen

ßungen über ungeschehene Geschichte sind in

Identitäten zu bringen. Sie präsentiert eine Vielzahl

den historischen Wissenscha�en verpönt. Schrif-

von Beziehungen, die den Betrachter mit einschlie-

ten über nicht eingetretene Möglichkeiten und hy-

ßen und ihm die Möglichkeit eröffnen, assoziative

pothetische Alternativen gelten als unseriöse Spe-

Verbindungen zur eigenen Biografie zu entdecken.

kulationen. Überlegungen zu Eventualitäten – die

Er entdeckt, dass er selbst einer dieser Fremden

Frage, wie es auch hätte sein können – sind keine

sein könnte, denn Calles Werke bilden einen Spie-

Themen für einen Historiker. Indem er darauf ver-

gel, in dem bekannte Gefühle oder sogar die Ver-

zichte, in strenger Quellenkritik die Fakten zu fin-

wirklichung eigener Fantasien wiedererkannt wer-

den und darzustellen, erscheine sein Vorgehen un-

den können.      Ihre Arbeiten sind sowohl

beweisbar und unwissenscha�lich. »Geschichte

Aussagen über das Wesen der Menschen, als auch

ist die Wissenscha� dessen, was da ist, nicht des-

über das Wesen der Kunst. Die Grenzen werden

sen, was nach geheimen Absichten des Schicksals

spielerisch verschoben und unablässig in Frage ge-

etwa wohl sein könnte.«, zitiert er ­Herder in sei-

stellt. Als Subjekt und Objekt ihres Werkes, schaf�

nem Buch »Ungeschehene Geschichte«. Demandt


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.