Inhaltliches Konzept
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bar. Der zentrale Bestandteil der Arbeiten Calles ist
sie die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Gegenwart
es, diese Entfremdung deutlich zu machen.
und Fiktion ab. Sie provoziert und irritiert; lässt
Die literarische Struktur ihrer Texte – zweckmä-
den Betrachter mit der Frage nach der wahren, der
ßig, geradlinig und in selbst auferlegter Strenge
echten Geschichte allein. Alles wirkt real, alles wirkt
rhythmisiert – erzeugt dabei o� eine produktive
austauschbar. Wirklichkeit, Inszenierung und Kunst
Dissonanz zur Darstellung der Fotografien, aus der
werden immer wieder neu interpretiert.
erst der besondere Charme der Arbeiten erwächst. Die Bild- und Textebenen ergänzt
Alexander Demandt
Sophie Calle durch ein drittes Charakteristikum: Durch die Verschmelzung von Imagination und re-
Der Berliner Althistoriker Alexander Demandt
alem Geschehen; von Fakten und Fiktionen. Durch
gehört zu den wenigen deutschen Geschichtswis
dieses formale Instrument hält sich Calle alle Wege
senscha�lern, die den Mut aufweisen, über alter-
der permanenten Selbsterfindung offen; schaf� es,
native Geschichtsverläufe zu publizieren. Mutma-
Authentizität in ihre Rollenspiele und multiplen
ßungen über ungeschehene Geschichte sind in
Identitäten zu bringen. Sie präsentiert eine Vielzahl
den historischen Wissenscha�en verpönt. Schrif-
von Beziehungen, die den Betrachter mit einschlie-
ten über nicht eingetretene Möglichkeiten und hy-
ßen und ihm die Möglichkeit eröffnen, assoziative
pothetische Alternativen gelten als unseriöse Spe-
Verbindungen zur eigenen Biografie zu entdecken.
kulationen. Überlegungen zu Eventualitäten – die
Er entdeckt, dass er selbst einer dieser Fremden
Frage, wie es auch hätte sein können – sind keine
sein könnte, denn Calles Werke bilden einen Spie-
Themen für einen Historiker. Indem er darauf ver-
gel, in dem bekannte Gefühle oder sogar die Ver-
zichte, in strenger Quellenkritik die Fakten zu fin-
wirklichung eigener Fantasien wiedererkannt wer-
den und darzustellen, erscheine sein Vorgehen un-
den können. Ihre Arbeiten sind sowohl
beweisbar und unwissenscha�lich. »Geschichte
Aussagen über das Wesen der Menschen, als auch
ist die Wissenscha� dessen, was da ist, nicht des-
über das Wesen der Kunst. Die Grenzen werden
sen, was nach geheimen Absichten des Schicksals
spielerisch verschoben und unablässig in Frage ge-
etwa wohl sein könnte.«, zitiert er Herder in sei-
stellt. Als Subjekt und Objekt ihres Werkes, schaf�
nem Buch »Ungeschehene Geschichte«. Demandt