Red Bulletin (Austria) - Interview with Audrey Saint-Gil

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Audrey Saint-Gil

VOLLGAS, FORTISSIMO

„Ein gutes Orchester zu dirigieren ist wie Ferrari-Fahren.“

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Saint-Gil fühlte sich schon als Kind in beiden Welten zu Hause. In Toulouse auf­ gewachsen, begann sie im Alter von vier Jahren, an einem ­renommierten Musikkonservatorium Klavier zu lernen. Die Wochenenden verbrachte sie mit ihrer Mutter, einer ­Ex-Skirennläuferin, auf der Skipiste – und bald auch bei den ersten Skirennen. Als Teenager glich sie ihre täg­ lichen vier KlavierunterrichtStunden mit Martial-Arts-­ Training aus und erwarb den Schwarzen Gürtel im Taekwondo. Mit neunzehn machte sie den Privatpilotenschein für die Cessna. Und nebenbei fand sie auch noch Zeit für ­einen Doktortitel in griechischer Philosophie. Man ahnt: Saint-Gil ist nicht für halbe Sachen zu haben. Anfang zwanzig entdeckte sie das Motorradfahren für sich. „Bis dahin haben mich Motorräder überhaupt nicht interessiert“, sagt sie. Aber dann fiel ihr in einem Magazin das Bild einer Suzuki SV 650 S ins Auge. Volltreffer! „In diesem Moment beschloss ich, den Motorrad-Führerschein zu machen und mein Auto zu verkaufen.“ Mehrere Jahre lang verzichtete sie komplett

DARIO ACOSTA

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s gibt zwei Momente, in denen sich Audrey Saint-Gil voll und ganz verliert, in denen sie zugleich hundert Prozent fokussiert und ganz Instinkt ist. In denen sie den Rest der Welt ausblendet. Wenn sie ein Orchester ­dirigiert. Und wenn sie mit Tempo 280 Superbike fährt. Passt nicht zusammen? ­Abwarten. Für Saint-Gil sind KlassikKarriere und Abenteuerlust zwei Seiten derselben Me­ daille. Mit einer großen Gemeinsamkeit: dem Adrenalinrausch. „Beim Extremsport gehe ich hart an meine Grenzen und lerne mich dabei selbst kennen, erkenne meine Ängste und meine Potenziale. Genau diese Erfahrungen kann ich mir auch in der ­Musik zunutze machen.“

RACHAEL SIGEE

Audrey Saint-Gil ist Dirigentin und MotorradRennfahrerin. Für die Französin kein Widerspruch. Denn sowohl im Konzertsaal als auch auf der Rennstrecke geht es vor allem um eines: die Intensität der Instinkte.


Audrey Saint-Gil arbeitet an der Los Angeles Opera an der Seite von Plรกcido Domingo. 2019 dirigiert sie die Tiroler Festspiele in Erl.


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„Wenn du dir im Rennen einen Moment des Selbstzweifels erlaubst, begehst du schon einen Fehler.“

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sem Potenzial absoluter Ex­ zellenz machst – aus der aus­ gereizten Spitzentechnologie des Autos oder aus dem ge­ ballten Talent ausgewählter Spitzenmusiker.“

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iesen Sommer wird Saint-Gil bei den Tiroler Festspielen in Erl drei Aufführungen von Verdis Oper „Aida“ dirigieren. Beim Interview im März hat sie be­ reits eine Kopie der Partitur bei sich, übersät mit roten An­ merkungen. „Ein Konzert ist wie ein Rennen“, betont sie noch einmal. „Du bereitest dich mental auf den Kurs vor. Du machst dich mit den Kur­ ven vertraut, definierst deine Linie in den Schlüsselstellen. Dann kannst du im Rennen immer schon einen Schritt ­vorausdenken. Und im Kon­ zert auch.“ Trotz akribischer Vorberei­ tung, präzisen Trainings und eiserner Selbstdisziplin liegt der ultimative Reiz für SaintGil immer im Instinktiven – egal ob auf dem Motorrad, im Flugzeug oder im Konzertsaal. „Wirklich interessant finde ich nur etwas, was Emotionen in mir weckt, etwas, was eine ­unmittelbare Reaktion in mir auslöst.“ Ihr Publikum hat das Recht, das Gleiche zu fordern, findet sie. „Oft sind die Leute

bei klassischen Konzerten sehr gehemmt. Man sitzt da und ist nicht sicher, was man als ge­ bildeter Zuschauer gut finden darf oder wie man sich verhal­ ten soll. Dabei ist es ganz ein­ fach: Du musst gar nichts. Du gehst in die Oper so, wie du ins Kino gehst. Du willst etwas fühlen. Und wenn du nichts fühlst, dann ist es langweilig.“ Dass jemandem langweilig werden könnte, wenn SaintGil dirigiert, ist allerdings schwer vorstellbar, wenn man ihr einmal beim Schwärmen zugehört hat: „Stell dir die aufregendsten Momente dei­ nes Lebens vor und multipli­ ziere sie mal hundert“, be­ schreibt sie die Erfahrung am Dirigentenpult. „Du stehst ­inmitten eines Orkans von Musik, du fühlst dich wie ein Surfer auf einer gigantischen Welle. Und nichts ist statisch, alles bewegt sich: Du weißt, wie es weitergehen muss, aber trotzdem ist da dieser Moment der Unsicherheit, ob es in die richtige Richtung gehen wird. Das sind Momente absoluter Intensität.“ Wie am Motorrad mit 280.

Audrey Saint-Gil mit ihrer BMW S 1000 RR auf der Rennstrecke: „Du musst dich auf ein Konzert wie auf ein Rennen vorbereiten.“

Audrey Saint-Gil dirigiert am 6., 12. und 19. Juli die Oper „Aida“ in Erl. Infos: tiroler-festspiele.at

ETECH PHOTO

auf vier Räder und ging ganz in ihrem neuen Hobby auf. „Egal ob Regen oder Schnee, ich war jeden Tag auf dem Motorrad, auf dem Motorrad, auf dem Motorrad.“ Die Wochen­enden verbrachte sie jetzt regelmäßig in der öl­ geschwängerten Atmosphäre der Rennstrecke von Tou­ louse, im Pulk mit anderen Motorradfahrern und auf ­einer Honda CBR 900, von der sie mit ihren 1,55 Metern kaum zum Boden reichte. Heute, 20 Jahre später, hat die inzwischen 41-Jährige nicht nur speziell für sie an­ gefertigte Boots, die ihr hel­ fen, die Pedale leichter zu er­ reichen. Sie hat mittlerweile auch eine ganz spezielle Er­ klärung für die Harmonie, die sie aus den beiden scheinbar so polaren Bereichen ihres Le­ bens zieht: Beide Erfahrungen helfen ihr, körperliche und geistige Limits zu pushen. „Wenn du dir im Rennen einen Moment des Selbstzwei­ fels erlaubst, begehst du schon einen Fehler“, erklärt sie. „Du musst ganz präsent sein, oder du bist tot. Du darfst nicht überlegen, wann du bremsen musst. Wenn du nachdenkst, klebst du schon in der Wand. Du musst schneller sein als dein Hirn, eine Entscheidung schon umsetzen, während du sie triffst.“ Saint-Gil lässt den Gedanken für einen Moment setzen. Und fährt dann fort: „Mit der Musik ist es genau das Gleiche. Ein gutes Orches­ ter zu dirigieren ist wie Ferrari zu fahren. Es liegt allein in deiner Hand, was du aus die­

THE RED BULLETIN


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