Gehirn&Geist

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da s maga zin für psychologie und hirnforschung

www.gehirn-und-geist.de DOSSIER Nr. 2/2007

€ 8,90

Schweiz 17,40 sFr Österreich € 9,70 Luxemburg € 10,–

Psychologie · Hirnforschung · Medizin · Pädagogik · Philosophie

gute arbeit!

DOSSIER

Gute Arbeit! Gehirn&Geist DOSSIER 2/2007

Mit Psychologie erfolgreich im Job coaching

Karriereplanung mit Köpfchen

starke teams

Wissen kommunizieren will gelernt sein

Work-Life-Balance

Leben und Arbeit im Einklang


EDITORIAL Katja Gaschler ist stellvertretende Chefredakteurin von Gehirn&Geist. gaschler@gehirn-und-geist.de

Mehr als »nur« ein Job »Für mich ist ein Job nur ein Job, schließlich arbeite ich, um zu leben – nicht umgekehrt!«, sagte vor einiger Zeit ein Bekannter zu mir. Das klang logisch, und ich gab ihm Recht. Wozu sich über seinen Traumberuf den Kopf zerbrechen: Muss man heute nicht dankbar sein, wenn man überhaupt eine Stelle hat? Die Zweifel kamen mir hinterher. Haben Sie schon einmal schonungslos kalkuliert, wie viele Stunden Sie täglich für Ihren Job opfern? Vielleicht sind es »nur« acht, vielleicht aber auch zehn oder gar zwölf – wenn Sie zum Beispiel zu den Pendlern gehören (siehe Artikel S. 68, »Der Preis der Mobilität«). Durchschnittlich sieben Stunden Schlaf braucht der Mensch, um sich von seinem Tagwerk zu erholen – mehr als 4 bis 5 Stunden bewusst verlebter Feierabend sind also meist nicht drin. Fazit: Wer Arbeit lediglich als Mittel zum Zweck sieht – nämlich sich das »eigentliche Leben« zu finanzieren –, hat wahrlich nicht viel zu lachen. Was tun, wenn die Arbeit partout keine Erfüllung schenkt, wenn der Chef ein Fiesling ist und die Kollegen nur nerven? Ein Stellen- oder gar Berufswechsel kann durchaus sinnvoll sein (siehe unseren Artikel über »Coaching« ab S. 6). Doch das hilft nicht immer weiter. Denn Psychologen zweifeln daran, dass die Zufriedenheit im Job allein am Arbeitgeber hängt: Eine kollegiale Atmosphäre, flexible Arbeitszeiten, überdurchschnittliche Bezahlung, leistungsbezogene Prämien und Entwicklungsmöglichkeiten – all das erhöht die Freude am Beruf zwar messbar. Nicht zu unterschätzen ist aber auch die eigene Einstellung. Jede Arbeit kann befriedigend sein, erklären die Nachfolger des berühmten Psychiaters Viktor Frankl – die »Logotherapeuten«: Sinn erlebt, wer ihn sich schafft (siehe Artikel S. 20). In diesem Sonderheft finden Sie die besten Artikel aus Gehirn&Geist zum Thema Berufs­ leben. Lesen Sie, wie man dem allgegenwärtigen Zeit- und Leistungsdruck Paroli bietet (S. 42), wie die Kommunikation im Team besser klappt (S. 26) und wie Sie die Fallstricke der »modernen Hilfsmittel« Handy, E-Mail und Internet (S. 36) gekonnt umgehen. Wir meinen: Es gibt viele Möglichkeiten, den Spaßfaktor bei der Arbeit zu erhöhen – und so in kleinen Schritten aus dem Beruf eine Berufung zu machen. »Gute Arbeit!« wünscht Ihre

GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


INHALT 6

CHANCEN r

Wegbegleiter zum Erfolg

6

Private Karriereberatung boomt. Doch wie findet man den richtigen Coach?

Aus Erfahrung gut

12

Oft gelten jüngere Stellenbewerber als leistungs­fähiger. Zu Unrecht, wie Arbeitsphysiologen herausfanden: Die Stärken sind nur anders verteilt

Beruf und Berufung

20

Der »Sinn des Lebens« steht im Zentrum der Lehre des berühmten Psychiaters Viktor Frankl. Seine Erkenntnisse lassen sich auch auf den Beruf übertragen

KOMMUNIKATION r

Von Kopf zu Kopf

26

»Wie – das kapierst du nicht!?« Oft klappt die Verständigung im Team alles andere als reibungslos. Die besten Methoden für einen erfolgreichen Informationaustausch

ziele De f i n i e r e n

Herausfinden, was man eigentlich will – gar nicht so einfach. Doch als Lohn winkt: eine sinnerfüllte Arbeit

Besser schreiben

32

Gute Briefe oder Texte zu verfassen ist den wenigsten in die Wiege gelegt. Kein Grund zum Verzagen: Ein klarer Schreibstil lässt sich durchaus trainieren

Das Dumme an der emotionalen Intelligenz

26

35

Soziale Kompetenzen stehen derzeit hoch im Kurs. Doch was sagt der ominöse »EQ« wirklich aus?

Im Clinch mit Kollegin Technik

36

Mobilfunk, Computer und Internet sind aus dem Berufs­ alltag kaum mehr wegzudenken – und stellen uns psycho­ logisch gesehen vor ganz neue Herausforderungen

WORK-LIFE-BALANCE r

Loslassen vor dem Fall

42

Wer sich beim Arbeiten nicht hin und wieder eine ­ Aus­zeit gönnt, riskiert den seelischen wie körperlichen Absturz. Was hilft gegen das »Burn-out-Syndrom«?

Wenn der Job zur Droge wird

50

Interview mit dem Arbeitsforscher Holger Heide über Ursachen und Warnsignale der Arbeitssucht

Richtig ko m m u n i z i e r e n

Ötzis Erbe

Damit Nachrichten besser ankommen, sollten ­Teampartner möglichst viel voneinander wissen

Auf Stress reagieren wir heute nicht anders als damals der Steinzeitmensch – allerdings hätte er für viele unserer Alltagssorgen wohl nur ein Lächeln übrig gehabt

54


dossier 2/2007 GUTE

Mehr Frust als Lust?

60

Sorge um den Arbeitsplatz, Überforderung sowie stän­diger Zeitdruck erhöhen das Risiko für eine Depres­sion – die bei »Hochleistern« oft zu spät erkannt wird

Der Preis der Mobilität

ARBEIT!

42

68

Wer als Berufstätiger darüber nachdenkt, aufs Land zu ziehen, sollte sich das gut überlegen. Eine psychologische Kosten-Nutzen-Analyse des Pendelns

IM FOKUS ARBEITSLOSIGKEIT Psyche im Abschwung

74

Wer seinen Job verliert, braucht für Seelenleid nicht zu sorgen. Auch wenn Arbeitslosigkeit heute nicht gleich zu Armut führt, stellt sie stets eine große psychische Belastung dar

Job weg – und nun?

80

Interview mit dem Bremer Psychologen Thomas Kieselbach über die gesundheitlichen Folgen von Kündigung und Arbeitsplatzunsicherheit

stress bewältigen

Ohne Fleiß kein Preis! Doch übermäßiger Ehrgeiz kann auch krank machen. Wie man lernt loszulassen

VERKAUFEN Im Kopf des Verbrauchers

82

Welches Design gefällt am besten? Wie wichtig sind Marken? Um solche Fragen zu beantworten, schauen Neuro­wissenschaftler dem Konsumenten direkt ins Gehirn

Selbst­erkenntnis dank Neuromarketing

96

87

Uli Winters über seine Erfahrungen in der Marktforschung

Werben ohne Sex

88

Nackte Haut erregt Aufmerksamkeit – keine Frage. Doch kurbeln entsprechende Anzeigen wirklich den Verkauf an?

Der Klassik-Effekt

96

Musik lässt die Kassen klingeln – und das nicht nur im Plattenladen! Auch im Supermarkt beeinflussen Auswahl der Stücke und Lautstärke das Konsumverhalten

Editorial Impressum

3 40

Die auf der Titelseite angekündigten Themen sind mit r gekennzeichnet Titelmotiv: F1 Online / PhotoAlto

Gehirn&Geist – das Magazin für Psychologie und Hirn­forschung aus dem Verlag Spektrum der Wissenschaft

Verkaufen mit M usik

Was hat Mozart mit erlesenem Wein zu tun? Eine ganze Menge, wissen geschäftstüchtige Einzelhändler


chancen altern und arbeit

Aus Erfahrung gut Viele Personalchefs stellen lieber junge Leute ein. Dabei zeigt die Forschung: Betagte graue Zellen arbeiten nicht unbedingt schlechter – manches kÜnnen sie sogar besser.


Alle Fotos dieses Artikels: Gehirn&Geist / Manfred Zentsch

Von Michael Falkenstein und Sascha Sommer

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iel zu langsam, vergesslich, un­ flexibel. Unter Zeitdruck häu­ fen sich die Fehler, Teamwork ist ihnen fremd und neue Tech­ nologien sowieso: Das denken viele über ältere Arbeitnehmer. Prompt entschei­ den sich Personalleiter häufiger für den Mittzwanziger. Nur leider geht diese weit verbreitete Praxis am Arbeitsmarkt vorbei. Das Ren­ teneintrittsalter steigt, und damit die Zahl derer, die länger arbeiten müssen. Gleichzeitig fehlt es dank schwacher Geburtenrate an Nachwuchs. In einigen Branchen kommt es so bereits jetzt zu ­einer paradoxen Situation, etwa bei ­Ingenieuren: Während viele von ihnen mit Mitte 40, Anfang 50 bereits große Schwierigkeiten haben, einen neuen Job zu finden, klagen Arbeitgeber und Be­ rufsverbände gleichzeitig lauthals über

Bewerber­mangel – denn an jungen, gut ausgebildeten Fachkräften fehlt es. Auf die große Zahl qualifizierter Älterer wird dennoch nicht geachtet. Hier tut Um­ denken Not. Denn wer den Bewerber »plus 45« automatisch zum alten Eisen rechnet, der übersieht womöglich eine große Arbeitskraftressource. Was ist von der Skepsis gegenüber Äl­ teren zu halten – sind es nur Vorurteile, oder leisten höhere Semester tatsächlich schlechtere Arbeit? Wenn ja, bei welchen Aufgaben? Meistern sie dafür andere Pro­ bleme besser als die Jungen? Und wie kann ein Arbeitgeber mögliche kognitive Defizite älterer Mitarbeiter auffangen – etwa indem er die Arbeitsplätze anders gestaltet? Diese Fragen untersuchen Neurowissenschaftler und Psychologen im Rahmen der so genannten kognitiven Alternsforschung. Bemerkenswert ist, dass es bei fast al­ len »alterskritischen« Aufgaben eklatante Leistungsunterschiede zwischen Älteren

Mit ein paar Jährchen mehr Otmar Fahrion (links), Geschäftsführer von Fahrion Engineering in Kornwestheim, und drei Mitarbeiter (oben) beim Eindocktest des Air­bus A 380. Der Chef, selbst Jahrgang 1940, stellt bewusst Ingenieure über 50 ein. »Nicht aus Mitleid«, sagt der kühle Rechner, »sondern weil sie für unsere innovativen Projekte genau die Richtigen sind.« GEHIRN&GEIST DOSSIER: Psyche im Job

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altern und arbeit der alternde Mensch zwangsläufig Defi­ zite entwickelt. Und noch etwas anderes belegt die Forschung: Von mĂśglichen Al­ tersdefiziten sind nur manche Hirnpro­ zesse betroffen. Dass beim Ă„lterwerden generell alle kognitiven Funktionen he­ runtergefahren werden, glaubt heute kein Experte mehr. Vielmehr kĂśnnen be­ stimmte Prozesse sogar gestärkt werden, etwa um die Verlangsamung an anderen Stellen zu kompensieren. Seit einigen Jahren zeigt sich in Unter­ suchungen mit bildgebenden Verfahren, dass bei Ă„lteren die neuronalen Netz­ werke umstrukturiert werden: Das Ge­ hirn aktiviert dann fĂźr manche Aufgaben einfach andere Hirnareale als bei jungen Menschen. Beispielsweise konnte Cheryl Grady vom Rotman Research Institute in Toronto nachweisen, dass bei älteren und jungen Probanden unterschiedliche Ge­ biete der GroĂ&#x;hirnrinde an der Erken­ nung von Gesichtern beteiligt sind. Roberto Cabeza von der Duke Uni­ versity in North Carolina konnte zeigen,

Eine Frage des Potenzials BVEJUJW BVEJUJW

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dass bei einer Gedächtnisaufgabe Seni­ oren mit schlechter Leistung ähnliche Hirnregionen aktivieren wie Junge, wäh­ rend Ă„ltere mit guter Leistung ein an­ deres Aktivierungsmuster zeigten. Das macht deutlich, dass neurales Umstruk­ turieren dem Ausgleich von Leistungs­ defiziten dienen kann – nur offenbar sind nicht alle Ă„lteren dazu in der Lage.

Vorsprung durch soziale Kompetenz Eines haben ältere Menschen der Jugend auf alle Fälle voraus: ihr Erfahrungs­ wissen. Forscher sprechen von Âťkristalli­ nerÂŤ Intelligenz, die Allgemeinwissen und ‑verständnis sowie den Wortschatz umfasst. Weiterhin besitzen Ă„ltere oft eine hĂśhere soziale Kompetenz als Junge. Das wird auch zunehmend von Arbeit­ gebern erkannt, die eher den erfahrenen Mitarbeiter fĂźr Kundenkontakt und kompetente Beratung einsetzen. Leis­ tungen in Teilbereichen der kristallinen Intelligenz bleiben bei gesunden älteren Menschen konstant oder steigen sogar.

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In der modernen Arbeitswelt kommt es auf Erfahrungswissen jedoch häufig weniger an. Was zählt, ist Flexibilität und Geschwindigkeit. So haben Berufs­ kraftfahrer oft täglich wechselnde Rou­ ten und mĂźssen sich unter Zeitdruck in immer neuen Umgebungen orientieren. FĂźr diese Fähigkeiten benĂśtigt man die ÂťfluideÂŤ Intelligenz. Zu ihr zählen Leis­ tungen wie zum Beispiel der Wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben, die Ausrichtung der Aufmerksamkeit und die Hemmung irrelevanter und ablen­ kender Informationen. In diesem Bereich bauen ältere Men­ schen in der Tat ab. Besonders schwer fällt es ihnen, zwei Aufgaben zu koordi­ nieren, wie die Psychologin Jutta Kray von der Universität SaarbrĂźcken heraus­ fand: Sie präsentierte Probanden unter­ schiedlichen Alters farbige oder graue Bilder, auf denen entweder ein Rechteck oder ein Dreieck abgebildet war. Nun mussten die Betrachter bei jedem Ob­ jekt auf dem Bildschirm – beispielsweise einem roten Rechteck – entweder an­

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Gehirn&Geist / Siganim, nach: Michael Falkenstein

r selbst gibt. Was nicht bedeutet, dass je­

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Bei älteren Probanden schlagen die Hirnstromwellen in der auf S. 16 beschriebe­ nen ÂťWahlreaktionsaufgabeÂŤ zunächst deutlicher aus als bei jĂźngeren, wenn sie Buchstaben hĂśren oder sehen (oben links). Damit zeigen die ÂťEreigniskorrelierten PotenzialeÂŤ (EKPs), dass ihre Gehirne mehr leisten mĂźssen, um einen Reiz genauso gut wahrzunehmen. Warum Ă„ltere das Erkennen dennoch verspätet per Tastendruck signa­ lisieren, enthĂźllen die ÂťLateralisierten BereitschaftspotenzialeÂŤ (LRPs, rechts). Sie sind stärker und dauern länger als bei Jungen – deswegen reagieren ihre Finger später. JĂźngere Gehirne lassen sich leichter ablenken: In dem auf S. 18 erklärten ÂťAb­ lenkungsversuchÂŤ reagieren Ă„ltere auch dann noch richtig auf den mittleren Pfeil (links), wenn sie vorher mit irritierenden Symbolen konfrontiert wurden, die in die falsche Richtung zeigen (ÂťinkongruentÂŤ). Das LRP bringt an den Tag, warum: Ihr Ge­ hirn reagiert später – und vermeidet dadurch den Fehler.


geben, welche geometrische Figur sie ­sahen, oder aber, ob diese farbig oder grau war. Der Knackpunkt des Experiments lag darin, dass die Probanden nach einem vorgegebenen Muster zwischen diesen beiden Aufgaben wechseln mussten. So bekamen sie etwa vorher mitgeteilt, dass sie zweimal hintereinander auf die Farbe, die nächsten beiden Male auf die Form zu achten hatten, und so fort. Dabei zeigte sich, dass die Älteren im Durchschnitt immer dann schlechtere Leistungen brachten, wenn sie von einem Aufgabentyp zum nächsten springen sollten. Ihre kognitiven »Wechselkosten« waren also höher. Offenbar waren hier grundlegende Fähigkeiten kognitiver Kontrolle betroffen: Denn die Schwie­ rigkeiten ließen sich nie ganz wegtrainie­ ren, sondern traten noch nach vielen ex­ perimentellen Durchläufen auf. Aber es gibt auch eine gute Nachricht. Solche Defizite lassen sich möglicherwei­ se durch eine leichte Anpassung der Auf­ gabe beheben. So schnitten die Äl­

Lust auf neue Lösungen Dass beim Ausliefern von Jogurt immer so viele Becher kaputtgehen, störte den Schwaben Fahrion – hier mit Projektmanager Roland Schuster (56, links) –, also ließ er ein neues Transportsystem austüfteln. »Wir finden neue Lösungen für alle möglichen Branchen.« Dafür braucht er erfahrene Mitarbeiter, die sich vom Schiffsbau bis zur Suppenproduktion in alles hineindenken. »Der Spezialist, der sich nur mit dem Türschloss auskennt, hilft uns nicht: Was zählt, ist der Blick auf die ganze Tür.« GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

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altern und arbeit r teren bei Krays Wechselaufgabe wesent­

lich besser ab, wenn sie sich die relevante Information vorsprachen. Sie sagten also etwa »Farbe«, wenn es darum ging, zwi­ schen »farbig« und »grau« zu unterschei­ den. Das deutet da­rauf hin, dass sich ein altersbedingter Leistungsabbau vermei­ den lässt, wenn die Arbeitssituation ent­ sprechend gestaltet wird.

Knifflige Fingerübungen Manches so genannte Altersdefizit er­ scheint differenzierter, sobald die hirn­ physiologischen Grundlagen genauer untersucht werden. Unsere eigene Ar­ beitsgruppe stellte sich kürzlich zusam­ men mit Juliana Yordanova und Vasil Kolev von der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften in Sofia die Frage, wieso Ältere eigentlich langsamer in Gang kommen als Junge, wenn sie auf verschiedene Reize unterschiedlich rea­ gieren sollen. Wir präsentierten Probanden unter­ schiedlichen Alters die vier Buchstaben­ reize A, E, I und O, die in zufälliger Rei­ henfolge nacheinander auf dem Bild­ schirm erschienen oder aber über Kopfhörer gesprochen wurden. Die Ver­ suchspersonen bekamen die Anweisung, so schnell wie möglich eine Taste zu drü­ cken, wobei sie auf jeden Buchstaben mit einem anderen Finger reagieren soll­ ten: jeweils mit dem Mittel- oder Zeige­ finger der rechten oder aber der linken Hand. Die Probanden mussten also in dieser »Wahlreaktionsaufgabe« jeweils wieder neu entscheiden, wie sie darauf reagieren. Gleichzeitig maßen wir die Hirnaktivität der Probanden per Elek­ troencephalogramm. Bei Sinneswahrnehmungen oder ko­ gnitiven Prozessen treten stets bestimmte Wellen auf, die so genannten Ereignis­ korrelierten Potenziale (EKP). An den einzelnen Komponenten des EKP ist der Ablauf neuronaler Prozesse ablesbar. In unserer Reaktionsaufgabe etwa stehen die ersten Abschnitte des Signals für die Verarbeitung des Reizes. Spätere Wellen bilden Denk- und Entscheidungspro­ zesse ab, und kurz vor der eigentlichen Reaktion des Fingers zeigt eine Kompo­ nente die Vorbereitung dieser Bewegung an. Bei unserem Versuch waren die Re­ 16

aktionszeiten der Probanden wie erwar­ tet bei den Älteren etwas länger als bei den Jungen – um zirka 60 Millisekun­ den. Gleichzeitig machten die Älteren etwas weniger Fehler. Wie kommt diese Verlangsamung zu Stande? Aus diesem Versuch allein lässt sich nicht schließen, bei welchem Verar­ beitungsschritt die älteren Gehirne Zeit verlieren: ob beim Sehen oder Hören, bei der Entscheidung für einen Finger oder aber, wenn die motorische Reaktion vorbereitet und durchgeführt wird. Um das herauszufinden, unternahmen wir ei­ nen Kontrollversuch. Hier sollte auf die gleiche Art Reize wie im ersten Experi­ ment reagiert werden, allerdings immer mit demselben Finger. Bei dieser vereinfachten Aufgabe wa­ ren natürlich alle Probanden schneller. Aber auch die Unterschiede zwischen den Altersstufen fielen weg: Ältere Versuchs­ personen waren hier statistisch nur un­ bedeutend langsamer als die Jüngeren. Hieraus könnte geschlossen werden, dass die Auswahl des richtigen Fingers – die ja in der Kontrollaufgabe nicht nötig ist – den entscheidenden Prozess darstellt, der höhere Semester bei der Wahlreaktions­ aufgabe langsamer reagieren lässt. Und was ergeben nun die Ereigniskor­ relierten Potenziale in dieser Frage? Für uns überraschend war, dass die frühen Komponenten, welche die Reizerken­ nung widerspiegeln, bei den Älteren deutlich größer waren als bei den Jungen (siehe Grafik S. 14). Offenbar müssen Äl­ tere bereits bei der Reizverarbeitung et­ was kompensieren, das heißt, das Gehirn leistet hier mehr, um zum gleichen Er­ gebnis zu kommen wie bei den Jungen. Zudem waren die EKPs nach visu­ ellen Reizen bei den Älteren um einige Millisekunden verzögert, jedoch nicht nach akustischen. Das zeigt, dass die vi­ suelle Verarbeitung bei Älteren zwar tat­ sächlich etwas verlangsamt ist, allerdings nur wenig. Dies erklärt also noch nicht, warum sie bei der Wahlreaktionsaufgabe deutlich später auf die Tasten drücken als Junge – und zwar bei Seh- wie bei Hör­ reizen, obwohl die auditorische Reizver­ arbeitung ja nicht verzögert war. Die Erklärung fanden wir in der EKPKomponente, welche die Reaktionsakti­

vierung widerspiegelt: Wenn jemand ei­ nen bestimmten Finger bewegt, zeigt sich kurz zuvor im primär-motorischen Hirn­ areal, das diesem Finger zugeordnet ist, ein steiler Aktivitätsanstieg. Dieses so ge­ nannte Lateralisierte Bereitschaftpoten­ zial (LRP) zeigt also direkt an, wie stark das Gehirn eine Reaktion vorbereitet. Das elektrische Signal setzte bei Äl­ teren ohne Verzögerung ein. Allerdings war es bei ihnen deutlich stärker. Und bis die Reaktion schließlich ausgelöst wurde, ging mehr Zeit verloren. Der Grund für die Verlangsamung ist also nicht etwa, dass die Entscheidung länger dauert. Er ist vielmehr in der mo­ torischen Vorbereitung zu finden, die dann zum Druck auf die Taste führt. Für diesen Effekt sind zwei Ursachen denk­ bar. Zum einen könnte bei Älteren das GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


motorische Zentrum weniger empfind­ lich sein. Aber das ist unwahrscheinlich, da es dann auch in der Kontrollaufgabe einen Unterschied zwischen Älteren und Jüngeren hätte geben müssen.

Lob der Langsamkeit Wir plädieren daher für die zweite Erklä­ rung: Die Reaktionsschwelle scheint bei Älteren aus strategischen Gründen er­ höht zu sein – um bei der Wahlaufgabe vorsichtiger zu reagieren und so Fehler zu vermeiden. Das passt zu den Ergeb­ nissen aus zahlreichen weiteren EKPUntersuchungen: Ältere Gehirne schei­ nen oft nach dem Prinzip »lieber etwas langsamer, aber dafür richtig« zu Werke zu gehen. Unser Fazit aus dieser Studie: Ältere hören nicht schlechter und verar­ beiten auch visuelle Reize nur unwesent­ GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

lich schlechter; ihr Gehirn trifft genauso schnell Entscheidungen für eine be­ stimmte Reaktion – nur ihre motorische Schwelle liegt höher. Dies hat wichtige Konsequenzen für den Berufsalltag. Arbeiten, die häufiges Entscheiden und Kategorisieren erfor­ dern, sind beispielsweise Sortieraufgaben in der Qualitätskontrolle. Da unsere Stu­ die nahe legt, dass die Prozesse bei Äl­ teren nicht entscheidend beeinträchtigt sind, gibt es keinen Anlass, ihnen diese Arbeiten nicht zu übertragen. Die hö­ here Reaktionsschwelle führt zwar zu ei­ ner leichten Verlangsamung, die aber auch ihre Vorteile haben kann: Eine ge­ ringere Fehlerrate ist gerade in der Qua­ litätskontrolle von großer Bedeutung. In einem weiteren Experiment konn­ ten wir bestätigen, dass Ältere bei be­ r

»Die Älteren sind flexibler« Der Mittelständler Fahrion baut Hightech in aller Welt: Schienentechnik für den Transrapid genauso wie Werften an der Ostsee oder in Griechenland. Die Mitarbeiter müssen auch mal für ein paar Monate nach China. Sind Ältere dafür nicht zu unbeweglich? »Völliger Quatsch«, meint der Chef. Die Jüngeren würden sich viel eher zieren – die wollen nicht ins Ausland, weil sie gerade ihr Häuschen bauen oder kleine Kinder haben. Ältere dagegen sind aus der Nestbauphase raus und daher voll einsetzbar.

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Gemischtes Dreamteam Andreas Linnemann (43, links) hat es schon immer fasziniert, wie effizient ältere Kollegen mit ihrer Arbeitszeit umgehen: »Die müssen keine Überstunden machen, weil sie ihre Sachen in kürzerer Zeit erledigen – und das mindestens genauso gut wie die Jungen.« Davon könnten Berufsanfänger eine Menge lernen. Hier bespricht Linnemann mit dem Leiter der Fabrikplanung Alfred Pfeiffer (56) und seiner Kollegin Stefanie Buhl (33) die Konstruktion einer Fertigungsstraße. Gemischte Teams in Sachen Alter sind bei Fahrion Alltag – was zählt, ist die Qualifi­ kation.

r stimmten Aufgaben deutlich weniger

Fehler machen als Jüngere – und zwar dann, wenn es darauf ankommt, sich nicht so schnell ablenken zu lassen. Das ist überraschend, denn eigentlich gelten höhere Semester als anfälliger für Ablen­ kung: etwa, wenn sie sich auf einen ein­ zigen Gesprächspartner konzentrieren sollen, während sich um sie herum viele Menschen unterhalten. Wir arbeiteten mit visuellen Stimuli, die der Neuropsychologe Bruno Kopp (Universität Braunschweig) entwickelt hat: Pfeile, die in der Mitte eines Monitors erschienen. Auf diese sollten unsere Pro­ banden verschiedenen Alters per Tasten­ druck reagieren – jeweils mit der Hand, auf die die Pfeilspitze gerade zeigte. 18

Kurz vor dem Erscheinen des Ziel­ reizes lenkten wir die Probanden ab, in­ dem wir oberhalb und unterhalb der Monitormitte flankierende Pfeilspitzen aufleuchten ließen. Jeweils in der Hälfte der Fälle zeigten diese in die gleiche Richtung (»kongruent«, siehe Grafik auf S. 14) oder in die Gegenrichtung des Zielpfeils (»inkongruent«), auf den rea­ giert werden sollte.

Fehler vermeiden durch Besonnenheit Bei Ablenkung durch gegengerichtete Reize sind die Reaktionszeiten unabhän­ gig vom Alter deutlich länger, und die Fehlerrate steigt bei allen. Das zeigt sich auch im Lateralisierten Bereitschaftspo­

tenzial, das zuerst nach oben ausschlägt und damit anzeigt, dass die falsche Reak­ tion – die falsche Hand – aktiviert wird. Erst danach erfolgt die richtige Aktivie­ rung, ablesbar an der Kurve nach unten. Ältere sind für die Ablenkreize min­ destens so stark empfänglich wie Junge, was sich in einem deutlichen Ausreißer ihrer Kurve nach oben niederschlägt. Außerdem zeigt sich, dass die richtige Reaktion, also das »Tal« der Welle, tiefer ist als bei den Jüngeren – und dass ihre Aktivierung insgesamt später erfolgt. Trotzdem unterlaufen den Älteren bei der Aufgabe nur halb so viele Fehler wie den Jungen. Warum? Die höhere Schwelle, die sich im ver­ größerten Lateralisierten Bereitschaftpo­ GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


tenzial widerspiegelt, kann das nicht al­ einen Ring, der an einer bestimmten Sei­ lein erklären. Denn dann müssten die te geöffnet war. Nur bei der Hälfte der Fehlerraten auch bei unseren Tests zur gezeigten Displays trat der Reiz aber tat­ Wahlreaktion deutlich niedriger sein, was sächlich auf. Wenn die Probanden ihn kaum der Fall war. entdeckten, sollten sie eine Taste drü­ Uns fiel jedoch auf, dass die LRPs bei cken. Ihre Suchzeit war dabei auf 1,5 Se­ den Jüngeren früher starten als bei Äl­ kunden begrenzt – auch im Verkehrsge­ teren. Sie springen also auf die falschen schehen steht ja oft nur eine kurze Such­ Flankierreize so schnell an, dass der Feh­ zeit zur Verfügung. ler nicht mehr aufzuhalten ist – und sie Bei dieser Aufgabe hatten die Älteren die falsche Taste drücken. Ältere begin­ durchweg höhere Reaktionszeiten und nen die Reaktionsaktivierung später, was Fehlerraten als die Jungen. Außerdem sie in diesem Fall vor Fehlern schützt. fanden sie den Test besonders anstren­ Die vermeintlich Schwächeren haben gend. Das zeigt sich auch in ihren also gerade durch diese Verzögerung ei­ Hirnstromwellen: Bevor ein Display er­ nen immensen Vorteil. scheint, tritt über frontalen Hirnarealen Solche Situationen können etwa im eine spezielle Vorbereitungswelle auf, die Straßenverkehr vorkommen, wo häufig »Contingent Negative Variation«, und wechselnde Reize auftreten: Wenn an ei­ diese war bei den Älteren deutlich vergrö­ ner großen Kreuzung mit vielen Ampeln ßert. Anscheinend bereitet sich ihr Ge­ der falsche Richtungspfeil auf Grün hirn viel stärker auf die erwartete Auf­gabe springt, legen Jüngere womöglich vor­ vor. Wir werten das als Kompensations­ schnell einen Fehlstart hin. Dem bedäch­ mechanismus, der die Probanden an­ tigeren älteren Gehirn passiert das nicht strengte – aber in diesem Fall leider er­ so leicht. folglos war. Doch die Anfälligkeit für Fehler hängt Offenbar sind solche visuellen stark von der Aufgabe ab, mit der ein äl­ Suchaufgaben unter Zeitdruck für ältere terer Mensch konfrontiert wird. Unsere Arbeitnehmer tatsächlich schwierig. Untersuchungen zeigen etwa, dass er mit Aber auch hier ließe sich das Problem großem Zeitdruck nicht so gut klar beheben – etwa, indem Berufskraftfah­ kommt, vor allem, wenn er etwas mit rern älteren Jahrgangs ein akustisches den Augen suchen muss. Navigationssystem zur Verfügung ge­ Hierzu haben wir schon früher ein stellt wird. Auch dieses darf den Fahrer Experiment durchgeführt: Wir ließen aber nicht ablenken. Wie ein solches Sys­ unsere Versuchspersonen auf einem Bild­ tem zu gestalten wäre, untersuchen wir sfv_oshea_gehirn_geist_1_3q 07.03.2007 Uhrin einer Seite 1 schirm einen Zielreiz suchen, nämlich10:59 gerade EU-finanzierten Studie.

Wenn also altersbegleitende Defizite auftreten, dann spezifisch bei ganz be­ stimmten Tätigkeiten. Da Ältere bei manchen Aufgaben aber sogar besser ab­ schneiden, ist es falsch, sie generell als weniger belastbar einzustufen. Viele ver­ meintliche Defizite lassen sich zudem mit einer geeigneten Arbeitsumgebung kompensieren. Mit neurophysiologi­ schen Methoden können wir die Ursa­ che von altersbegleitenden Leistungsde­ fiziten besser lokalisieren und dadurch auch in Zukunft gezielte Empfehlungen geben, wie Arbeitsplätze gestaltet werden sollten. l Michael Falkenstein ist Leiter der Projekt­ gruppe »Alter und ZNS-Veränderungen« am Institut für Arbeitsphysiologie an der Univer­ sität Dortmund (IfADo). Sascha Sommer ist am gleichen Institut wissenschaftlicher Mit­ arbeiter.

Literaturtipps Schenk, H.: Der Altersangst-Komplex. Auf dem Weg zu einem neuen Selbstbewusst­ sein. München: C.H.Beck 2005. Sehr informativ; mit Kapitel »Arbeit« Yordanova, J. et al.: Sensorimotor Slowing with Ageing is Mediated by a Functional Dysregulation of Motor-Generation Pro­ cesses: Evidence from High-Resolu­tion Event-Related Potentials. In: Brain 127, 2004, S. 351 – 362.

www.fischerverlage.de

Wie eins der größten mathematischen Rätsel aller Zeiten gelöst wurde. Ein Jahrhundert lang verzweifelten die brillantesten Mathematiker an der Lösung der Poincaréschen Vermutung – bis der Russe Gregorij Perelman kam, der das Preisgeld von einer Million Dollar ablehnte. Packend wie ein Roman ist »Poincarés Vermutung« eine Reise in die abenteuerliche Geschichte der Mathematik und ein faszinierendes Porträt der Menschen, die sie betreiben.

Aus dem Englischen von Hartmut Schickert, 384 Seiten, gebunden, ¤ 19,90

GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

Ein Buch von S. FISCHER 19


chancen LOGOTHER APIE

Beruf und Berufung Der Mensch strebt vor allem nach einem: Sinn. Meinen ­jeden­falls Logotherapeuten. Die Nachfolger Viktor Frankls erobern inzwischen auch die Arbeitswelt – denn gerade dort ist das Sinnerleben immens wichtig.

Von Annette Schäfer

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ngagierte Mitarbeiter sind Gold wert, glaubt man etwa den TVSpots der Elektromarktkette Media Markt. Zum Jahresende 2005 lancierte sie eine Werbekampagne, in der überschäumende Lust an Kundenberatung und erstklassigem Service im Mittelpunkt standen: jeder Verkäufer motiviert bis in die Haarspitzen, die alltägliche Arbeit ein Wettstreit um die Gunst der Konsumenten. Ein Trainingscamp für mehr Spaß am Job – so etwas könnten viele Berufstätige hier zu Lande tatsächlich gut gebrauchen. Denn bundesdeutsche Arbeitnehmer scheinen sich schwer damit zu tun, im Beruf mehr zu sehen als nur den Broterwerb. Schwerer jedenfalls als ihre Kollegen in anderen Ländern: Nach einer 2004 durchgeführten Um­frage des Gallup-Instituts spüren 87 Prozent der deutschen Arbeitnehmer keine echte Verpflichtung gegenüber ihrer Tätigkeit, 69 Prozent machen lediglich Dienst nach Vorschrift und 18 Prozent haben innerlich sogar bereits gekündigt. Insgesamt fühlt sich nur rund jeder Zehnte emotional stark an seine berufliche Aufgabe, an das Arbeitsumfeld oder den Arbeitgeber gebunden. In Österreich und der Schweiz 20

gilt dies dagegen für rund jeden Fünften, in den USA sogar für fast jeden Dritten. Den gesamtwirtschaftlichen Schaden der hiesigen »Ist doch bloß ein Job«-Mentalität schätzt Gallup auf rund 250 Milliarden Euro pro Jahr.

Wichtiger als Lob und Zuspruch In krassem Widerspruch zu diesem distanzierten Verhältnis steht die Tatsache, dass eine sinnerfüllte Tätigkeit ganz oben auf der Wunschliste der Berufstätigen steht. In einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts G.R.P. im Auftrag der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege gaben im Jahr 2002 sage und schreibe 92 Prozent der über 5000 Teilnehmer an, dass es für ihr Wohlbefinden im Job wichtig sei, diesen als sinnvoll zu erleben. Erst danach wünschten sie sich eine gut funktionierende Kommunikation mit Kollegen und Vorgesetzten (88 Prozent) und Anerkennung der erbrachten Leistung durch den Chef (86 Prozent). Weniger wichtig finden deutsche Beschäftigte übrigens eine klar definierte Arbeitsteilung (51 Prozent) oder Eigenverantwortung (46 Prozent). Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit mag überraschen – bestätigt jedoch, was Logotherapeuten

schon lange wissen. Denn nach ihrer Meinung treibt den Menschen ein existenzielles Bedürfnis nach Sinn um, auch und gerade im Arbeitsleben. Mehr noch: Das Gefühl, ständig etwas Sinnloses zu tun, könne zu psychischen Störungen wie Depression oder Suchtkrankheit, ja sogar zu körperlichen Beschwerden ­führen. Inspiriert von den schlimmen Erfahrungen, die er als Inhaftierter in verschiedenen NS-Konzentrationslagern machte, entwickelte der österreichische Psy­ chiater und Neurologe Viktor Frankl in den 1940er Jahren einen Ansatz, für den er den Zweiklang »Logotherapie und Existenzanalyse« prägte (siehe Kasten S. 22). Der Ausdruck Logotherapie ist abgeleitet vom griechischen »logos« – auf Deutsch »Wort« oder »Sinn«. Nicht zu verwechseln mit der Logopädie, die sich mit der Behandlung von Sprachstörungen befasst. In Abgrenzung zur Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers wird Frankls Konzept heute auch als Dritte Wiener Schule der Psychotherapie bezeichnet. Während bei Freud und Adler die Triebbefriedigung beziehungsweise das Machtstreben des einzelnen Menschen im Mittelpunkt stehen, betrachtet die Logotherapie die GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


Alle Illustrationen dieses Artikels: Gehirn&Geist / Andreas Rzadkowsky

Sage mir: Was tu ich hier? Wer seine Berufstätigkeit als sinnlos erlebt, kann sich nicht nur schlechter motivieren – ­ er wird auch anfälliger für psychische und körperliche ­Störungen. GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

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logot h er a pie r Sinnsuche als wichtigste Motivation.

Dabei, so das Kredo der Logotherapeuten, gibt es im Grunde keine Situa­ tion, in der jemand nicht letzten Endes doch einen Sinn für sich entdecken kann. Anders ausgedrückt: Es kommt beim Sinnerleben nicht darauf an, was man tut, sondern wie man es tut. Das stellt bis heute eine Grundregel der Lo-

versucht der Therapeut dem Klienten durch gezielte Fragen besser bewusst zu machen, welche Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten dieser besitzt. In einigen Fällen funktioniert auch die »paradoxe Intervention« gut: Hier empfiehlt der Therapeut genau das Gegenteil von dem, was er eigentlich erreichen will. Einem übermäßig schüchternen oder ei-

Viktor Frankl – Begründer der Logotherapie »Wer von denen, die das Konzentrationslager erlebt haben, wüsste nicht von jenen Menschengestalten zu erzählen, die da über die Appellplätze oder durch die Baracken des Lagers gewandelt sind, hier ein gutes Wort, dort den letzten Bissen Brot spendend? Und mögen es auch nur wenige gewesen sein – sie haben Beweiskraft dafür, dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so zu stellen. (…) Die geistige Freiheit des Menschen (…) lässt ihn auch noch bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden, sein Leben sinnvoll zu gestalten.« Es sind Sätze wie diese, die Viktor Frankl berühmt gemacht ­haben. Sein Buch »… trotzdem Ja zum Leben sagen«, in dem der österreichische Psychiater und Neurologe seine Erfahrungen in Ausch­witz, Dachau und Türkheim beschreibt und gleichzeitig die Grundzüge seiner Psychotherapie erläutert, ist ein Weltbestseller. Es wurde in 26 Sprachen übersetzt und erreichte allein in der englischen Ausgabe eine Auflage von 9 Millionen Exemplaren. Die Library of Congress zählt es zu den »ten most influential books in America«. Frankls Suche nach dem Kern der menschlichen Existenz hatte schon früh begonnen. 1905 in Wien als zweites von drei Kindern einer jüdischen Beamtenfamilie geboren, hielt er bereits mit 16 Jahren seine erste öffentliche Vorlesung zum Thema »Der Sinn des Lebens«. Die Einmaligkeit des Menschen liegt in seiner geistigen Unabhängigkeit, seiner Willensfreiheit und Eigen-

Viktor Frankl (1905 – 1997)

Imagno

gotherapie dar. Eine zweite lautet: Dieses entscheidende »Wie« sieht bei jedem Menschen anders aus. Entsprechend versuchen Logotherapeuten – zumeist im Rahmen von Einzelgesprächen – diesem »Wie« auf die Spur zu kommen. Spezielle Techniken helfen bei der individuellen Sinnsuche. Im »sokratischen Dialog« beispielsweise

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verantwortlichkeit – davon war schon der junge Frankl überzeugt. Mit seinen damals von vielen als provokant empfundenen Ideen zog er erhebliche Aufmerksamkeit auf sich. Als Gymnasiast führte er einen regen Briefwechsel mit Sigmund Freud. Der forderte ihn 1924 auf, einen Artikel für das »International Journal of Psychoanalysis« zu schreiben. Da war Frankl gerade 19 Jahre alt und Erstsemester an der medizinischen Fakultät. Im selben Jahr lernte er Alfred Adler kennen, der ihn zur Publikation eines weiteren Artikels, diesmal im »Journal of Individual Psychology«, motivierte. Wegen seiner eigenständigen Ideen wurde er allerdings bald wieder aus dem Zirkel des Begründers der Individualpsychologie verbannt. Nach seinem Studium, in dem er sich auf die Themen Depression und Suizid spezialisiert hatte, arbeitete er zunächst im Psychiatrischen Krankenhaus in Wien. Von 1933 bis 1937 leitete er dort als Oberarzt den »Selbstmörderinnenpavillon«, in dem er jährlich bis zu 3000 suizidgefährdete Frauen betreute. Nach dem »Anschluss« Österreichs an den NS-Staat wurde Frankl untersagt, arische Patienten zu behandeln. Er wich daher in das Rothschild-Spital aus – die einzige Klinik in Wien, die Juden noch offen stand – und übernahm dort die Leitung der neurologischen Abteilung. 1942 wurden Frankl und seine Familie festgenommen und ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Es folgten drei Jahre der Gefangenschaft, in denen er seine Frau Tilly, seine Eltern und seinen Bruder verlor. Über Auschwitz-Birkenau und Dachau kam Frankl schließlich nach Türkheim, wo er beinahe einer Typhus­infektion erlag. Es waren die Erfahrungen dieser Jahre, die ihn zu der festen Überzeugung brachten, dass das ­Leben auch unter den unmenschlichsten Bedingungen noch sinnvoll sei. Ende April 1945 befreite die US-Armee das Lager Türkheim, worauf Frankl nach Wien zurückkehrte. Kurze Zeit später wurde er zum Direktor der Wiener Neurologischen Poliklinik berufen und blieb dort bis 1971. Parallel dazu fand er zunehmend An­ erkennung in der akademischen Welt: Er hatte eine Professur an der Universität von Wien inne, war Gastprofessor in Harvard, Dallas und Pittsburgh und erhielt 29 Ehrendoktorwürden. Frankl schrieb insgesamt 32 Bücher zum Thema Logotherapie und Existenzanalyse. Am 2. September 1997 – im Alter von 92 Jahren – verstarb er in seiner Geburtsstadt Wien.

GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


genbrötlerischen Klienten verordnet er beispielsweise, drei Wochen lang ganz allein in die Kantine zu gehen. Worauf jener dann vielleicht erst recht zusammen mit Kollegen zu Mittag isst! Inzwischen ist Frankls Ansatz in Fachkreisen fest etabliert. So haben die American Medical Society und die American Psychological Association die Logothe­ rapie längst als wissenschaftlich fundierte Behandlungsform anerkannt. Einige wichtige Hypothesen der Logotherapie sind zudem mittlerweile empirisch belegt; etwa jene, dass ein Sinnmangel oft zu gesundheitlichen Problemen führt. Eine Gallup-Studie von 2004 zeigte, dass berufliches Engagement eng mit der Zahl der Fehltage auf Grund von Krankheit oder Unwohlsein zusammenhängt: Arbeitnehmer, die sich mit ihrem Job verbunden fühlten, fielen durchschnittlich nur neun Tage pro Jahr aus, während jene ohne emotionale Bindung es im Mittel auf dreizehn Fehltage brachten. Eine Langzeitstudie eines amerikanischen Forscherteams um Benjamin C. Amick von der University of Texas stellte 2002 sogar einen statistischen Zusammenhang zwischen sinnloser Arbeit und einer erhöhten Sterbewahrscheinlichkeit her. In die Analyse gingen Daten aus den Jahren 1968 bis 1991 von über 8000 Berufstätigen ein, die in dieser Zeit mindestens drei Jahre lang angestellt waren.

Sinnlos stirbt am schnellsten Dabei zeigte sich: Menschen, die ihre Arbeit als wenig fordernd und arm an Gestaltungsspielräumen empfanden, hat­ ten eine um rund 30 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, in den folgenden fünf bis zehn Jahren zu sterben, als Kollegen in anspruchsvollen und eigenverantwortlichen Positionen. Solche »passiven Tätigkeiten« entsprechen laut den Autoren der Studie weit gehend Jobs, die nur wenig sinnstiftenden Inhalt haben. Zunehmend erkennen daher auch Managementexperten die Bedeutung von Frankls Überlegungen – und Unternehmensberater beginnen, logotherapeutisch orientierte Coachings und Seminare anzubieten. Denn auch wenn viele beim Stichwort »sinnerfüllter Beruf« zunächst etwa an Ärzte, Forscher, GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

Feuerwehrleute, Lehrer, Pfarrer oder Künstler denken mögen – aus logotherapeutischer Sicht kann auch der Job einer Putzfrau oder eines Busfahrers, einer Sach­bearbeiterin oder eines Kassierers ebenso viel Sinn stiften. »In den Fällen, wo der konkrete Beruf kein Gefühl der Erfüllung aufkommen lässt, liegt die Schuld am Menschen, nicht am Beruf«, schrieb Frankl schon 1946 in seinem Buch »Ärztliche Seelsorge«. »Sinn in der Arbeit ist eine äußerst subjektive und von der Situation abhängige Angelegenheit«, erläutert der Unternehmensberater und berufsorientierte Logotherapeut Walter Böckmann. »Was für mich sinnvoll ist, kann für andere bedeutungslos sein. Und was mir heute sinnvoll erscheint, kommt mir morgen vielleicht schon banal vor.« Was heißt das konkret? Bereits Frankl definierte drei Kategorien von Sinnstiftern, die auch in der Arbeitswelt eine Rolle spielen: r  Kreatives Handeln: Ein Sachbearbeiter in einer Behörde findet beispielsweise darin Erfüllung, immer wieder neue Verbesserungen und Tricks zu entwickeln, wie er Anträge schneller und möglichst fehlerfrei bearbeiten kann. Oder eine Verkäuferin hat Spaß daran, die Obst-

Turmbau zu Lidl? Das Dekorieren von Waren ist eine kreative und sinnstiftende Tätigkeit. Gestehen Sie Ihren Angestellten möglichst viel Handlungsfreiheit zu!

theke möglichst farbenfroh und abwechslungsreich zu dekorieren. r  Soziales Erleben: Eine lang gediente Kassiererin hat sich im Lauf der Zeit zur »Mutter der Kompanie« entwickelt und nimmt gern neue Kolleginnen unter ihre Obhut; ein Busfahrer fühlt sich schon seit Jahren für die Organisation des Weihnachtsfestes verantwortlich. r  Ethische Einstellungen: Auch noch am Ende seiner Schicht bemüht sich ein Nachtwächter trotz seiner Müdigkeit immer, auf Probleme und Fragen der Firmenmitarbeiter einzugehen. Um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, lässt sich ein Fließbandarbeiter in den Betriebsrat wählen. Gemeinsam sei all diesen Kategorien, dass sie sich an eigenen Handlungen orientieren, so Böckmann: »Man muss etwas verwirklichen, das Sinn zu geben vermag. Welche Werte ich dabei erfülle, 23


logot h er a pie

Das erste Mal Endlich einmal die eigene Meinung kundzutun, kostet zwar Ăœberwindung – zahlt sich aber aus: Das Sinnempfinden bei der Arbeit steigt.

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GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


r darüber entscheidet allein mein ganz

persönliches Sinn-Verständnis.« Manchmal genügen schon kleine Veränderungen, um die jeweilige Arbeit als sinnreicher zu empfinden, betont Helmut Graf, Logotherapeut und Unternehmensberater im österreichischen Rosegg. Dabei sei es vorrangig, zunächst das eigene Wertesystem zu klären: Was ist mir im Job wirklich wichtig? Welche beruflichen

nahmen auf Team-, Abteilungs- oder ­Unternehmensebene, bei denen beispielsweise Führungskräfte und Mitarbeiter »Sinnbilanzen« aufstellen oder sinnstiftende Visionen entwickeln sollen. Die Fantasie der Berater, logotherapeutische Erkenntnisse auf das Arbeits­ leben zu übertragen, ist groß. Manchmal vielleicht zu groß: Der eine oder andere biegt sich das Frankl’sche Konzept so zu-

87 Prozent der deutschen Arbeitnehmer spüren keine echte Verpflichtung gegenüber ihrer Tätigkeit, 69 Prozent machen lediglich Dienst nach Vorschrift, und 18 Prozent haben innerlich bereits gekündigt � (Gallup-Studie 2004) Sinnhöhepunkte habe ich bislang erlebt, und wo gibt es gegenwärtig Lichtblicke? Dann erst folgt die Tat. »Dabei geht es um ganz konkrete Schritte«, so Graf. »Man muss ja nicht gleich die Rettung der Menschheit ins Auge fassen. In einer Betriebsversammlung oder Teamsitzung die eigene Meinung zu äußern, wo man bislang immer nur geschwiegen hat, kann bereits ungeheuer sinnstiftend und somit befriedigend sein.«

Mission Zufriedenheit Eine logotherapeutische Einzelberatung bei Berufsproblemen ähnelt mehr einem Gespräch mit einem Freund oder Mentor als einer klassischen Psychotherapie. Daneben bieten Logotherapeuten und logotherapeutisch orientierte Consul­tants Sinnsuchenden verschiedene Dienstleistungen an – etwa Seminare oder ein spezielles Coaching. Sie entwickelten auch Testverfahren, um zu überprüfen, wie es um das persönliche Sinnerleben am Arbeitsplatz bestellt ist und wo noch Verbesserungspotenzial schlummert. Hierzu werden per Fragebogen Motivationsniveau, äußere Stressverstärker (wie mangelnde Führung, schlechtes Betriebsklima und körperliche Belastungen) sowie persönliche Einstellungen und Verhaltensmuster (zum Beispiel Aktivitätsniveau und Perfektionsstreben) abgefragt. Darüber hinaus empfehlen Coachs MaßGEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

recht, wie es ihm gerade passt, und verknüpft es nach Belieben mit anderen Konzepten aus der Managementberatung. Diese reichen von Anti-Stress-Seminaren über Gesundheitsschulungen bis hin zur Einführung so genannter Balanced Score Cards – eigentlich ein Instrument des strategischen Managements, das Dinge wie Cashflow, Börsenkapita­ lisierung oder die Zahl der Kundenbeschwerden misst. Mit den klassischen logotherapeutischen Ideen hat das nicht mehr viel zu tun. Dennoch seien für den Sinngehalt der Arbeit in der Tat auch die Rahmenbedingungen wichtig, betont Anna Maria Pircher-Friedrich vom Management Center Innsbruck. Schlechte Unternehmensführung betrachtet die Professorin für Human Resources, Qualitäts- und Dienstleistungsmanagement sogar als Hauptgrund für das derzeit geringe Engagement in vielen Firmen. So sei bei Weitem nicht allen Arbeitnehmern klar, was von ihnen erwartet wird, und viele hätten das Gefühl, in Positionen zu arbeiten, die gar nicht ihren Fähigkeiten entsprechen. Auch dass sich Vorgesetzte nur selten für die Ansichten und die Person des einzelnen Mitarbeiters interessieren, ist laut Pircher-Friedrich ein weit verbreitetes Problem. Unterstützt wird diese Ansicht durch eine Studie von Douglas May, Professor

an der School of Business der University of Kansas. 2004 befragte der Organisa­ tionspsychologe 213 Angestellte und Manager aus verschiedenen Abteilungen eines amerikanischen Versicherungskonzerns. Ergebnis: Ein optimaler Arbeitsplatz zeichnet sich durch abwechslungsreiche Aufgaben, eine klare Tätigkeits­ beschreibung und eindeutige Zielvorgaben aus, ergänzt durch große Autonomie sowie regelmäßiges Feed-back. Darüber hinaus sollte der Beruf zum Selbstbild passen. Wer auf Fragen wie »Hilft mir mein Job dabei, meine Persönlichkeit auszudrücken?« mit Ja antwortet, sieht seine Arbeit eher als sinnvoll an. Doch auch hier steht es in der Macht des Einzelnen, durch eigene Initiative die Rahmenbedingungen zu verbessern – falls alles nicht hilft, bis hin zum Jobwechsel. »In der Logotherapie ist der Mensch nie Opfer, sondern immer Gestal­ ter«, so Pircher-Friedrich. »Jemand mag eine schwere Kindheit gehabt haben, körperlich benachteiligt sein oder mit einem schwierigen Kollegen zusammenarbeiten müssen. Entscheidend aber ist, was er aus seiner Situation macht.« l Annette Schäfer ist promovierte Volkswirtin und lebt in Chicago.

Literaturtipps Frankl, V.: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München: dtv 2005. Frankl, V.: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Wien: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag 2005. Graf, H. (Hg.): Mit Sinn und Werten führen. Was Viktor E. Frankl Managern zu sagen hat. Wien: Lit Verlag 2005. Pircher-Friedrich, A. M.: Mit Sinn zum nachhaltigen Erfolg. Anleitung zur werteund wertorientierten Führung. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2005.

Weblink www.franklzentrum.org Weitere Informationen zur Logotherapie sowie aktuelle Veranstaltungshinweise

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KOMMUNIKATION I NFORMATIONSAUSTAUSCH

Von Kopf zu Kopf Problemlösen im Team funktioniert nur, wenn alle Beteiligten ihr Wissen untereinander austauschen. Doch das ist oft leichter gesagt als getan.

Von Korinna Bauer und Friedrich W. Hesse

W

ohlstand, Umwelt, Abrüs­ tung – das war einmal. Das neueste Zauberwort heißt: Wissen. Es begegnet uns al­ lenthalben: in Quizshows, am Zeitschrif­ tenkiosk oder am Arbeitsplatz, und zwar meistens in Appellform. »Teste, erwei­ tere, gebrauche dein Wissen!« Informati­ onen und Know-how sind das kostbarste Kapital unserer Gesellschaft, betonen auch Wirtschaftsführer und Politiker ge­ betsmühlenartig. Doch leider wird dabei oft vergessen: Wissen bekommt erst dadurch seinen Wert, dass wir es kommunizieren. Nur durch Weitergabe an andere macht es sich bezahlt. Allerdings ist der Weg des Wissens von einem Kopf zum anderen mit so manchem Stolperstein gepflastert. Die Schwierigkeiten beginnen schon da­ mit, dass wir einen Großteil unserer 26

Kenntnisse nicht oder nur mühsam in Worte fassen können. Anders als das ge­ meine Faktenwissen, das wir uns in der Schule aneignen, sammeln wir vielfäl­ tiges Handlungswissen wie Schnürsen­ kelbinden oder Autofahren weniger durch verbale Anleitungen als durch Er­ fahrung und praktisches Tun – und sind uns unserer Fähigkeiten selbst oft kaum bewusst. Psychologen sprechen deshalb von »stillem« oder »implizitem« Wissen. Die Grammatik unserer Mutterspra­ che gibt dafür ein gutes Beispiel: Wir alle können mehr oder weniger fehlerfrei deutsch sprechen, lesen und schreiben, ohne dass uns die zu Grunde liegenden Regeln ausdrücklich bewusst wären. Ha­ ben Sie schon einmal versucht, einem Ausländer zu erklären, warum es »Ich komme nach Hause« heißen muss – und nicht etwa »Ich komme zu Hause«? Auf derartige Fragen könnten die meisten von uns wohl nicht mehr erwidern als: »Das ist eben so!« Andererseits weiß je­

der, dass implizites Wissen durchaus sys­ tematisch erfasst und ausgedrückt wer­ den kann – das Ergebnis solcher Mühen gibt es in der Sprachenabteilung jedes Buchladens zu kaufen. Es bedarf jedoch einer Menge analytischen Geschicks, um implizites Wissen explizit zu machen.

Keiner weiss, was er weiß Dies erfuhren auch die japanischen For­ scher Ikujiro Nonaka und Hirotaka Ta­ keuchi von der Hitotsubashi-Universität in Tokio – als sie die Fallstricke bei der Entwicklung einen Teigknetautomaten der Firma Matsushita untersuchten. Trotz aller Ingenieurskunst erzielten leib­ haftige Bäcker immer bessere Ergebnisse als die Maschine, ohne dass die Profi­ kneter hätten sagen können, was genau sie anders machten. Die Lösung offenbar­ te sich erst, als die Entwickler bei den Bäckermeistern in die Lehre gingen und selbst Hand anlegten. Ein guter Bäcker macht durch seine Knettechnik, das wie­ GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


Alle Fotos dieses Artikels: Gehirn&Geist / Kirsten Wagenbrenner

derholte Ausrollen und Zusammen­ klumpen des Teigs, selbigen besonders weich und homogen, sodass dieser an­ schließend im Ofen besser aufgeht. Das Erfolgsrezept liegt also im – verbal schwer zu beschreibenden – impliziten Wissen, das unbewusst eingesetzt und nur in sei­ ner praktischen Anwendung manifest wird. Die Bäcker wissen etwas, ohne zu wissen, dass sie es wissen. Wer erfolgreich Wissen kommuni­ zieren will, muss es nicht nur überhaupt äußern können – sondern zudem auch in einer dem Adressaten angemessenen Form formulieren. Ob dies gelingt, hängt wiederum davon ab, ob die Bot­ schaft auf den Wissenshintergrund des Gegenübers abgestimmt ist. Um neue Informationen aufnehmen zu können, muss man die relevanten Begriffe bereits kennen und in den richtigen Kontext ein­ ordnen können. Eine Grundregel des ef­ fektiven Wissensaustauschs lautet daher: Gieße neuen Wein in alte Schläuche! GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

Je ähnlicher das Vorwissen von zwei Menschen, desto einfacher gestaltet sich der Informationsaustausch zwischen bei­ den. Ein gut eingespieltes Team von Ak­ tienhändlern kommt auf dem Börsen­ parkett mit bloßen Zurufen oder auch nur Gesten aus. Bringen die Kommuni­ kationspartner jedoch verschiedene Vo­ raussetzungen mit, wächst die Verständi­ gungsbarriere. Denn was wir beim ande­ ren nicht voraussetzen können, müssen wir wohl oder übel mittransportieren. Häufig ergibt sich die Notwendigkeit zum Wissensaustausch aber gerade aus der Tatsache, dass zwei Menschen unter­ schiedlich viel wissen. Wer würde einen Lehrer, Handwerker oder Arzt aufsu­ chen, dem er keinen Vorsprung vor den eigenen Kenntnissen zutraut? Damit der Experte sein Wissen dem Laien erfolg­ reich vermitteln kann, muss er abschät­ zen, wie groß sein eigener Vorsprung ist. Eben diese Fähigkeit erwirbt der Mensch erst im Alter von vier bis fünf Jahren.

Stille Post Warum fällt es uns manchmal so schwer, andere an unseren Kenntnissen teilhaben zu lassen?

Gibt man etwa Dreijährigen eine Bon­ bondose, die überraschenderweise Stifte statt Süßigkeiten enthält, und fragt dann, was wohl andere Kinder in der Dose ver­ muten würden, so lautet die Antwort: Stifte! Nach dem Motto: Jeder weiß na­ türlich genauso viel wie ich. Doch auch Erwachsene neigen häufig dazu, vorschnell von sich auf andere zu schließen. Dies ergab unter anderem eine Studie von Raymond Nickerson von der Tufts University in Bedford (USA) mit Collegestudenten. Der Psychologe bat seine Probanden, Fragen zum Allge­ meinwissen zu beantworten und gleich­ zeitig zu schätzen, wie viele ihrer Kom­ militonen die jeweilige Antwort wohl wüssten. Bei Fragen, deren Lösung den 27


r Testkandidaten

bekannt war, über­ schätzten diese systematisch den Anteil der wissenden Mitstudenten. Sie hielten eigenes Wissen also gerne für allgemein verbreitet. Im Berufsalltag wird das schnell zum Fluch – wie Experimente mit simulier­ ten Geschäftssituationen ergaben. Die Wirtschaftswissenschaftler Colin Ca­ merer und Martin Weber untersuchten dies Ende der 1980er Jahre an der Uni­ versity of Pennsylvania in Philadelphia. In einer Art Börsenspiel konnten Pro­ banden mit Wertpapieren handeln – und zwar auf Grundlage von Informationen, die ihnen fiktive Experten zur Verfügung stellten. Obwohl jeder Teilnehmer darüber Bescheid wusste, dass nur er allein etwa die zu erwartende Dividende kannte, wurde dieses Wissen oft automatisch auch den Mitspielern unterstellt. Die Probanden verkauften ihre Papiere folg­ lich oft zu niedrigen Preisen weiter. Un­ 28

informierte Käufer wären jedoch durch­ aus bereit gewesen, mehr zu bezahlen! Offenbar gelingt es nicht ohne Weiteres, das eigene Exklusivwissen auszublenden, um zu einer realistischen Einschätzung des Informationsstands anderer zu kom­ men. Vor allem in Lehr- oder Beratungs­ berufen wirkt sich diese Verallgemeine­ rungstendenz negativ aus.

Vorkenntnisse berücksichtigt? Von sich auf andere zu schließen, ent­ puppte sich allerdings in vielen Studien als eine Art Notlösung, die nur zum Ein­ satz kommt, wenn weitere Anhalts­ punkte fehlen. Bekommen wir dagegen konkrete Hinweise vom Gesprächspart­ ner, können wir unsere Kommunikation besser auf diesen zuschneiden. Dies kann etwa die Zugehörigkeit zu einer be­ stimmten Berufsgruppe sein: Von einem ortsansässigen Taxifahrer können wir durchaus erwarten, dass er weiß, wo sich welche Straße seiner Stadt befindet; und

von einem Rechtsanwalt, dass er mit den Paragrafen des Bürgerlichen Gesetzbuchs vertraut ist. Viele Signale sind freilich subtilerer Art. Eine von Rainer Bromme und Re­ gina Jucks an der Universität Münster durchgeführte Untersuchung zur Ge­ sundheitsberatung machte etwa den Ein­ fluss der Sprache deutlich. Im Rahmen der Studie beantworteten Mediziner per E-Mail Anfragen von Patienten. Ein Teil der Zusendungen enthielt hier und da ein medizinisches Fachwort, während die anderen nur auf alltagssprachliche Aus­ drücke zurückgriffen. Wie zu erwarten waren die Auskünfte der Mediziner auf die eher laienhaften Anfragen sehr viel verständlicher; sie enthielten nicht nur weniger Fachbegriffe, sondern auch mehr Erklärungen wichtiger Zusammenhänge sowie konkrete Verhaltenstipps. Die mit Arztjargon garnierten Fragen hingegen beantworteten die Experten so, als hätten sie es mit Kennern der Materie zu tun. GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


Dahinter steckt die unausgesprochene Annahme, wer Fachsprache verwende, wisse Bescheid. In vielen Fällen mag das auch zutreffen, denn Wörter wie »Hypo­ physe« oder »Struma« sind außerhalb von Fachkreisen kaum geläufig. Bei Aus­ drücken jedoch, die an der Grenze von Fachterminologie und Laienwortschatz liegen, führen solche Annahmen schnell zu Problemen. Nicht jede »Migräne«, von der ein Patient berichtet, ist wirklich eine; und nicht jede vom Arzt verord­nete »Diät« ist eine Aufforderung zum Ab­ nehmen. Die hier lauernde Kommunikations­ falle lässt sich prinzipiell auf verschiedene Weise umgehen. Zum Beispiel könnte der Laie von vornherein möglichst klar zu fassen versuchen, was er weiß und was nicht. Eine solche Präzisierung scheitert jedoch oft an dem Umstand, dass es einer Menge Vorwissen bedarf, um sagen zu können, was man nicht weiß. Oder könnten Sie genau angeben, was Sie an GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

der Quantenphysik nicht verstehen? In­ formationsbedürftige Menschen sind da­ her meist schlechte Fragensteller. Eine zweite mögliche Lösung besteht darin, frühzeitig zu signalisieren, dass man etwas nicht verstanden hat. Im All­ tag geschieht dies oft schon durch Stirn­ runzeln oder Kopfschütteln, aber auch durch gezieltes Nachfragen. Moderne Kommunikationsmittel können hier Probleme bereiten: Am Telefon und per E-Mail entgehen einem solche nonver­ balen Signale. Wie sich das auf die Wissensvermitt­ lung mittels Telekommunikation aus­ wirkt, untersuchten etwa die Freiburger Psychologen Matthias Nückles und Ale­ xander Stürz. In einem ihrer Experi­ mente erhielten Computerexperten EMails von Kunden, in denen diverse Fra­ gen zu Hard- und Softwareproblemen gestellt wurden. Waren die Kunden mit der erteilten Auskunft vermeintlich un­ zufrieden, konnten sie in einem Chat­

Bitte, geht doch! Rücksicht auf mögliche Verständnisbarrieren ist eine wich- tige Zutat für den erfolgreichen Wissenstransfer.

forum weiter nachfragen. Ein Teil der auskunftswilligen Experten erfuhr zu­ dem am Bildschirm einiges über den Wissensstand des Ratsuchenden. Ein so genanntes Assessment Tool enthielt so­ wohl allgemeine Einschätzungen der je­ weiligen PC-Kenntnisse als auch kon­ krete Hinweise auf Vorwissen über be­ stimmte Begriffe. Ergebnis: Schon wenige solcher Zu­ satzinfos verbesserten die Qualität des Expertenrats deutlich. Die Kunden fragten dann nur noch halb so oft nach, und der Textumfang der E-Mails nahm ebenfalls ab. Gleichwohl erwarben die Rat Suchenden mehr Wissen, wie der anschließende Test ergab. Mit anderen 29


I nformationsaustausch

r Worten: Die Kommunikation wurde ef­

fizienter. Doch selbst wenn Wissen angemessen geäußert wird, garantiert dies noch nicht, dass es von anderen auch aufgenommen und genutzt werden kann. Denn einen großen Teil unserer wissensbasierten Ar­ beit leisten wir in Gruppen – und das birgt oft neue Schwierigkeiten. Ob nun Gesundheitsexperten eine Taskforce zur Seuchenbekämpfung bilden oder ob Müllers Familienrat darüber berät, wel­ ches Auto angeschafft werden soll: Den Glauben, dass viele Köpfe stets mehr wissen und zwangsläufig bessere Ent­ scheidungen treffen als Einzelpersonen, haben sozialpsychologische Experimente längst widerlegt. Vielmehr sind Gruppen meist weniger effizient, als sie sein sollten und könnten. Eine gängige Methode, die Fallstricke des Teamworks zu untersuchen, bieten so genannte Hidden-Profile-Aufgaben. Hier geht es stets darum, das Profil einer Person oder eines Problems zu erstellen und aus einer Reihe von Alternativen die beste Lösung auszuwählen. Allerdings kann das vollständige Bild erst erkannt werden, wenn alle Gruppenmitglieder ihre jeweiligen Informationen unterei­ nander austauschen. Beispiel: Ein Team von Kripobeam­ ten erhält verschiedene Hinweise darauf, welche von zwei verdächtigen Personen einen Mord begangen haben könnte. War es die Geliebte oder doch – wie meistens – der Gärtner? Nehmen wir an, von fünf Hinweisen belasten drei die 30

Dame und zwei den Botaniker. Das Ver­ trackte daran: Die persönliche Vorinfor­ mation führt für sich genommen zu­ nächst auf die falsche Fährte. Wenn etwa alle Kriminaler dieselben beiden Hin­ weise kennen, die auf den Gärtner hin­ deuten, aber nur jeweils einen – stets un­ terschiedlichen –, der die Geliebte belas­ tet, gerät ziemlich sicher der Gärtner ins Visier. Erst die Zusammenschau aller verfügbaren Informationen offenbart das »versteckte Profil«.

Teams werten Informationen schlampiger aus In Laborsimulationen funktioniert dies allerdings nur selten. Stattdessen legen sich Probanden immer wieder vorschnell auf das Augenscheinliche, aber Falsche fest. Sie diskutieren und gewichten häu­ fig gerade jene Informationen besonders stark, die mehreren Gruppenmitgliedern bekannt sind – die exklusiven Kennt­ nisse Einzelner fallen hingegen eher un­ ter den Tisch. Dieses Problem beschäftigt Forscher schon seit geraumer Zeit. Wie lässt sich ein möglichst umfassender Infor­ma­ tionsaustausch kultivieren? Und wie ge­ währleisten, dass – wenn alle Puzzleteile auf dem Tisch liegen – auch das richtige Muster erkannt wird? Der eigentliche Störfaktor könnte da­ bei in der Gruppeninteraktion zu suchen sein, legen Vergleichsstudien wie die von Michael Diehl von der Universität Tübin­ gen nahe. Der Forscher konfrontierte nicht nur Gruppen, sondern auch Einzelper­

sonen mit typischen Hidden-Profile-Auf­ gaben. Die Testkandidaten sollten etwa den geeigneten Bewerber für eine Dozen­ tenstelle auswählen und bekamen hierfür häppchenweise Informationen wie »Ist immer gut vorbereitet« oder »Kann sich bei Störungen des Seminars gut durchset­ zen«. Während dabei in einem ersten Durchgang Kandidat A am besten ab­ schnitt, wurden den Probanden in der Fol­ ge von anderen (fiktiven) Teilnehmern ver­ schiedene Zusatzinformationen gegeben, die nun plötzlich Kandidat B in einem weit besseren Licht dastehen ließen. Erstaunlich viele Einzelpersonen revi­ dierten ihr anfängliches Urteil und ur­ teilten damit insgesamt deutlich besser als Gruppen. Vor allem ließen sie sich bei ihrer Entscheidung weder davon beein­ flussen, als wie glaubwürdig die fremden Informanten dargestellt wurden, noch davon, wie zahlreich diese waren. Zu den Defiziten, die bei Gruppen­ entscheidungen häufig zum Tragen kom­ men, könnte etwa das Bedürfnis nach Konfliktvermeidung oder schnellem Konsens zählen. Der Psychologe Irving Janis (1918 – 1990), damals an der Yale University in New Haven, Connecticut, prägte hierfür den Begriff des »Group­ think«: Der Wunsch nach Geschlossen­ heit und einhelliger Entscheidung kann Gruppenmitglieder davon abhalten, alle Optionen gründlich und unvoreinge­ nommen zu prüfen. Ursula Piontkowski und Wolfgang Keil von der Universität Münster ent­ warfen ein Modell, das diesem Problem vorbeugen soll. Das Grundprinzip dabei lautet: Immer schön der Reihe nach! Erst werden alle verfügbaren Informationen gesammelt und Doppelmeldungen aus­ sortiert, damit diese nicht nur deshalb mehr Gewicht erhalten, weil sie von mehreren Teammitgliedern stammen. Wenn die Wissensbasis geklärt ist, werden die Fakten bewertet, und zwar ausschließlich danach, wie relevant sie für die Lösung der Aufgabe erscheinen. Diese Gewichtung sollte jeder Teilneh­ mer zunächst für sich allein und mög­ lichst systematisch vornehmen, zum Bei­ spiel anhand einer Checkliste. Erst wenn auch dieser Schritt getan ist, diskutiert und entscheidet die Gruppe gemeinsam. GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


Damit solche Workflow-Modelle funk­­ tionieren, muss natürlich jeder Teilneh­ mer sein Wissen überhaupt erst einmal teilen wollen. Wissen ist bekanntlich Macht, und die tritt man nicht immer gerne ab. Auch banale Kosten-NutzenErwägungen können dem Wissens­aus­ tausch im Weg stehen: Eigene Kennt­ nisse für andere aufzubereiten kostet Zeit und Mühe – oft ohne unmittelbare Ge­ genleistung. Als besonders kritisch erweisen sich hier anonyme Austauschsituationen wie etwa Wissensdatenbanken. Ulrike Cress und Friedrich Hesse haben in einem ge­ meinsamen Projekt der Universität Tü­ bingen mit dem Institut für Wissens­ medien eine solche Datenbank simuliert und das Eingabeverhalten der Nutzer be­ obachtet. Zunächst testeten sie klassische Anreize finanzieller Art. Wie zu erwar­ ten, erhöhten »Honorare« die Zahl der Eingaben in die Datenbank – vor allem, wenn sie sofort ausbezahlt wurden, und nicht erst bei Abruf der Information durch einen Kollegen. Allerdings versu­ chen Mitarbeiter dann oft, besonders ­viele Daten zu produzieren, ohne auf die Qualität der Eingaben zu achten. Folge: Die Datenbank droht zu »vermüllen«. Maßnahmen zur Stärkung des WirGefühls, etwa durch Seminare und Workshops, können sich hier als nütz­

licher erweisen. Viele Mitarbeiter lassen sich dadurch zum verstärkten Teilen ih­ res Wissens animieren. Eine große Wir­ kung auf den Wissensaustausch hatten auch konkrete Vorgaben, wie viel jeder Datenbanknutzer zum gemeinsamen Wissensschatz beitragen solle. Diese wer­ den zwar nicht unbedingt exakt einge­ halten, dienen jedoch als Orientierungs­ marken. Auch das Verhalten der Kollegen hat eine besondere Vorbildfunktion. Erhal­ ten die Mitarbeiter regelmäßig Feedback darüber, wie viel andere einspeisen, lassen sie sich davon motivieren. Wer die Wissenskommunikation über eine Da­ tenbank ankurbeln will, tut also gut da­ ran, allen Teilnehmern den Eindruck zu vermitteln, dass dieser Austausch bereits in vollem Gang sei. Fazit: Ein erfolgreicher Wissensaus­ tausch hängt von vielen Faktoren ab – davon, wie gut man sein Wissen preisge­ ben kann und will, wie sehr man dabei das Vorwissen anderer beachtet und ob diese die neue Information auch tatsäch­ lich verwerten können. Solange das Über­ brückungskabel für den verlustfreien Datentransfer von Hirn zu Hirn noch nicht erfunden ist, müssen wir also wei­ ter nach Wegen suchen, damit das Wis­ sen auf der Reise von einem Kopf zum anderen nicht unterwegs versandet. l

Korinna Bauer beschäftigte sich am Tü­ binger Ins­titut für Wissensmedien als Koor­ dinatorin des Schwerpunkts »Netzbasierte Wissenskommunikation« mit dem Thema. Friedrich W. Hesse ist Professor für Ange­ wandte Ko­gnitionspsychologie und Medien­ psychologie an der Universtät Tübingen.

Literaturtipps Bromme, R., Jucks, R., Wagner, T.: How to Refer to >Diabetes<? Language in Online Health Advice. In: Applied Cognitive Psy­ chology 19, 2005, S. 569 – 586. Cress, U., Kimmerle, J.: Teilen von Wissen – eine psychologische Perspektive. In: Cress, U. (Hg.): Effektiver Einsatz von Datenbanken im betrieblichen Wissens­ management. Bern: Hans Huber Verlag 2004. Diehl, M., Zieger, R.: Informationsaus­ tausch und Ideensammlung in Gruppen. In: Boos, M., Jonar, K. J., Sassenbarg, K. (Hg.): Computervermittelte Kommunikation in Organisationen. Göttingen: Ho­ grefe Verlag 2000.

Weblink www.wissenskommunikation.de Homepage des DFG-Programms »Netz­ basierte Wissenskommunikation«

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komm u nikation Korresponden z

Besser schreiben Viele Menschen tun sich schwer damit, ihre Gedanken klar und verständlich aufs Papier zu bringen. Mit ein paar einfachen Regeln klappt das schon viel besser.

Von Corinne Ullrich

U

nter Berücksichtigung des besonderen Sachverhalts und in Einvernahme mit den Beteiligten …« – nein, das klingt nun doch zu gestelzt! Markieren, löschen, noch einmal von vorn. Der Cursor blinkt beharrlich auf dem leeren Computerbildschirm. Schon lugt die Chefin ins Büro und fragt, wann der Bericht endlich kommt – doch die Sätze wollen einfach nicht fließen.

Jeder von uns hat das wohl schon erlebt, wenn er in seinem Job einen Text verfassen sollte: Eigentlich weiß man genau, was man sagen will, hat es womöglich auch schon Kollegen oder Freunden erläutert. Aber wenn es darum geht, das Ganze schriftlich zu formulieren, fehlen einem plötzlich die Worte. Da werden dann umständlich Floskeln hin und her gewendet, Satzteile verschoben und Begriffe ausgetauscht, bis man schließlich verzweifelt aufgibt. Schreiben allein ist schon schwierig genug – sich dabei verständlich und

Drei-Klassen-Gesellschaft Hauptwörter lassen sich in drei verschiedene Typen unterteilen: 1) bildhafte, wie Blitz, Birke, Kran, Straße; 2) abstrakte, wie Treue, Neid, Hass, Glaube und 3) bildleere, wie Beantwortung, Reduzierung, Verhandelbarkeit. Letztere enden meist auf eine der folgenden Silben: -ung, -heit, -keit, -schaft, -mus, -sal, -nis, -tum. Sie blasen ein Wort unnötig auf, geben ihm vordergründig mehr Gewicht, machen aber die Aussage weniger klar und deutlich. So wird aus der »Aufgabe« eine »Aufgabenstellung« und aus dem »Ziel« eine »Zielsetzung«, und es geht um »die Beantwortung dieser Fragestellung« – und nicht schlicht und einfach darum, eine Frage zu beantworten.

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klar auszudrücken, scheint jedoch noch viel problematischer zu sein. Warum? Oft erschweren uns mentale Barrieren, die Gedanken zu Papier zu bringen. So ist die Vorstellung weit verbreitet, dass Geschriebenes in jedem Fall bedeutsam sein muss. Schließlich ist es von Dauer, während Gesprochenes wie Schall und Rauch verfliegt. Damit erfordere die Schriftsprache auch gewichtige Worte. Und so werden aus Gründen »Motivationsstrukturen«, aus Briefmarken »Postwertzeichen« und aus Polizeiautos »polizeiliche Führungsfahrzeuge«. Nur geht dabei das Gefühl für klare, eindeutige und konkrete Sprache in überladenen Formulierungen und verstrickten Sätzen hoffnungslos unter. Leider vermitteln auch Schule und Universität oft, dass Schriftsprache gewichtig klingen muss und dass es nicht reicht, den Inhalt für sich allein wirken zu lassen. Frei nach dem Motto: Wer wenig zu sagen hat, tut dies wenigstens mit viel Getöse. Schlimmer noch – mit unverständlichen Worten lassen sich auch Dinge bewusst verschleiern. GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


Alex Star / Fotolia.de

Auf diesem Nährboden entwickelte sich im Lauf der Zeit das berüchtigte »Beamtendeutsch«, in dem der Stadtpark zur »Städtische Grünanlage« mutierte, der Blinker zum »Fahrtrichtungsanzeiger« und Geld zu »finanziellen Mitteln«. Das Resultat ist eine Schriftsprache, die den Inhalt so weit in den Hintergrund drängt, dass man ihn mühsam unter den leeren Worthülsen suchen muss. Der wichtigste Grundsatz für besseres Schreiben im Beruf lautet: Orientieren Sie sich am gesprochenen Wort! Schreiben Sie, wie Sie sprechen – nur mit mehr Sorgfalt. Das bedeutet in erster Linie, mehr Verben zu verwenden als im konventionellen Schriftdeutsch üblich. Vor

allem fachliche oder offizielle Texte ersticken oft geradezu unter Massen von Hauptwörtern. Da wird dann etwas »einer Prüfung unterzogen« statt »geprüft« oder »sich das Gesagte vergegenwärtigt« statt »darüber nachgedacht«. Doch wirken solche Substantivierungen steif und farblos und lassen den Leser immer wieder stolpern. Verben hingegen machen den Text lebendig und klar. Besonders erfolgreich sind dabei aktive sinnliche Ausdrücke wie »bauen«, »lösen«, »erledigen«; weniger gut funktionieren hingegen verklausulierte Begriffe wie »bewerk­stelligen« oder »bewirken«. Das Verb soll die entscheidende Handlung eindeutig bezeich-

Im Kinderfall unserer Stadtgemeinde ist eine hierorts wohnhafte, noch unbeschulte Minderjährige aktenkundig, welche durch ihre unübliche Kopfbekleidung gewohnheitsrechtlich Rotkäppchen genannt zu werden pflegt … Vor ihrer Inmarsch­ setzung wurde R. seitens ihrer Mutter über das Verbot betreffs Verlassen der Waldwege auf Kreisebene belehrt … (Thaddäus Troll: Rotkäppchen auf Amtsdeutsch) GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

Nach der Vergegenwärtigung Vermeiden Sie »Substantivierungen«, sie wirken meist farblos und steif. Ein schlichtes »nachgedacht« tut’s auch.

nen. Beim Schreiben gilt also: Weg mit überflüssigen Substantiven! Zum Beispiel wäre es viel besser, statt »die Wiederholung der Prüfung der Sachlage gibt zu einer Veränderung der Rechtsauffassung der Kammer keine Veranlassung« folgende Formulierung zu verwenden: »Die Kammer hat die Sache erneut geprüft, bleibt aber bei ihrer Rechtsauffassung.« Oder noch knapper und klarer: »Einspruch abgelehnt!« Wichtig ist auch, wie man die Verben verwendet – ob aktiv oder passiv. Ein aktives Verb zwingt den Verfasser immer dazu, zu schreiben, wer handelt und was er oder sie genau macht. So sollte es heißen: »Frau Müller und Herr Schmidt unterzeichneten den Vertrag«, und nicht: »Der Vertrag wurde unterzeichnet.« Derartige Passiv-Konstruktionen verwässern den Inhalt und schwächen die Botschaft 33


Korrespondenz r ab. Wer so schreibt, möchte verschleiern

und sich aus der Verantwortung stehlen. Das Passiv ist nur dann legitim, wenn entweder etwas erlitten wird (der Briefträger wurde zum fünften Mal gebissen) oder die handelnde Person niemanden interessiert (das Museum wird um 18 Uhr geschlossen). Außerdem: Nennen Sie die Dinge beim Namen! Das heißt, kurz, eindeutig

Aussage. Der Autor traut sich dann oft nicht, deutlich und direkt zu schreiben. Häufig gelten Vorreiter auch als eine Form der Höflichkeit. Statt diese aber durch aufgeblasene Formulierungen auszudrücken, passt ein freundlicher und direkter Ton besser. Also schreiben Sie nicht: »Ich liege sicher nicht falsch, wenn ich vermute, dass …«, sondern lieber: »Ich vermute, dass …« Und statt »Es ist

… Der Vorfall wurde von den kulturschaffenden Gebrüdern Grimm zu Protokoll genommen und starkbekinderten Familien in Märchenform zustellig gemacht. Wenn die Beteiligten nicht durch Hinschied abgegangen und in Fort­fall gekommen sind, sind dieselben derzeitig noch lebhaft. (Thaddäus Troll: Rotkäppchen auf Amtsdeutsch)

und bildhaft zu formulieren. Je konkreter ein Hauptwort, desto klarer ist auch das Bild, das vor dem inneren Auge des Lesers entsteht. Je anschaulicher das Verb, desto deutlicher sieht der Leser die entsprechende Handlung vor sich. Und dann kann er sich die jeweiligen Inhalte auch besser merken. Zum Beispiel: »Blut, Schweiß und Tränen vergießen« bleibt besser im Gedächtnis haften als »Körperflüssigkeiten absondern«; und »rennen« hinterlässt ein eindrücklicheres Bild der Szene als »sich begeben«.

Ohne Umschweife zur Sache Eindeutig zu formulieren heißt auch, mutig zu sein und zu dem zu stehen, was man schreibt, auch wenn der Leser dann anderer Meinung ist. Dazu gehört, so ­genannte Füllwörter wie »eigentlich«, »gewissermaßen« oder »übrigens« zu ver­ meiden, die im Schriftdeutsch oft dazu dienen sollen, die Wirkung der Worte abzuschwächen. Warum nicht stattdessen ohne Umschweife zur Sache kommen? Vielen klingt das dann zu simpel, sie fühlen sich gar an Kindergarten- und Schulsprache erinnert und finden: »So plump kann man das doch nicht ausdrücken.« Doch, man kann – und man sollte es auch, wenn man verstanden werden will. Einfach muss nicht gleich banal sein! Ähnlich wie Füllwörter verschleiern auch Vorreiter wie »Ich möchte Sie hiermit darüber informieren, dass ...« die 34

mir eine angenehme Pflicht, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie im Lotto gewonnen haben« wäre ein »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen!« doch viel angemessener. Einen weiteren wichtigen Tipp hat Sprachguru Wolf Schneider auf Lager, der früher unter anderem als Chefredakteur der »Welt« tätig war und die HenriNannen-Journalistenschule in Hamburg leitete: »Es ehrt den Journalisten, wenn er mehr als einen Gedanken hat; zum Beispiel zwei. Noch mehr Ehre aber würde er auf sich laden, wenn er diese in die simpelste, einzig schlüssige Reihenfolge brächte: erst der erste Gedanke – dann der zweite.« Doch gerade das fällt den meisten Menschen nicht leicht. Wer den Kopf voller Informationen und Ideen hat, möchte sie am liebsten alle gleich­ zeitig loswerden. Wenn ein Autor Unmengen von Informationen in einen Satz packt, zeugt das aber nur von einer gewissen Konfusion. Er springt beim Schreiben hin und her, schiebt für jede spontan auftauchende Assoziation einen Nebensatz ein und produziert dabei schier endlose Schachtelsätze. Besser wäre hier die Regel: Ein Satz – ein Gedanke. Das zwingt allerdings zu logischem Denken. Wer schon einmal lange, verschachtelte Konstruktionen in mehrere einfache Sätze aufteilen musste, erkannte wohl schnell, dass es große gedankliche Disziplin erfordert, Sachverhalte Schritt

für Schritt aufzuschlüsseln. Dazu ist es notwendig, dass der Autor selbst ganz genau weiß, was er sagen will, und in welcher Reihenfolge die Dinge logisch aufeinander folgen. Nur so kann der ­Leser dann auch seiner Argumentation ohne großes Rätselraten folgen. Der Satzbau kann den Gedankenverlauf unterstützen: Die zentrale Idee gehört in den Hauptsatz, und der kommt zuerst. Untergeordnetes folgt dann in Form von Nebensätzen. Was betont werden soll, steht am Satzanfang. Ein solches Vorgehen erfordert zwar gedankliche Vorarbeit und Planung, lässt aber den Leser nachvollziehen, was dem Autor wichtig ist. Und es hat in der Regel noch einen angenehmen Nebeneffekt: Der Text wird kürzer! »Ich habe heute keine Zeit, darum schreibe ich dir einen langen Brief«, schrieb der römische Rhetorikexperte Cicero. Nur ein absurder Witz? Keineswegs. Wer einfach so herunterschreibt, was ihm in den Kopf kommt, produziert einen viel zu ausführlichen, langatmigen Text. Um sich kurz zu fassen, muss man jedoch strukturieren, Wichtiges heraus­ arbeiten, Unwesentliches streichen und Er­klärungen nachvollziehbar formulieren. Das macht Arbeit und verschlingt Zeit. Aber der Aufwand lohnt sich: Denn letztlich kommt er nicht nur dem Leser zugute, der den Text schneller erfasst, sondern auch dem Autor – vorausgesetzt, er will tatsächlich gelesen und verstanden werden. l Corinne Ullrich ist Schreibtrainerin und freie Journalistin in Berlin.

Literaturtipps Franck, N.: Erfolgreich schreiben. Reinbek: Rowohlt 2000. Locker formuliert, viele Beispiele. Schneider, W.: Deutsch fürs Leben. Reinbek: Rowohlt 1994. Ver­ständlich und amüsant geschrieben. Tucholsky, K.: Sprache ist eine Waffe. Reinbek: Rowohlt 1989. Ironische Entlarvung der­ sprachlichen Unsitten der Weimarer Republik; hat bis heute nichts von seinem Witz eingebüßt. GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


angemerkt! Rolf Degen ist Psychologe und Wissenschaftsjournalist in Bonn rolf.degen@degen.bn.shuttle.de

Das Dumme an der Emotionalen Intelligenz Im Berufsalltag scheitert der gefühlsbetonte Ansatz kläglich. Nur alle Jubeljahre kann sich ein Konzept aus der akademischen Psycholo­gie auch im populären Sprachgebrauch etablieren. Besonders erfolgreich überwand die Emotionale Intelligenz diesen Graben – leider noch bevor sie eine kritische Prüfung bestanden hatte. Wie der klassische IQ soll auch der »Emotionale Intelligenzquotient« EQ auf Können beruhen: auf unserer Fähigkeit, sicher und einfühlsam mit einem Gegen­ über umzugehen oder emotionale Informationen wie fremde Gefühlsausdrücke korrekt und schnell zu »verstehen«. Rasch gesellte sich ein ganzer Berg wünschenswerter Persönlichkeitsmerkmale hinzu – Menschen mit hohem EQ sollen nicht nur flexibel sein, sondern auch noch zuverlässig, psychisch stabil und belastbar. Laut Kredo der EQ-Jünger bedarf ge­ rade beruflicher Erfolg solcher Merkmale der Emotionalen Intelligenz. In den USA lassen daher bereits vier von fünf Unternehmen ihren Führungskräften ein entsprechendes Coaching angedeihen. Zu dumm, dass diese Dimensionen sich so schlecht wissenschaftlich messen lassen. Meist verließ man sich auf die Selbstbeschreibung von Probanden. Vor einigen Jahren nahmen der israelische Psychologe Moshe Zeidner und sein australischer Kollege Richard D. Roberts sämt­liche bereits existierenden Studien in Augenschein, die den EQ auf seine ­Eignung als probates Karriereprognose­GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

­ ittel hin abklopfen. Und siehe da – die m akribische Untersuchung stellt dem emotionalen Denkmodell ein intellektuelles Armutszeugnis aus. Als Gradmesser für berufliches Potenzial taugt der EQ etwa so viel wie Lesen im Kaffeesatz. Nur ein Beispiel von vielen: Eine Untersuchung an 224 Managern der größten britischen Supermarktkette konnte lediglich verschwindend geringe Beziehungen zwischen Emotionaler Intelligenz und der allgemeinen beruflichen Kompetenz aufspüren. So jedenfalls das Resultat ausführlicher Beurteilungen durch neutrale Juroren, die auch »weiche« Vorzüge wie Teamgeist unter die Lupe nahmen. Selbst nach sechsmonatiger Berieselung durch EQ-fördernde Maßnahmen hatten die Manager keinen Deut an Führungsqualitäten zugelegt. »Die Daten erlauben nur einen Schluss«, so das Resümee von Zeidner und Roberts. »Die Aufregung über den möglichen Nutzen der Emotionalen Intelligenz im Beruf ist voreilig, wenn nicht völlig fehlgeleitet.« Logische Folgerung: »Ein EQ sollte nicht in die Auslesekriterien für Berufsanwärter aufgenommen werden.« In der Realität gibt es auch gar keinen Grund anzunehmen, dass »emotionale« Fähigkeiten mit entsprechenden Charaktereigenschaften Hand in Hand gehen müssen. Man braucht sich nur jemanden wie den berühmt-berüchtigten Filmver-

brecher Hannibal Lecter vorzustellen, der seine vorzügliche Fertigkeit im Lesen von Gefühlen anderer vor allem in den Dienst seiner sadistischen – also emotional »dummen« – Persönlichkeit stellt. Die meisten klinischen Psychologen dürften bereits einmal mit einem solch extremen Menschentyp konfrontiert gewesen sein. Andererseits handelt man sich mit manchen emotional intelligenten Wesenszügen in bestimmten Situationen handfeste Nachteile ein. So zahlt sich Verträglichkeit, ein Merkmal nachgiebiger und netter Menschen, nur in einer freundlichen und kollegialen Umgebung aus, stellen Zeidner und Roberts fest. Unter den Bedingungen heftigen Wettbewerbs, wie sie im Berufsalltag oft herrschen, schneiden rücksichtslose Naturen häufig besser ab. Im Kern entspringt die Behauptung, Emotionale Intelligenz nutze dem Fortkommen im Beruf, vor allem einem Wunschdenken: Die netten Typen mögen doch bitte triumphieren – und nicht die gnadenlosen Karrieristen. Schön wär’s! Übrigens: Viele Kurse zur Erhöhung des EQ, die im Internet aggressiv bewor­ben werden, sind klar als Quacksalberei erkennbar. Das ganze Konzept der Emo­ tionalen Intelligenz würde schon viel überzeugender wirken, wenn seine Vermarktung nicht so offensichtlich auf die Dummheit der Menschen abzielte!

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kommunikation Moderne Arbei tsw e lt

Im Clinch mit Kollegin Technik


Corbis-Zefa

Computer, Internet und Handy haben den Arbeitsalltag schneller, flexibler und einfacher gemacht. Allerdings stellen die elektronischen Helfer unsere Psyche auch vor ganz neue Herausforderungen.

Von Annette Schäfer

D

ie Uhr tickt unerbittlich, all­ mählich breitet sich Panik in der Redaktion aus – der Redaktions­ schluss für die neue Ausgabe der Tageszeitung steht unmittelbar bevor, doch nun ist in letzter Sekunde ein gro­ ßer Artikel im Politikteil weggebrochen. Da hilft nur noch eines: ein paar Stich­ wörter zum Thema in die Internetsuch­ maschine »Google« eingeben und aus den besten Fundstellen einen lesbaren Text zimmern. Mit seriösem Journalis­ mus hat ein solches »Zusammengoo­ geln« zwar wenig zu tun, aber immerhin ist die Katastrophe abgewendet. Wieder einmal diente die moderne Kommuni­ kationstechnik als Retter in der Not. Doch auch im normalen Tagesge­ schäft kommen Journalisten heute ohne moderne Technik nicht mehr aus. Sie re­ cherchieren in Online-Datenbanken und auf den Webseiten von Universitäten, mailen an Experten und speisen Artikel ins Redaktionssystem ein. Ähnliches gilt für viele Berufe. Banken und Versiche­

»Ich hasse ihn!« Computerfehler verursachen eine Menge Stress im Job. Denn solche Probleme kosten sehr viel Zeit und Nerven. GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

rungen bearbeiten Kundenvorgänge oft komplett digital. Ingenieure und Archi­ tekten stehen nicht mehr am Zeichen­ brett, sondern entwerfen Flugzeuge, Ein­ kaufszentren oder Autobahnen am Rech­ ner. Global agierende Manager wären ohne Handy, Laptop und Videokonfe­ renz hilflos. Selbst für Verkäufer ist der Umgang mit elektronischen Kassen und digitalen Warenwirtschaftssystemen oft eine Selbstverständlichkeit. Wer unter 35 Jahre alt ist, kann sich meist kaum noch vorstellen, dass es einmal Zeiten ohne Computer, Internet und Handy gab. Wie stark sich die moderne Technik in der Arbeitswelt durchgesetzt hat, zei­ gen Erhebungen, die der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommuni­ kation und Neue Medien jährlich durch­ führt. Demnach arbeiten seit 2006 rund 57 Prozent aller Beschäftigten in Deutsch­ land am Computer, 40 Prozent haben ei­ nen Internetzugang. Der Siegeszug verwundert kaum. Mo­ derne Technologien haben uns enorme Effizienz- und Produktivitätssteigerun­ gen beschert. Dauerte es früher manch­ mal mehrere Tage, bis ein Journalist den besten Experten lokalisierte, genügt heu­ te eine kurze Recherche im Internet. Statt per Hand oder Schreibmaschine mühse­ lig Formulare auszufüllen, tippen Banker und Versicherungsleute Kundendaten ruck, zuck in Computermasken ein. 37


Moderne A rbeitswelt r Kommunikation per E-Mail oder Handy

braucht einen Bruchteil der Zeit, die für das Schreiben und Versenden von Brie­ fen oder die Organisation persönlicher Treffen aufgewendet werden müssen. Kollegin Technik hat das Arbeitsleben also in vielerlei Hinsicht schneller, flexib­ ler und einfacher gemacht. Doch für die menschliche Psyche und das soziale Ge­ füge von Organisationen stellt sie eine enorme Herausforderung dar. Informationsflut, soziale Isolation, Vermischung von Privat- und Arbeitsleben, immer kürzere Halbwertszeit des Wissens – nicht jeder kommt damit gut zurecht. »Die Anforderung an die Technikkom­ petenz von Berufstätigen hat in den letz­ ten Jahren rasant zugenommen«, meint Günter Voß, Professor für Industrie- und Techniksoziologie an der Technischen Universität Chemnitz. »Die verfügbaren Technologien werden immer vielfältiger, komplizierter und vernetzter. Die Fähig­ keiten, mit diesen Medien umzugehen, unterscheiden sich oft grundlegend von früheren Anforderungen.«

Dschungel statt Wüste Zum Beispiel bei der Informationsbe­ schaffung. Früher, so Voß, habe das Pro­ blem darin bestanden, überhaupt ausrei­ chendes Material aufzutreiben. Mittler­ weile hat sich die Situation um 180 Grad gedreht. Aus der Informationswüste ist ein schier erdrückendes Überangebot ge­ worden – sozusagen ein Informationsdschungel. Wer ein Stichwort in eine ­Internet-Suchmaschine eingibt, muss mit Zehntausenden von Fundstellen rech­ nen. Und in vielen Mailboxen sammeln sich Tag für Tag mehrere dutzend oder gar hundert E-Mails an. Mit dieser Fülle fertig zu werden erfordert von Berufstäti­ gen ausgeprägte Selektions- und Bewer­ tungsfähigkeiten. Welche Informationen schaue ich mir an, welche ignoriere ich? Wie schotte ich mich vor unerwünschten Mitteilungen und Nachrichten ab? Wel­ che Daten gebe ich selbst weiter? Andere Schwierigkeiten haben ganz direkt mit der modernen Technik zu tun. So etwa einen streikenden PC wieder zum Funktionieren zu bringen oder die kryptische Fehlermeldung eines Textver­ arbeitungsprogramms zu entschlüsseln – 38

das sind Herausforderungen des Arbeits­ alltags, von denen unsere Großeltern noch nichts wussten. Wenn man empi­ rischen Untersuchungen glaubt, geht bei Bürotätigkeiten immerhin etwa ein Zehntel der alltäglichen Arbeitszeit für die Bewältigung solcher Widrigkeiten drauf. Diese Zahl bezieht sich nicht etwa auf Ungeübte oder Anfänger, sondern auf erfahrene Nutzer! Die Folge dieser Konflikte zwischen Mensch und Maschi­ ne: nicht nur erhebliche Kosten für die Unternehmen, sondern auch massiver psychischer Stress für die Mitarbeiter. Dieter Zapf, Leiter der Abteilung für Arbeits- und Organisationspsychologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main hat den Zusam­ menhang zwischen Computerfehlern und Stress eingehend untersucht. Seine Studien zeigen, dass solche Probleme auf indirekte Weise nerven. Sie führen zu einem vermehrten oder stärkeren Auftre­ ten von Faktoren, die dann erst die ei­ gentliche Stressreaktion auslösen. Als ein wesentlicher »Stressor« hat sich die Zeit herausgestellt. Bei einem Computerfehler dauert die Korrektur oft lang, die eigentliche Arbeit bleibt wäh­ renddessen liegen. Folge: Der Zeitdruck steigt, Stressstufe eins wird aktiviert. Oft gerät dann der Benutzer bei sei­ nen Lösungsversuchen in vollkommen unbekannte Gefilde seines Computers. Eine falsche F-Taste gedrückt, zu oft den Befehl zum Rückgängigmachen erteilt, an der Systemsteuerung herumgespielt – und schwupps ist man in den Untiefen der Digitalwelt hängen geblieben. »In unseren Untersuchungen konnten wir oft richtige Fehlerkaskaden feststellen«, erläutert Zapf. »War der Benutzer erst einmal aus der vertrauten Programmum­ gebung herausgefallen, reihte sich Fehler an Fehler, weil die Person mit der Situa­ tion überfordert war.« Stressstufe zwei. Allein kommt ein Nutzer dann oft nicht mehr weiter und bittet daher einen versierten Kollegen oder die zuständigen Experten von der IT-Abteilung um Hil­ fe. Externen Rat einzuholen verschlingt jedoch nicht nur weitere Zeit – einen Fehler nicht allein bewältigen zu können stellt schon für sich eine belastende Überforderung dar: Stressstufe drei!

Bei der Arbeit mit der digitalen Tech­ nik können aber auch noch ganz andere psychologische Probleme auftreten. Etwa irrationale Fantasien: Die hohe Komple­ xität und Undurchschaubarkeit des Com­ puters ruft bei vielen Benutzern geradezu magische Vorstellungen über ihre Funk­ tionsweise hervor, die zu Unsicherheiten und Ängsten führen können. Dies brach­ te eine Studie des Instituts für Psycholo­ gie und Sozialforschung der Universität Bremen ans Licht. Eine Forschergruppe um Thomas Leithäuser verfolgte über mehrere Jahre hinweg die Einführung von PCs in der Bremer Verwaltung. Ins­ besondere Anfänger stellen sich beispiels­ weise oft vor, ein einziger falscher Tasten­ druck könne das System zum Absturz bringen oder alle Daten löschen. Selbst nach jahrelanger Nutzung bleiben ver­ unsichernde Assoziationen bestehen, etwa das Bild vom Computerinnern als verschlungenem Labyrinth, in dem man sich sehr leicht verläuft. Auch das Selbstwertgefühl leidet oft massiv unter der Zusammenarbeit mit Kollegin Technik. Die Rätselhaftigkeit, was genau im Computer vor sich geht, kann ein Gefühl des Ausgeliefertseins er­ zeugen, so die Bremer Forscher. Genauso das Gefühl, ein völliger Technikidiot zu sein, das selbst Experten zuweilen be­ fällt. Allerdings verschafft der Computer auch – seltene – Glücksmomente: etwa das Gefühl von Macht und Triumph, wenn die Installation einer neuen Soft­ ware auf Anhieb klappt oder das Netz­ werk endlich wie geschmiert läuft.

PC-Einzelkämpfer im Vorteil Ein weiteres Opfer der Computerarbeit ist das Teamwork. Während normaler­ weise eine intensive Kooperation mit Kollegen die Arbeitszufriedenheit eher steigert, gilt dies nicht für Tätigkeiten, bei denen der Computer eine zentrale Rolle spielt. Das belegt eine Untersu­ chung des Organisationspsychologen Jürgen Wegge von der Ludwig-Maximi­ lians-Universität München. Wer auf Da­ tenlieferungen von anderen angewiesen ist oder elektronische Rückmeldungen über die eigene Arbeit benötigt, erlebt mehr negative Emotionen wie Gereizt­ heit, Ärger und Ängstlichkeit als PC-Ein­ GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


Corbis

Heimarbeit – und ihre Tücken Keine Babypause Telearbeit vermengt das Berufs- mit dem Privat­ leben, sodass sich beides nicht mehr klar voneinander abgrenzen lässt. Da kann leicht eine Seite zu kurz kommen.

Moderne Technologien machen zunehmend ortsungebunden – das gilt vor allem für Büroarbeit. Ein vernetzter Computer, ein leistungsstarkes Handy, mehr brauchen viele Berufstätige nicht, um ihrem Job nachzugehen. Warum dann überhaupt noch in die Firma gehen? Tatsächlich nutzen laut einer Studie der Forschungsfirma Empirica schon sechs Millionen Beschäftigte hier zu Lande ­Telearbeit in der einen oder anderen Form – Tendenz steigend. Darunter befinden sich nicht nur die klassischen Heimarbeiter, die ständig im eigenen Büro Tätigkeiten wie Datenerfassung, Programmierung oder Sachbearbeitung verrichten. In vielen Firmen ist es heute üblich, dass Mitarbeiter zeitweise zu Hause arbeiten, etwa weil sie dort mehr Ruhe haben oder das die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert. Hinzu kommen Freiberufler in Home-Offices, die per Internet mit ihren Kunden und Partnern vernetzt sind, sowie Personen, die häufig auf Reisen sind – etwa Außendienstmitarbeiter und Manager – und dabei fleißig Notebook und Handy nutzen. Diese ungebundene, technikunterstützte Arbeitsweise bedeutet für viele Berufstätige mehr Flexibilität und Freiheit. Doch sie kann auch eine Reihe von Problemen mit sich bringen: r  Kommunikation: Telearbeit führt zu deutlich weniger Interaktionen mit Kollegen, wie die Untersuchungen des Soziologen Frank Kleemann von der Technischen Universität Chemnitz zeigen. Die Hemmschwelle zur Kontaktaufnahme liegt deutlich höher, als wenn der Mitarbeiter oder die Kollegin im Nebenzimmer sitzt. Da braucht es schon einen konkreten Anlass, um den Telefonhörer in die Hand zu nehmen oder eine Mail zu beginnen. Zudem beschränkt sich dann der Austausch meist auf Informationen, die für die Bearbeitung der eigentlichen Arbeitsaufgabe notwendig sind. Auf der Strecke bleiben dagegen Privates und Informationen, die nur mittelbar die Ar-

GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

beit betreffen. »Gerade der Wegfall dieses halb informellen Palavers über die Arbeit und den Betrieb – der Weggang des Chefs, die geplante Umstrukturierung, das neue Computersystem – hat weit reichende Konsequenzen«, so Kleemann. »Man weiß weniger darüber, was und wie die Kollegen arbeiten. Gelegenheiten, andere zu mikropolitischem Verhalten zu mobilisieren, bleiben aus, das Konkurrenzverhalten nimmt dagegen eher zu.« r  Selbstorganisation: Telearbeit bietet Berufstätigen die Möglichkeit zu Eigenständigkeit und Selbstorganisation. Dass viel Freiraum auch zur Belastung werden kann, belegt eine Untersuchung von Renate Schmook, Sozial- und Organisationspsychologin an der Universität Halle. So zeigten sich die von ihr untersuchten Telearbeiter oft verunsichert, weil die Erledigung ihrer Aufgaben nicht klar vorstrukturiert war, ihnen eine unmittelbare Rückmeldung fehlte oder sie sich nicht an Kollegen orientieren konnten. r  Privatleben: Durch Telearbeit wird die strenge Trennung zwischen Beruf und Privatleben aufgeweicht. Der Schreibtisch immer in Reichweite, E-Mails und Intranet-Zugang rund um die Uhr – vielen Berufstätigen fällt es da schwer, den Feierabend einzuläuten und auf Entspannung umzuschalten. Kleine Kinder können zudem nur schwer begreifen, dass Vater oder Mutter zwar in der Wohnung, aber dennoch nicht für sie verfügbar ist. Zudem hält mit der Arbeit oft ein strengeres Regiment Einzug im trauten Heim. »Telearbeit bringt eine zunehmende Verbetrieblichung der Lebensführung mit sich«, so Soziologe Kleemann. »Die in der Berufsarbeit wirksame zweckrationale Handlungs- und Planungslogik wird auf die Privatsphäre übertragen.« Kuscheln als Punkt auf der To-do-Liste, gemeinsame Mahlzeiten nach Terminkalender – das erhöht nicht unbedingt die Lebensqualität.

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impressum thema

Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer Chefredakteur: Dr. Carsten Könneker (verantwortlich) Artdirector: Karsten Kramarczik Redaktion: Dr. Katja Gaschler (stellv. Chefredakteurin), Dr. Hartwig Hanser (Chef vom Dienst), Dipl.-Psych. Steve Ayan (Textchef ), Dr. Andreas Jahn (Online-Koordinator), Dipl-Psych. Christiane Gelitz, Dipl.-Biol. Sabine Berger (freie Mitarbeit) Ständige Mitarbeiter: Ulrich Kraft, Prof. Dr. Annette Leßmöllmann Schlussredaktion: Katharina Werle (Ltg.), Christina Peiberg (stv. Ltg.), Sigrid Spies Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe Layout: Anke Heinzelmann Redaktionsassistenz: Anja Albat Redaktionsanschrift: Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg, Tel.: 06221 9126-711, Fax: 06221 9126-729 Amtsgericht Mannheim, HRB 338114 Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Angela D. Friederici, Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung, Leipzig Prof. Dr. Frank Rösler, Fachbereich Psychologie, PhilippsUniversität Marburg Prof. Dr. Gerhard Roth, Institut für Hirnforschung, Universität Bremen; Hanse-Wissenschafts-Kolleg, Delmenhorst Prof. Dr. Henning Scheich, Leibniz-Institut für Neurobiologie, Magdeburg Prof. Dr. Wolf Singer, Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt/Main Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Wahlster, Fachrichtung Informatik, Universität des Saarlandes, Saarbrücken; Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, Kaiserslautern und Saarbrücken Herstellung: Natalie Schäfer, Tel.: 06221 9126-733 Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.), Tel.: 06221 9126-741, E-Mail: service@spektrum.com Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel.: 06221 9126-744 Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg Hausanschrift: Slevogtstraße 3–5, 69126 Heidelberg, Tel.: 06221 9126-600, Fax: 06221 9126-751 Verlagsleiter: Dr. Carsten Könneker Geschäftsleitung: Markus Bossle, Thomas Bleck Leser- und Bestellservice: Tel.: 06221 9126-743, E-Mail: service@spektrum.com Vertrieb/Abonnementverwaltung: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, c/o ZENIT Pressevertrieb GmbH, Postfach 81 06 80, 70523 Stuttgart, Tel.: 0711 7252-192, Fax: 0711 7252-366, E-Mail: spektrum@zenit-presse.de, Vertretungsberechtigter: Uwe Bronn Bezugspreise: Dossier Einzelheft: € 8,90. Die Lieferung erfolgt gegen Rechnung zzgl. Versandkosten. Diese richten sich im Inland nach dem Bestellwert: von € 1,50 bei Bestellwert unter € 10,– bis € 3,50 bei Bestellwert über € 50,–. Zahlung sofort nach Rechnungserhalt. Konto: Postbank Stuttgart, 22 706 708 (BLZ 600 100 70). Anzeigen/Druckunterlagen: Karin Schmidt, Tel.: 06826 5240-315, Fax: 06826 5240-314, E-Mail: schmidt@spektrum.com Anzeigenpreise: Zurzeit gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 6 vom November 2006. Gesamtherstellung: Vogel Druck und Medienservice GmbH & Co. KG, 97204 Höchberg Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk liegen bei der Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH. Jegliche Nutzung des Werks, insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche Wiedergabe oder öffentliche Zugänglichmachung, ist ohne die vorherige schriftliche Einwilligung der Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH unzulässig. Jegliche unautorisierte Nutzung des Werks berechtigt die Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH zum Schadensersatz gegen den oder die jeweiligen Nutzer. Bei jeder autorisierten (oder gesetzlich gestatteten) Nutzung des Werks ist die folgende Quellenangabe an branchenübli­cher Stelle vorzunehmen: © 2007 (Autor), Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, 69038 Heidelberg. Jegliche Nutzung ohne die Quellenangabe in der vorstehenden Form berechtigt die Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH zum Schadensersatz gegen den oder die jeweiligen Nutzer. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher übernimmt die Redaktion keine Haftung; sie behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Bildnachweise: Wir haben uns bemüht, sämtliche Rechteinhaber von Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt. ISSN 1612-4626 ISBN 978-3-938639-56-6 www.gehirn-und-geist.de

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r zelkämpfer, die ihre Arbeit allein be­

wältigen können. Außerdem scheint laut Wegge der problem­beladene alltägliche Umgang mit dem digitalen Kollegen auch häufiger Kopfschmerzen, Nacken­ verspannungen und allgemeines Un­ wohlsein hervorzurufen. Nicht nur der Computer, auch E-Mail und Internet haben das Arbeitsleben in den letzten Jahren stark verändert. Nach einer Umfrage des privaten Forschungs­ unternehmens Empirica in Bonn konn­ ten schon im Jahr 2002 die Mitarbeiter von 73 Prozent aller deutschen Firmen elektronische Briefe verschicken. Die Vorzüge elektronischer Korre­ spondenz liegen auf der Hand: Eine EMail zu schreiben ist einfach, geht schnell und funktioniert von jedem vernetzten PC aus. Der Schreiber kann genau for­ mulieren, was er sagen will, ohne wie bei Briefen Zeit auf Formalien verwenden zu müssen. Im Unterschied zu Telefona­ ten wird der Adressat nicht gestört und kann zu einem Zeitpunkt antworten, an dem es ihm passt. Doch die beliebten Digitalpostillen besitzen auch Eigenschaften, die zu un­ erwarteten Problemen führen. So hat die elektronische Kommunikation einen geradezu enthemmenden Effekt, wie Medienpsychologen festgestellt haben. E-Mails sind meist in einem eher locke­ ren Ton verfasst, die Ansprache gestaltet sich weniger förmlich, emotionale Äuße­ rungen und Rechtschreibfehler kommen recht häufig vor. Weitere Studien zeigen, dass negative Informationen wie die An­ kündigung von Rationalisierungsmaß­ nahmen auf Grund eines schlechten Be­ triebsergebnisses und andere unange­ nehme Nachrichten in E-Mails direkter und weniger schonend kommuniziert werden als in persönlichen Gesprächen. Daraus kann sich gerade im Berufs­ leben eine explosive Mischung zusam­ menbrauen. Die Gefahr von Missver­ ständnissen, Grenzüberschreitungen und eskalierenden Konflikten nimmt drama­ tisch zu. Anders gesagt – das digitale Fettnäpfchen gleicht eher einem Ozean! Vor allem Mitglieder des mittleren Managements scheint dieses Problem zu beschäftigen, stellten Michael Jäckel, Professor für Konsum- und Kommuni­

kationsforschung an der Universität Trier, und seine Kollegen Thomas Lenz und Nicole Zillien fest. Die Soziologen befragten knapp zweihundert Mitarbei­ ter in der Personalabteilung eines deut­ schen Konzerns zur Nutzung und Be­ wertung neuer Kommunikationstech­ nologien. Ergebnis: Die mittlere Hierar­ chieebene stand der E-Mail deutlich reservierter gegenüber als die oberen und unteren Ebenen. Diesen Managern miss­ fielen vor allem der wenig formale Stil der elektronischen Post und der laxe Umgang mit Rechtschreibung und In­ terpunktion. Auch hatten sie mehr Be­ denken, mit einer unbekannten Person digital Kontakt aufzunehmen, als Vertre­ ter der oberen Chargen.

Heikle E-Mail-Korrespondenz Der Grund für diese Zurückhaltung, so die Trierer Wissenschaftler: Vor allem Aufstiegsanwärter im Mittelfeld haben geradezu panische Angst davor, eine EMail in unangemessenem Tonfall zu ver­ fassen. Eine zu saloppe Nachricht an ei­ nen konservativen Vorgesetzten oder umgekehrt eine formale Mail, die ein lo­ ckerer Chef als spießig und verkrampft empfindet – nicht auszudenken, wie das der Karriere schaden könnte! Diese Sor­ ge scheint hingegen Sachbearbeiter ohne Ambitionen sowie höhere Führungskräf­ te, die ihren Aufstieg schon weit gehend abgeschlossen haben, weniger zu quälen. Doch auch sonst birgt die digitale Post reichlich Konfliktpotenzial – auf al­ len Hierarchieebenen. Denn einer EMail fehlen all die kleinen nonverbalen Hinweise, die das Verständnis erleich­ tern. Bei einem persönlichen Gespräch vermitteln Mimik und Körpersprache, aber auch die Kleidung, die Wahl eines Treffpunkts oder die Einrichtung des Büros wertvolle Informationen über das Gegenüber. Beim Telefonat kann man immerhin noch Signale wie Tonfall, Lautstärke, Betonung oder Pausen zu Rate ziehen. Anders bei einer E-Mail. Hier stehen lediglich die nackten Wörter auf dem Bildschirm zur Verfügung. Und die führen leicht zu Missver­ ständnissen. Warum benutzt der Kollege plötzlich nur noch das neutrale »Hallo«, während er noch bis vor Kurzem seine GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


Mails immer mit »Lieber Fritz« einleite­ te? Bedeutet der plötzliche Stakkato-Stil des Chefs, dass er sauer auf mich ist? Weshalb antwortet die Geschäftspartne­ rin seit zwei Tagen nicht? Solche Fragen öffnen Fehlinterpretationen und Irritati­ onen Tür und Tor. »Die Unsicherheiten und Mehrdeu­ tigkeiten, die mit E-Mails verbunden sind, verleiten einen Empfänger, eigene Erwartungen, Wünsche und Ängste auf den Schreiber und dessen Botschaft zu projizieren«, erklärt John Suler, Experte für Cyberspace-Psychologie von der Ri­ der University in New Jersey. »Wir nen­ nen das eine Übertragungsreaktion.« Wer etwa erwartet, dass sein Chef einem Projekt ablehnend gegenüber­ steht, empfindet dessen Mails oft als kri­ tischer, als sie tatsächlich formuliert sind. Der Mitarbeiter hört dabei nicht die Botschaft des Vorgesetzten, sondern die Stimmen im eigenen Kopf. Oft wachsen sich solche Missverständnisse schnell zu ernsthaften Problemen aus, die der er­ wähnte Enthemmungseffekt noch ver­ stärken kann, warnt Suler.

Handys bringen Stress ins Privatleben Reichlich Konfliktpotenzial liefert auch das Mobiltelefon. Wer aus beruflichen Gründen ein Handy mit sich herum­ trägt, kennt die Fallstricke und Ärger­ nisse, die damit verbunden sind: Wich­ tige Anrufe kommen immer dann, wenn man ohnehin unter Stress steht oder sich zu konzentrieren versucht; Kollegen läu­ ten wegen jeder banalen Frage an, ohne vorher selbst einmal nachzudenken; der Chef lebt jetzt seinen Mitteilungsdrang auch außerhalb der üblichen Arbeitszeit aus. Und ist dann womöglich noch sau­ er, wenn er nur die Mailbox erreicht. Dieses Gefühl, ständig auf Abruf zu stehen, stört jedoch nicht nur die innere Ruhe, sondern auch das Privatleben, wie etwa eine Untersuchung der University Manchester aus dem Jahr 1991 unter 5000 Führungskräften an den Tag brach­ te. Insbesondere in Ehen von Managern, die auch am Feierabend und im Urlaub für ihre Firmen erreichbar sein müssen oder das gar wollen, führt das Mobiltele­ fon zu Streit, zusätzlichem Stress und ei­ GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

ner erheblichen Belastung des Familien­ lebens. Psychologen raten deshalb, mit Kollegen und Vorgesetzten, Freunden und Familienmitgliedern detaillierte Spielregeln für die mobile Kommunika­ tion auszuhandeln. Doch das braucht nicht nur Geduld und Zeit, sondern vor allem auch die Bereitschaft aller Beteilig­ ten, sich daran zu halten. Insgesamt besitzt der Mensch aber eine erstaunlich ausgeprägte Fähigkeit, sich an neue Technologien anzupassen, meint Suler. Der elektronische Gedan­ kenaustausch per E-Mail beispielsweise habe sich zu einer anspruchsvollen, aus­ drucksstarken Art der Kommunikation entwickelt, zu einer ganz eigenen Sprach­ form zwischen Mündlich- und Schrift­ lichkeit. Hierfür hat Suler auch schon eine neue Bezeichnung geprägt: Text Talk. »Erfahrene E-Mail-Schreiber«, so der Forscher, »sind in der Lage, mit ganz einfachen Worten eine erstaunliche Tiefe und Subtilität auszudrücken.« Diese menschliche Anpassungsfähig­ keit zeigt sich denn auch im Umgang mit einem streikenden PC. So fangen die al­ lermeisten Nutzer bei Problemen an, mit ihrem elektronischen Gegenüber zu re­ den, fanden Forscher um Holger Luczak am Institut für Arbeitswissenschaften der Technischen Hochschule Aachen 2003 bei einer detaillierten Befragung von rund hundert Personen heraus. Als ob man es mit einem lebenden, intelligenten Wesen zu tun hätte, wird der Computer befragt, beschimpft, angefleht oder moti­

viert. Diese Personifizierung von tech­ nischen Geräten dient als wirkungsvolle psychologische Strategie zum Stressab­ bau, betonen die Wissenschaftler. Selt­ same Seitenblicke von Umstehenden und andere negative Reaktionen braucht man dabei übrigens nicht zu befürchten: Laut der Aachener Studie gelten Gespräche mit technischen Geräten allgemein als akzeptables Verhalten. Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrem Computer geschimpft? l Annette Schäfer ist promovierte Volks­wirtin und lebt in Chicago.

Literaturtipps Frese, M., Zapf, D.: Fehler bei der Arbeit mit dem Computer. Bern: Verlag Hans Huber 1991. Standardwerk, derzeit leider ver­griffen. Jäckel, M. et al.: Vor Outlook sind wir alle gleich. Egalisierungs- und Hierarchisierungstendenzen im Zuge der E-Mail-Nutzung. In: kommunikation@gesellschaft 3, 2002, Beitrag 7. Suler, J.: The Psychology of Cyberspace. Online-Buch erhältich unter www.rider. edu/~suler/psycyber/psycyber.html Wegge, J., Neuhaus, L.: Emotionen bei der Büroarbeit am PC. In: Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie 46, 2002, S. 173–184.

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balance Burn-out

Loslassen vor dem Fall Ohne Fleiß kein Preis! In der heutigen Arbeitswelt gilt das mehr denn je. Doch Vorsicht: Übermäßiger Ehrgeiz und Dauerstress machen krank. Burn-out-Syndrom heißt die Folge – und immer mehr Berufstätige sind betroffen.

Von Ulrich Kraft

A

ls er vor neun Jahren sein Di­ plom als Betriebswirt in der Ta­ sche hatte, war Lars N. (Name geändert) so etwas wie das Pa­ radebeispiel dessen, was neudeutschelnde Personalmanager gerne als »High Poten­ tial« bezeichnen. 28 Jahre jung, unge­ bunden, hungrig, und dank herausra­ gender Qualifikation prädestiniert für eine steile Karriere. N. nutzte sein »hohes Potenzial«. Er stieg bei einer Unternehmensberatung ein und dort rasch auf in eine leitende Position. Firmenwagen, gutes Gehalt, viel Verantwortung. Für den beruflichen Erfolg nahm er allerdings einiges in Kauf. Ständige Geschäftsreisen, ein Leben aus dem Koffer, ein wöchentliches Arbeits­ pensum zwischen 60 und 80 Stunden, zusätzlich noch Termine am Wochen­ ende, und das über Jahre hinweg. »Gele­ gentlich habe ich schon bemerkt, wie an­ strengend der Job ist«, erzählt er heute. »Trotzdem hat es mir lange Zeit riesig Spaß gemacht, es war einfach ein Kick.« Ein Kick, der letztlich auf der In­ tensivstation endete. Direkt vor seiner ­Wohnungstür war Lars N. zusammenge­ brochen, mit heftigen Kopfschmerzen, Schwindel und Herzrasen. »Zuerst dach­ 42

te ich, ich hätte einen Schlaganfall«, er­ innert er sich heute, ein gutes Jahr da­ nach. Doch die Ärzte stellten eine ande­ re Diagnose: Burn-out-Syndrom. Der Consultant war krank, krank durch die jahrelange Überbelastung im Job.

Der Kick war gestern Geprägt wurde der vom englischen »to burn out« − ausbrennen − abgeleitete Be­ griff Anfang der 1970er Jahre von Her­ bert J. Freudenberger. Der New Yorker Psychoanalytiker musste zunächst bei sich selbst feststellen, dass ihn sein Job, der ihm einst Spaß bereitet hatte, nur noch ermüdete und frustrierte. Dann fiel ihm auf, dass viele seiner gestressten Me­ dizinerkollegen mit der Zeit zu depres­ siven Zynikern mutierten, die ihre Pati­ enten zunehmend lieblos und abweisend behandelten. Freudenberger nahm daraufhin auch Menschen aus anderen Berufsgruppen genauer unter die Lupe − und stieß im­ mer wieder auf dieselben Probleme. Stimmungsschwankungen, Schlafstörun­ gen, Konzentrationsschwächen, oft in Kombination mit körperlichen Symp­ tomen wie Rückenschmerzen oder Ver­ dauungsproblemen. Freudenberger gab dem Kind einen Namen und definierte Burn-out als »einen Zustand erschöpfter

MEHR ZUM THEMA r Wenn der Job zur Droge wird (S. 50) Interview mit dem Arbeitsforscher Holger Heide

physischer und mentaler Ressourcen«, der mit dem Arbeitsleben in ursäch­ lichem Zusammenhang steht. Neu ist das Phänomen nicht. Schon Johann Wolfgang von Goethe fühlte sich den Belastungen des Ministeramts, das er am Weimarer Hof bekleidete, offenbar eines Tages nicht mehr gewachsen. Mit der Begründung, er fürchte dichterisch auszutrocknen, reiste der 37-Jährige Hals über Kopf nach Italien. Zum Glück hat­ te er einen überaus toleranten Chef. Her­ zog Karl-August forderte seinen Ange­ stellten sogar auf, sich ausgiebig zu erho­ len und erst dann zurückzukehren, wenn sich die lyrischen Kräfte wieder regene­ riert hätten. Goethes »Sabbatical« dauer­ te fast zwei Jahre. Menschen, die es nicht geschafft ha­ ben, rechtzeitig die Notbremse zu zie­ hen, sieht der Arzt Jürgen Staedt immer häufiger. Bei über 15 Prozent der Pati­ enten, die mit depressiven Erkrankungen ins Vivantes-Klinikum nach BerlinSpandau kommen, wird heute das Burnout-Syndrom diagnostiziert. »Vor zehn

Bin fertig Wer bis zum Umkippen arbeitet, fügt Körper und Seele bleibende Schäden zu. GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


Gehirn&Geist / Gina Gorny


Burn-out

Die zwölf Phasen des Ausbrennens Ein Burn-out-Syndrom kommt nicht über Nacht, es entwickelt sich schleichend über längere Zeit hinweg. Pionier Herbert Freudenberger und seine Kollegin Gail North haben das »Ausbrennen« in zwölf Stufen eingeteilt. Sie laufen aber nicht zwangsläufig nach­einander ab. Manche Betroffene überspringen eine Phase, andere befinden sich in mehreren gleichzeitig. Die Dauer eines Stadiums variiert ebenfalls von Person zu Person. r Stadium 1: Der Zwang, sich zu beweisen Am Anfang steht häufig übertriebener Ehrgeiz. Tatendrang, Inte­resse und der Wunsch, sich im Beruf zu verwirklichen, verwandeln sich in Verbissenheit und Leistungszwang. Man muss den Kollegen – und vor allem sich selbst – ständig beweisen, dass man den Job besonders gut macht und alles schafft. r Stadium 2: Verstärkter Einsatz Um seinen überzogenen Erwartungen gerecht zu werden, legt man noch einen Scheit drauf und erhöht den Einsatz. Delegieren fällt zunehmend schwer. Stattdessen dominiert das Gefühl, alles selbst machen zu müssen, auch um die eigene Unentbehrlichkeit zu demonstrieren. r Stadium 3: Vernachlässigung eigener Bedürfnisse Im Zeitbudget ist nur noch Platz für Berufliches, andere Bedürfnisse wie Schlafen, Essen oder Treffen mit Freunden und Bekannten werden als nichtig abgetan. Freizeit im Sinn von »freie Zeit« verliert ihren Sinn. Sich selbst gegenüber deklariert man diesen Verzicht als heroische Leistung. r Stadium 4: Verdrängung von Konflikten Man registriert zwar, dass etwas nicht stimmt, stellt sich seinen Problemen aber nicht. Sich damit auseinander zu setzen, könnte eine Krise auslösen und wird deshalb als bedrohlich empfunden. Ab diesem Stadium machen sich oft die ersten körperlichen Beschwerden bemerkbar. r Stadium 5: Umdeutung von Werten Isolation, Konfliktscheu und die Negation eigener Bedürfnisse verändern die Wahrnehmung. Man deutet seine bisherigen Werte um, einst Wichtiges wie Freunde oder ein Hobby werden völlig entwertet. Einziger Maßstab für die eigene Relevanz, das Selbstwertgefühl, ist der Job. Alles andere wird diesem Ziel untergeordnet. Emotional stumpft man zusehends ab. r Stadium 6: Verleugnung der auftretenden Probleme Hauptsymptom dieser Phase ist Intoleranz, andere werden als dumm, faul, fordernd oder undiszipliniert wahrgenommen. Zwangsläufig empfindet man soziale Kontakte als kaum zu ertragen. Zynismus und Aggressionen werden offensichtlicher. Die auftretenden Probleme führt man aber ausschließlich auf den Zeitdruck und das Arbeitspensum zurück – nicht auf die ­eigene Wesensänderung.

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r Stadium 7: Rückzug Die sozialen Kontakte reduzieren sich auf ein Minimum. Man lebt zurückgezogen und eingeigelt und empfindet eine zunehmende Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit. Auf der Arbeit wird nur noch »Dienst nach Vorschrift« verrichtet. Viele greifen in dieser Phase zu Suchtmitteln wie Alkohol oder Medikamenten. r Stadium 8: Offensichtliche Verhaltensänderungen Jetzt wird die Wesensänderung für andere unübersehbar. Die einst so engagierten und tatkräftigen Menschen sind ängstlich, scheu und apathisch. Die Schuld weisen sie ihrer Umwelt zu. Innerlich fühlen sie sich immer wertloser. r Stadium 9: Depersonalisierung In diesem Stadium reißt der Kontakt zu sich selbst ab. Man empfindet weder sich noch andere als wertvoll, nimmt seine Bedürfnisse nicht mehr wahr. Die Perspektive für die Zeit engt sich auf die Gegenwart ein. Das Leben wird zu mechanischem Funktionieren herabgewürdigt. r Stadium 10: Innere Leere Immer stärker macht sich eine innere Leere breit. Um diese zu überwinden, sucht man verkrampft nach Beschäftigung. Überschussreaktionen wie gesteigerte Sexualität, übermäßiges Essen, Drogen- und Alkoholgenuss treten auf. Freizeit ist leere, betäubte Zeit. r Stadium 11: Depression In diesem Stadium entspricht das Burn-out-Syndrom einer Depression. Man ist gleichgültig, hoffnungslos, erschöpft und sieht keine Perspektive für die Zukunft. Sämtliche Symptome depressiver Zustände können auftreten, von agitiert bis völlig apathisch. Das Leben verliert den Sinn. r Stadium 12: Burn-out-Syndrom Dieses Stadium beschreibt den völligen psychischen und physischen Zusammenbruch. Fast alle Betroffenen tragen sich jetzt mit dem Gedanken an Selbstmord. Nicht wenige setzen das auch in die Tat um. Burn-out-Patienten in diesem Zustand sind ein medizinischer Notfall, sie brauchen so schnell wie möglich ärztliche Hilfe.

Gehirn&Geist / Gina Gorny


r Jahren waren es nicht einmal halb so

viele«, berichtet Staedt, der die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie leitet. Statistiken, die einen solchen Anstieg zweifelsfrei belegen, gibt es allerdings nicht. Was, wie Manfred Schedlowski meint, auch damit zusammenhängt, dass sich die Krankheit oft nicht so ohne Weiteres von anderen Leiden unterschei­ den lässt. Denn auf welche Weise sich das Ausbrennen letztlich bemerkbar macht, ist individuell sehr verschieden. »Der eine bekommt chronische Magen­ schmerzen, der andere reagiert eher de­ pressiv, beim Dritten steht eine Angst­ störung im Vordergrund«, erläutert der Züricher Professor für Psychologie und Verhaltensimmunbiologie. Über 130 Symptome wurden in Zusammenhang mit dem Burn-out-Syndrom bereits be­ schrieben. Doch auch ohne konkrete Zahlen steht für den Experten fest: Der Druck im Job wächst, und das macht den Men­ schen zu schaffen. »Die arbeitsassoziier­ ten Belastungen haben stark zugenom­ men. Und unter dem zunehmenden Stress entwickeln sich immer häufiger psychische und psychosomatische Stö­ rungen.« Eine im April 2005 vom Wis­ senschaftlichen Institut der AOK veröf­ fentlichte Studie bestätigt das. Demnach klagt jeder Dritte der insgesamt 30 000 befragten Arbeitnehmer über erhebliche psychische Belastungen im Job. Typische Stresssym­ptome wie Nervosität, Unruhe und Reizbarkeit sind besonders weit ver­ breitet. »In den letzten zehn, fünfzehn Jahren ist unser Leben generell schneller und hektischer geworden. Sich gestresst zu fühlen gehört fast schon zum normalen Berufsalltag«, konstatiert Schedlowski. Dieser Entwicklung zollt man an der ETH Zürich Tribut. 2004 wurde unter Schedlowskis Leitung eine Abteilung ­gegründet, die nicht nur Stressursachen erforscht, sondern auch nach Mög­ lichkeiten fahndet, die Folgen zu be­ handeln. Dass Dauerstress bei der Entstehung des Burn-out-Syndroms eine zentrale Rolle spielt, gilt als erwiesen. An sich ist die Stressreaktion eine überaus sinnvolle Erfindung der Natur, weil sie dem Men­ GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

schen − und allen Wirbeltieren − hilft, bedrohliche Situationen zu bewältigen. Ohne dass es uns bewusst wird, nimmt das Gehirn potenzielle Gefahren wahr und versetzt den Körper über einen ent­ wicklungsgeschichtlich sehr alten Me­ chanismus binnen Bruchteilen von Se­ kunden in Alarmzustand. Der Haken: Auch wenn kein Grizzly vor einem steht, sondern nur der Chef, der die Projektpräsentation in einer hal­ ben Stunde auf dem Tisch haben will, läuft das Notfallprogramm an: Die Ne­ benniere schüttet Stresshormone aus, das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt. Das ist noch kein Problem, sofern Adrenalin & Co. nicht ständig durch die Blutbahn flottieren. Hält der Stress aber über Wochen, Monate oder sogar Jahre an, sind nachhaltige Konsequenzen für den Organismus vorprogrammiert. »Per­ manent unter Strom zu stehen wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus. Das ist mittlerweile experimentell gut belegt«, macht Psychologe Schedlowski deutlich. So weiß die Wissenschaft seit Längerem, dass chronische Belastungen − vermittelt über eine Erhöhung des Stresshormons Cortisol − das Immunsystem schwächen. Die Folge: Der Körper ist anfälliger für Infektionen.

Der eine leidet seelisch, der andere körperlich Ganz grundsätzlich gibt es kaum ein ­Organ, an dem die Stressmediatoren kei­ ne Wirkung hinterlassen. Aus diesem Grund kann ein permanent aktiviertes Hormonsystem jene bunte Palette unter­ schiedlichster Beschwerden auslösen, die Manfred Schedlowski bei seinen Burnout-Patienten täglich feststellt. »Bei man­ chen schlägt sich Dauerstress ausschließ­ lich auf die Psyche nieder. Andere sind seelisch völlig fit, leiden aber unter kör­ perlichen Symptomen.« Warum das so ist, kann die Forschung nicht sagen. »Je­ der hat eben seinen wunden Punkt«, meint Schedlowski. Weitaus mehr interessiert den Wis­ senschaftler eine andere Frage: Weshalb steckt Person A jahrelanges Rackern un­ ter höchstem Termin- und Leistungs­ druck ohne Weiteres weg, während Per­ son B bereits unter einer objektiv be­

trachtet deutlich geringeren Arbeitsbe­ lastung zu verbrennen droht? Die bloße Quantität ist zwar ein Faktor, aber sicher nicht der entscheidende. »Wenn jemand jeden Tag zwölf Stunden arbeitet, da­ nach aber einen Weg gefunden hat, sich zu entspannen, bekommt er sehr wahr­ scheinlich keine Probleme«, erklärt Jür­ gen Staedt. »Andererseits kann man auch einen Halbtagsjob als extrem belastend empfinden − und dann ein Burn-outSyndrom entwickeln.« Sein Züricher Kollege stimmt zu: »Eine 60-Stunden-Woche macht nicht per se krank, solange man die richtige Balance zwischen Anspannung und Ent­ spannung findet.« Den Menschen, die bei Schedlowski Hilfe suchen, ist das nicht gelungen. Sie haben die »Grenze der Anpassungsfähigkeit an die Heraus­ forderungen«, wie der Psychologe es for­ muliert, dauerhaft überschritten. Ihre per­ sönlichen Stressverarbeitungsprogramme sind chronisch überfordert. Dann beginnt ein Leidensweg, der bei vielen Burn-out-Patienten sehr ähn­ lich verläuft. Lars N. kann sich gut ent­ sinnen. »Ab einem gewissen Punkt hat mich der Job so sehr eingenommen, dass meine sonstigen Bedürfnisse überhaupt nicht mehr gezählt haben. Das Über­ engagement wich dann einer stetig schlimmer werdenden Erschöpfung und Lustlosigkeit.« Gleichzeitig schwand das Interesse für andere Menschen. Der Unternehmens­ berater zog sich mehr und mehr zurück, beschränkte seine sozialen Kontakte auf das unbedingt Nötige. »Ich habe mich vollkommen eingeigelt.« Solche Rück­ zugstendenzen sind beim Burn-out-Syn­ drom die Regel, verschlimmern aber die Situation noch, wie Manfred Schedlow­ ski weiß: »Die Unterstützung von Fami­ lie, Freunden und Kollegen ist für den Menschen ein extrem wichtiger Stress­ puffer, das hat die biopsychologische Forschung gezeigt.« Irgendwann lässt das Leistungsver­ mögen der Betroffenen tatsächlich nach. Sie können sich schlecht konzentrieren, haben kaum noch kreative Ideen und auch die Gedächtnisleistung leidet. Nicht wenige werden regelrecht vergess­ lich. Lars N. ging es genauso. Fast 45


Burn-out r zwangsläufig schlichen sich bei der Ar­

beit Fehler ein. »Dann läuft die Spirale richtig an«, erläutert Jürgen Staedt. »Zu merken, dass man nicht mehr gut arbei­ tet, setzt einen noch mehr unter Druck − und der Teufelskreis beginnt.« Der einst so umgängliche N. gab den Kollegen die Schuld an seinen eigenen Unzulänglich­ keiten, fing an zu kritisieren und zu ta­ deln. Eine burn-out-typische Abwehr­ strategie.

stecken. Niemand brennt über Nacht aus, im Gegenteil, die Batterien machen so langsam schlapp, dass viele die sub­ tilen Veränderungen gar nicht registrie­ ren. Überstunden, Wochenendschichten, kein Problem, da kann man schon mal ein bisschen müde sein! Doch irgend­ wann wird zum ersten Mal die SquashRunde abgesagt. Der lang geplante Wo­ chenendausflug mit Freunden? Sorry, leider keine Zeit! Den immer größer

»Ab einem gewissen Punkt hat mich der Job so sehr eingenommen, dass meine sonstigen Bedürfnisse überhaupt nicht mehr gezählt haben« Doch damit ist der Tiefpunkt noch nicht erreicht. Stress und die Unzufrie­ denheit mit sich selbst hinterlassen auch an der Psyche schweren Schaden. Resi­ gniert, entmutigt, geplagt von Minder­ wertigkeitsgefühlen und der Angst zu versagen, schleppen sich die Ausge­ brannten durch die Tage. Suizidversuche sind keine Seltenheit. Eine schreckliche Zeit sei das gewesen, sagt N. heute. Fröh­ lich, offen und entspannt wirkt der 38Jährige. Damals sah das nicht so aus. »Ich war ein anderer Mensch, negativ, misstrauisch, ohne Hoffnung und ein übler Zyniker. Alte Bekannte haben mich fast nicht wiedererkannt.« Lars N. hat einen Weg aus der Ab­ wärtsspirale gefunden, doch das ist keine Selbstverständlichkeit. »Wem es nicht gelingt, den Teufelskreis zu unterbre­ chen, für den kann die Summe aus be­ ruflichen und anderen alltäglichen An­ forderungen lebensgefährlich werden«, warnt Psychologe Schedlowski. Je früher man professionelle Hilfe in Anspruch nimmt, desto besser die Chancen, der Stressfalle rechtzeitig zu entkommen. Wer zunehmend lustlos zur Arbeit geht, oft erschöpft ist und sich gestresst fühlt, muss seinen Berufsalltag hinterfragen und daraus auch Konsequenzen ziehen, lautet der Expertenrat. Von allein wird es nicht besser. Leider ist das im wirklichen Leben nicht ganz so einfach. Denn tückischer­ weise erkennen die Betroffenen oft als Letzte, in welch kritischer Situation sie 46

werdenden Papierberg auf dem Schreib­ tisch abarbeiten? Nein, um Himmels willen nicht heute, unmöglich bei diesen Kopfschmerzen. Außerdem hätte sich ja auch mal der Kollege drum kümmern können. Weitergeschuftet wird trotzdem, bis die Energiereserven restlos erschöpft sind. Auch Lars N. musste erst auf dem Hausflur kollabieren, um zu erkennen, dass er Hilfe brauchte. »Das war der ret­ tende Schuss vor den Bug.« Warum hat er nicht schon früher die Reißleine gezo­ gen? »Ich habe natürlich gemerkt, dass es mir nicht gut ging. Aber ich dachte, das pack ich schon irgendwie.«

Der Fehlglaube unverwundbar zu sein Manfred Schedlowski hört diesen Satz oft. Zu oft für seinen Geschmack. »Vor allem unter Führungskräften ist der ir­ rige Glaube an die eigene Unverwund­ barkeit weit verbreitet.« Wer in leitender Position arbeitet, ist es gewohnt, sich Herausforderungen zu stellen, Schwie­ rigkeiten zu meistern, auch in kritischen Momenten Höchstleistungen zu bringen − bis ans Limit und notfalls darüber hinaus. Dass der Mensch auch Entspan­ nung und Ausgleich braucht, vergessen viele einfach. Jürgen Staedt bringt dazu einen an­ schaulichen Vergleich: »Wenn man ein Auto hat, geht man zur Inspektion und checkt regelmäßig, ob der Motor genug Öl hat. Burn-out-Patienten bringen ihr

›Auto‹ nicht zur Inspektion, fahren 100 000 Kilometer Vollgas und wundern sich dann, wenn der Motor plötzlich streikt. Sie verzichten bei sich auf War­ tung und Pflege.« Wer ausbrennt, muss gelodert haben. Auch wenn Staedt diesen viel zitierten Spruch etwas plakativ findet − in der Sa­ che stimmt er zu. Es trifft bevorzugt die Engagierten, diejenigen, die sich für ihre Arbeit begeistern, die Verantwortung übernehmen wollen, sich in hohem Maß mit ihrer Tätigkeit identifizieren. Men­ schen, für die der Job auch ein Stück Selbstverwirklichung bedeutet. Ärzte, Lehrer, aber auch immer häufiger Mana­ ger, Unternehmer und Freiberufler. »Das Burn-out-Syndrom ist eine Erkrankung der Leistungsträger«, bringt der Experte es auf den Punkt. Und eine Erkrankung, die, wie Staedt meint, eine kritische gesellschaftliche Entwicklung widerspiegelt. »In unserer Gesellschaft definieren sich die Menschen immer stärker über ihr Leistungsvermö­ gen im Job, über ihren beruflichen Er­ folg, und immer weniger über zwischen­ menschliche Beziehungen oder soziale Aktivitäten.« Gefährlich wird es, wenn je­ mand sein gesamtes Selbstwertgefühl aus dem bezieht, was er bei der Arbeit leistet. Staedt sieht diesen »selbstbewussten Per­ sönlichkeitsstil«, wie er ihn bezeichnet, bei vielen seiner Burn-out-Patienten. »Die sitzen wie ein Hamster im Laufrad und sind nur dann zufrieden, wenn sie eine ordentliche Drehzahl schaffen. Da­ rüber stabilisieren sie ihre Psyche.« Der Wille, stets der Beste zu sein, treibe sie in der Leistungsspirale immer weiter nach oben – bis an einen Punkt, an dem es nicht mehr weitergeht. Dann bricht das System zusammen. Warum diese Menschen, die immer 120 Prozent gebracht haben, dann plötzlich völlig leerlaufen, ist für Außenstehende meist überhaupt nicht nachvollziehbar. »Krän­ kungen läuten oft die Krise ein.« Staedt erzählt von einer Patientin, die jahre­ lang als Abteilungsleiterin erfolgreich war − bis sie die durch Umstrukturie­ rungen bedingte Kündigung einiger Mitarbeiter trotz größten persönlichen Engagements nicht verhindern konnte. Ein Schlag ins Gesicht sei das gewesen. GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


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Geplagt von Schlafstörungen, Appetit­ losigkeit und Insuffizienzgefühlen lan­ dete die Frau letztlich bei Staedt in der Klinik. »Solche Rückschläge gehören zum Leben dazu. Aber Menschen mit einer Burn-out-Persönlichkeit können diese einfach nicht wegstecken«, erklärt GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

der Psychiater. »Dann kippt ihr ganzes Selbstbild.« Gratifikationskrise nennen es Exper­ ten, wenn das Gefühl, der hohe beruf­ liche Einsatz würde nicht ausreichend gewürdigt, sich zum zusätzlichen Stress­ faktor entwickelt. Arbeitsmediziner kri­ r

Technischer K. o. Die Folgen permanenter Überlastung sind vielfältig: Burn-out-Patienten leiden etwa unter Depressio­nen, Panikattacken oder Bluthochdruck.

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Burn-out r tisieren, dass Lob in vielen Unternehmen

heute praktisch ein Fremdwort ist. Keine Nachrichten sind gute Nachrichten, lau­ tet stattdessen das ungeschriebene Ge­ setz. Dabei wäre ein kritisches Feed-back immer noch besser als gar keines. Was Staedts Patientin anfangs am meisten bewegte, war die Frage, wann sie denn wieder arbeiten könne. Dabei ging es ihr so schlecht, dass die Ärzte sie mit Antidepressiva behandeln mussten. »Die Betroffenen sind fast nicht in der Lage, ohne ihren Job zu leben − aber mit ihm auch nicht mehr«, sagt der Psychiater. Deshalb funktioniert der wohl ge­ meinte Ratschlag, einfach die Zügel ein wenig schleifen zu lassen und den Com­ puter schon um halb fünf runterzufah­ ren, bei Burn-out-Patienten nicht. Wer die Krise dauerhaft bewältigen möchte, muss erleben, dass auch andere Dinge als der berufliche Erfolg befriedigend sein können. Genau hier setzen die Spandau­ er Therapeuten an. »Was wir machen, ist fast so etwas wie Genusstraining. Die Pa­ tienten lernen, endlich einmal etwas nur für sich zu tun.« Kuchenbacken, Malen, Spaziergänge gehören ebenso zum Be­ handlungskonzept wie Sport und Ge­ spräche mit anderen. Das Ziel: Die Aus­ gebrannten sollen sich andere Quellen erschließen, aus denen sich ihr Selbst­ wertgefühl speist. Neue Hobbys, Freunde treffen, die Natur, Musik − Dinge, bei denen sie Spaß haben und Entspannung finden. Sein Leben auf mehrere Stand­ beine stellen, nennt Staedt das. Und wie erfolgreich ist die Therapie? »Das hängt zu einem gewichtigen Teil davon ab, ob die Betroffenen bereit sind zu akzeptie­ ren, dass ihre bisherigen Lebensmaximen sie krank gemacht haben.« Genau das sei die Krux an der Sache, meint Manfred Schedlowski. »Man muss sich von Persönlichkeitseigenschaften ver­ abschieden, die bisher der Garant für den beruflichen Erfolg waren.« Bei seinen aus­ gebrannten Managern kann der Psycho­ loge die Entstehungsgeschichte dieser »Masterpläne« oft bis in die Kindheit zu­ rückverfolgen. »Wer beispielsweise in jun­ gen Jahren gelernt hat, immer pünktlich zu sein und alles perfekt zu machen, pro­ fitiert ja später davon«, erklärt Schedlow­ ski. Dank der antrainierten Tugenden 48

kommen solche Menschen gut durch Schule und Studium − und hinterher auf der Karriereleiter rasch voran. Das kann bis zur Rente problemlos weitergehen oder irgendwann zum Bu­ merang werden. Nämlich dann, wenn die Betroffenen die Anforderungen des Jobs und vor allem ihre Ansprüche an die eigene Leistung nicht mehr so locker und leicht erfüllen. Bei Führungskräften beobachtet Schedlowski diese kritische Phase oft in den mittleren Jahren, »wenn der Akku natürlicherweise leerer wird«. Leider gelingt es den wenigsten, sich dann von ihrem Erfolgsrezept zu verab­ schieden. Die inneren Antreiber erfreuen sich bester Gesundheit und sorgen in Phasen großer äußerer Belastung für noch mehr Stress. Denn jetzt leiden die Leistungsträger zusätzlich unter dem Druck, den sie sich selbst setzen. »Das ist das Gemeine am Burn-out«, sagt Sched­ lowski. »Die Maximen, die persönlichen Eigenschaften, die ihnen jahrelang wei­ tergeholfen haben, wenden sich plötzlich gegen die Menschen und lassen sie aus dem Stressrad nicht mehr heraus.«

Den Masterplan ändern Deshalb behandelt das Züricher Team die Patienten auf mehreren Ebenen. ­Zunächst einmal lernen sie Methoden, mit Stresssituationen besser umzugehen. Entspannungstechniken gehören ebenso dazu wie Kommunikationstraining. Im Einzelcoaching versucht Schedlowski dann, jene Einstellungen zu korrigieren, die den Ausgebrannten zum Verhängnis wurden. Dieses »Umschreiben der Mas­ terpläne« ist der schwierigste Teil der Therapie. Das hängt mit der Funktions­ weise des Gehirns zusammen. Was man früh gelernt und über Jahre praktiziert hat, sitzt im Denkorgan besonders fest. »So stark verinnerlichte Maximen und Verhaltensweisen umzulernen ist ein Trainingsprozess, der einfach eine Weile dauert«, erklärt Schedlowski. Golf- oder Tennisprofis kennen das Problem. Ihr Gehirn hat bestimmte Be­ wegungsabläufe so gut gespeichert, dass diese fast automatisch ablaufen. Wenn ein Spieler seinen Aufschlag verändern will, braucht er einen Trainer, der ihn ­beobachtet und korrigiert. Und er muss

üben, üben, üben − damit der neue Ser­ vice im Match sicher kommt. Auch unter dem Stress eines Wimbledon-Finales. Für Burn-out-Patienten kommt die entscheidende Bewährungsprobe eben­ falls im Match − sprich im Job. Und nicht wenige scheitern, weil sie den Ernst der Lage unterschätzt haben. »Viele ge­ hen vier Wochen in die Klinik und füh­ len sich besser. Sobald sie an den Arbeits­ platz zurückkehren, verfallen sie in die alten Mechanismen und sind schnell ge­ nauso am Ende wie zuvor.« Sechs Monate veranschlagt Schedlow­ ski für eine ambulante Verhaltensthera­ pie. Währenddessen müssen die Pati­ enten ihre neuen Handlungsmuster im­ mer wieder trainieren und im Alltag erproben, so wie der Tennisprofi den neuen Aufschlag. Das Gehirn braucht diese Zeit. Der Faktor Zeit entscheidet auch über die Prognose der Betroffenen. Wer sich über Monate oder Jahre hinweg ausge­ brannt durch den Job schleppt, unter Umständen bis zum totalen Zusammen­ bruch, verschlechtert seine Heilungschancen. Deshalb rät der Experte jedem, Warnzeichen wie Lustlosigkeit, Müdig­ keit oder Erschöpfung ernst zu nehmen, vor allem wenn sie länger anhalten. Noch besser wäre es natürlich, gar nicht erst in den Teufelskreis aus Über­ forderung und innerem Druck zu gera­ ten. Das Züricher Team setzt auf Präven­ tion durch Information. »Stress ist im heutigen Berufsleben fast normal«, meint Schedlowksi. »Wenn man weiß, wie man sich gegen die Folgeerscheinungen schützt, ist das Risiko für ein Burn-out bereits sehr viel geringer.« Regel Nummer eins lautet: Mit den körperlichen Ressourcen sorgfältig haus­ halten. Die Anti-Stress-Maßnahmen, die es dabei einzuhalten gilt, sind ebenso einfach wie wirkungsvoll. Gesunde Er­ nährung, ausreichend Bewegung und ge­ nug Schlaf. Regel Nummer zwei: Auch Vielarbeiter müssen das richtige Maß zwischen Anspannung und Entspan­ nung einhalten. Oder wie es in Berater­ kreisen gerne ausgedrückt wird − die Work-Life-Balance sollte stimmen. »Jeder muss seinen eigenen Stress­ kompensationsmechanismus finden«, so GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


Corbis

Jetzt aber ab nach Hause! Damit die Arbeit morgen wieder Spaß macht

Manfred Schedlowski. Der eine ent­ spannt sich bei der Vorbereitung auf ei­ nen Marathonlauf, andere kommen zur Ruhe, wenn sie auf dem heimischen Sofa eine Klassik-CD genießen oder im Garten die selbst gezüchteten Rosen schneiden. Welches Hobby, ist egal, Hauptsache man pflegt es. Selbiges gilt auch für die sozialen Kontakte. Ob im Freundeskreis, in der Familie oder zu den Kollegen, zwischenmenschliche Be­ ziehungen schützen nachweislich vor dem Ausbrennen. Außerdem: Wer we­ gen seines »anstrengenden« Jobs still und leise vereinsamt, hat im Notfall, wenn er wirklich einmal Zuspruch und Hilfe braucht, niemanden mehr, den er anrufen könnte.

Wohlbefinden versus Karriere Schedlowski rät Menschen mit Berufs­ stress, eine Entspannungstechnik zu er­ lernen, etwa Yoga, autogenes Training oder progressive Muskelrelaxation. Und zwar bevor man sie unbedingt braucht, weil sich bereits die ersten Burn-outSymptome zeigen. Der entscheidende GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

Schritt finde allerdings im Kopf statt, stellt der Psychologe klar: »Man muss sich im Berufsleben möglichst früh die Einstellung aneignen, dass Gesundheit und psychisches Wohlbefinden mindes­ tens genauso wichtig sind wie der Auf­ stieg auf der Karriereleiter.« High Potential Lars N. hat das lange übersehen. »Mein Leben war der Job, dort habe ich meine ganze Energie inves­ tiert und auch meine gesamte Befriedi­ gung herausgezogen.« Das Aufputsch­ mittel entpuppte sich als schleichendes Gift. Seine Beziehung ging in die Brü­ che, und auch viele alte Freunde fielen dem Karrieredrang zum Opfer. »Das kann ich niemandem übel nehmen, ich war damals wirklich kaum zu ertragen − selbst in der Kneipe habe ich über nichts anderes geredet als die Arbeit.« Erst als er sich auf der Intensivstation wiederfand, »allein und ganz unten«, ging dem Unternehmensberater ein Licht auf. N. krempelte sein Leben um. Er gab seine Stelle auf, kämpfte um seine Freundschaften und erfüllte sich den Ju­ gendtraum von einer Weltreise. Danach

fing er wieder an, als Consultant zu ar­ beiten, heute sogar in einer besseren Po­ sition als vor dem Zusammenbruch. Trotzdem ist alles anders. »Mehr Sport, mehr Freizeit, mehr Faulenzen, mein Le­ ben genießen. Auch wenn mir die Arbeit nach wie vor wichtig ist, diese Dinge be­ sitzen jetzt Priorität.« Für die Bilanz sei­ nes neuen Lebens genügt ihm ein kurzer Satz: »Mir ging es nie besser!« l Ulrich Kraft, Mediziner und ständiger Gehirn&Geist-Mitarbeiter, ist freier Wissenschaftsjournalist in Berlin.

Literaturtipps Burisch, M.: Das Burn-out-Syndrom – Theorie der inneren Erschöpfung. Springer: Heidelberg 2005. Maslach, C., Leiter M. P.: Die Wahrheit über Burnout. Springer: Wien 2001. Sonneck, G., Pucher-Matzner, I.: Das Burnout-Syndrom. Österreichische Ärztezeitung, Heft 4/2005.

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BALANCE B urn-Out

Wenn der Job zur Droge wird Arbeitssüchtige verschleißen ihren Körper und schuften sich nicht selten bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Dennoch wird das Krankheitsbild selten anerkannt, wie der Wirtschaftswissenschaftler Holger Heide im Interview erläutert.

Herr Professor Heide, wie haben Sie heute Ihren Arbeitstag angehen lassen?

Es kommt nicht darauf an, wie viel jemand arbeitet?

Ich würde sagen: gelassen.

Wir stoßen auf verschiedene Suchttypen. Die klassischen »Workaholics« sind echte Arbeitstiere. Sie schaffen ein enormes Pensum, sind erfolgreich und gefragt. Andere Betroffene fürchten sich geradezu vor ihrem Job: Sie denken schon beim Aufwachen mit Schrecken an die Arbeit, wühlen sich unkonzentriert durch den Tag und bringen nur wenig zu Stande. Solche Menschen wirken auf Kollegen faul oder depressiv – dabei strengen sie sich in Wirklichkeit schrecklich an und halsen sich immer neue Projekte auf. Sie schieben ihren Job in der Freizeit als Aus-

Sie sind also nicht arbeitssüchtig?

(lacht) Wenn das so einfach zu sagen wäre! Ich kenne das Problem Arbeitssucht aus meinem eigenen Alltag. Es lässt sich nicht daran festmachen, ob jemand regelmäßig zwölf Stunden pro Tag am Schreibtisch sitzt. Eher, dass man unfähig ist, loszulassen und zu entspannen. Ein Arbeitssüchtiger macht ständig Pläne. Typisch ist, Jobs vor sich her zu schieben oder den Abschluss eines Projekts ewig hinauszuzögern – ein Hang zum Perfektionismus also.

rede vor, beispielsweise um privaten Einladungen zu entgehen. Im Gegensatz zu den Karrieremenschen orientieren sich diese Arbeitssüchtigen an ihrer nicht erbrachten Leistung. Zuletzt gibt es Menschen, die eigentlich völlig erfolglos sind und sich ihr Leben lang als Verlierer fühlen. Abgesehen von ihrer Leistungsfähigkeit haben alle diese Menschen eins gemeinsam: die völlige Fixierung auf Job und Beruf. Welche Branchen sind Ihrer Meinung nach besonders gefährdet?

Die Krankheit hat viele Gesichter. Rentner, Hausfrauen oder Arbeitslose können arbeitssüchtig sein. Als besonders anfällig gelten Freischaffende wie Künstler, Dichter oder Schriftsteller. Auch Handwerker oder Bauern sind betroffen. Gefährlich wird es zudem für den Typ des ständig gehetzten Managers, der alles allein erledigen will und das Gefühl hat, die Firma würde ohne ihn zusammenbrechen. Oder Politiker, deren Macht von ihrem unermüdlichen Einsatz abhängt. All diese Menschen arbeiten in Berufen, in denen man sich die Grenzen selbst ziehen und spüren muss, wann Schluss ist für heute. Nicht zuletzt sind Personen aus helfenden Berufen betroffen: Priester, Lehrer, Krankenhauspersonal oder Sozialarbeiter. Sie fühlen oft eine Art Berufung. Lassen sich Anzeichen von Arbeitssucht schon früh erkennen?

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GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


Holger Heide r geboren 1939 in Kiel r Studium der Wirtschaftswissen­ schaften in Kiel, Promotion 1964 r von 1973 bis 2004 Professor an der Universität Bremen r Forschungsschwerpunkte: Ökonomisches Handeln, Arbeits­ sucht, Analyse ostasiatischer Gesellschaften r seit 2004 Vorsitzender der Gesellschaft zur Förderung sozialökonomischer Handlungs­ forschung SEARI e. V. in Bremen MEHR ZUM THEMA r Loslassen vor dem Fall (S. 42) Das Burn-out-Syndrom

Bei den Workaholics herrscht im Anfangsstadium noch ein Gefühl der Leistungsfähigkeit vor, des Sich-beweisenWollens. Sie sind von Tatendrang erfüllt. Nicht selten erfahren sie zudem Bestätigung aus ihrer Umwelt – was sie weiter anspornt. Jeder Erfolg produziert ein prickelndes Hochgefühl.

Wille und Handlungsfähigkeit klaffen weit auseinander. Der ärgste Feind lauert im eigenen Kopf: Der Betroffene glaubt, sich freiwillig abzurackern. Das versperrt den Blick auf die Realität, den eigenen Gesundheitszustand. Viel zu spät spüren Arbeitssüchtige die gravierenden Folgen des kräftezehrenden Dauerstresses. Ihr Körper verschleißt zunehmend, Psyche und spirituelles Wohlbefinden nehmen bleibenden Schaden.

Könnte man meinen – wenn sich nicht darin schon eine Abhängigkeit ausdrücken würde. Zudem stellt sich dieses Hochgefühl mit der Zeit immer seltener ein. Begraben unter ihren unzähligen To-do-Listen spüren die Betroffen, dass sie langsamer machen müssen, wenn sie ihre Gesundheit nicht ruinieren wollen. Gleichzeitig sind sie getrieben: Ständig kreisen die Gedanken um das, was noch zu tun ist. Familie und Freunde werden vernachlässigt. In der Endphase treten oft schwer wiegende Symptome auf, etwa Depressionen, Magengeschwüre oder gefährlich hoher Blutdruck. Woran liegt das?

Die Diskrepanz zwischen den Bergen an Arbeit und den physischen und psychischen Reserven wird einfach zu groß. GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

was heute wichtig ist

Aber werden nicht Angehörige und Kollegen auf solche Entwicklungen aufmerksam?

In den meisten Fällen. Aber viele arbeitssüchtige Menschen leugnen ihre Probleme vehement und reden stattdessen selbst dramatische Überarbeitung schön. Andere wiederum versuchen, mit Hilfe der abwechselnden Einnahme von Aufputsch- und Beruhigungsmitteln den Anschein von Normalität zu wahren. Dadurch entstehen nicht selten andere Süchte, etwa Nikotin- und Alkoholabhängigkeit. Was bringt einen Menschen dahin, so viel zu arbeiten, bis er krank wird?

Zu individuellen inneren Ursachen kommen die sich wandelnden Arbeitsbe­

»Arbeitssucht misst sich nicht daran, wie viel ein Mensch arbeitet – sondern daran, wozu er nicht fähig ist: loslassen und entspannen« Das ist eigentlich ganz positiv, oder?

Wissen

Die Redaktion von spektrumdirekt informiert Sie schnell, fundiert und verständlich über den Stand der Forschung.

dingungen: Der durchschnittliche An­ gestellte besitzt kaum eigene Gestaltungsmöglichkeiten, Arbeitsinhalte und Arbeitszeiten sind nur in Ausnahmen persönlich zugeschnitten. Das klingt noch nicht anstrengend.

Aber im Zusammenhang mit der Globalisierung und der wachsenden, weltweiten Konkurrenz nimmt der alltägliche Druck in abhängigen Arbeits­ verhältnissen schon seit Jahren enorm zu! In Zeiten von Konjunkturflauten kann der Einzelne nur wenig dazu beitragen, seinen Arbeitsplatz zu sichern – außer zu versuchen, noch mehr ranzuklotzen. Das verursacht Stress. Hinzu kommt der Trend, Stechuhren und andere ­ Zeiterfassungssysteme abzuschaffen: Malochen nach der Uhr – das war ­gestern. So genannte Vertrauens­ r

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Gehirn&Geist / Gina Gorny

Bur n-Out

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GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


r arbeitszeiten breiten sich immer

mehr aus.

Die Entscheidung, wie lange man sich hinter den Schreibtisch klemmt, liegt also häufig bei einem selbst.

Richtig. Arbeiter und Angestellte sind weniger als früher einer genauen Kontrolle durch eine vorgesetzte Stelle unterworfen. Stattdessen konfrontiert man sie mit der Konkurrenz auf dem freien

kann zur Arbeitssucht führen, wenn es in der Kindheit und Jugend bestätigt wurde, vor allem in der Schule. Sie haben gesagt, auch Arbeitslose oder Pen­ sionäre können unter Arbeitssucht leiden?

Richtig, typischerweise wenn sie ihre Untätigkeit als unerträgliches Vakuum empfinden. Dann fällt ihnen sprichwörtlich die Decke auf den Kopf, sie sitzen herum und wissen nichts mit sich anzu-

Rund 25 Prozent aller Freiberufler und Manager gelten als krankhaft arbeitssüchtig Markt – und die nimmt zu. Die Chefs müssen die Einhaltung der Arbeitszeit nicht mehr ausdrücklich fordern, ihre Untergebenen schaffen freiwillig mehr und länger, als es im Vertrag steht. Trotzdem: Die meisten von uns scheinen ja gottlob noch nicht arbeitssüchtig zu sein. Was entscheidet, ob jemand der Sucht zum Opfer fällt oder nicht?

Da sind wir bei den inneren Ursachen. Viele Betroffene leiden unter Ängsten, beispielsweise Versagensängsten. Allerdings verdrängen sie, dass ihrem Getriebensein persönliche Probleme zu Grunde liegen. Wir stoßen bei den Analysen häufig auf Ursachen, die in der frühkindlichen Entwicklung entstanden sind, etwa eine gestörte Bindung zu den Eltern oder massiv unterdrückte Gefühle. Arbeitssüchtige Menschen haben meist schon in jungen Jahren Strategien entwickelt, um beständig Aufmerksamkeit, Anerkennung und Lob zu erhaschen. Andere wiederum orientieren sich im Privatleben stets an den Bedürfnissen anderer. Ihre eigenen Wünsche und Träume bleiben auf der Strecke. Manchmal liegt auch ein früh erlerntes Leistungsmuster zu Grunde – nach dem Motto: Du bist, was du tust und schaffst. Das

Tunnelblick Arbeitssüchtige kennen das Wort »Wochenende« oft nur vom Hören­ sagen: Sie füllen auch ihre Freizeit mit Projekten und Problemen – und isolieren sich zusehends. GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

fangen. Um dem zu entgehen, suchen sie sich arbeitsintensive Hobbys oder helfen dem Nachbarn beim Bau. Dass es sich dabei tatsächlich um eine Sucht handeln kann, zeigt sich im häufigen Griff zu Ersatzdrogen wie Alkohol oder Dauerfernsehen. Gesetzt den Fall, ein Betroffener erkennt sei­ ne Arbeitssucht – was kann er dagegen un­ ternehmen?

In verschiedenen deutschen Städten gibt es Gruppen der Anonymen Arbeitssüchtigen. Sie stehen mit Rat und Tat zur Seite. Wenn der Suchtprozess schon weit fortgeschritten ist, sollte man sich aber unbedingt an einen Arzt wenden. Helfen können dann eine stationäre Behandlung in einer psychosomatischen Klinik sowie manchmal eine Psychotherapie. Bei diesen Maßnahmen bleibt der Arbeit­ geber aber außen vor.

Als Arbeitgeber kann man verständli­ cherweise zufrieden sein, wenn die Krankheit auf individuelle Ursachen zurückgeführt wird. Suchtfördernde Arbeitsbedingungen sind ja oft gar kein Thema: Bisher wurden alle Versuche abgeblockt, beispielsweise die betriebliche Suchtprävention und -intervention vom Alkoholismus auf Arbeitssucht auszuweiten. Übrigens nicht nur von Personalmanagern, sondern allzu oft auch von den Betriebsräten. Solange es den Chefs vor allem um die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit geht und ein gewisses Maß an arbeitssüchtigem Verhalten als geradezu unerlässlich gilt, ist eine Unterstützung von Unternehmerseite kaum zu erwarten.

Wie ist die Situation in anderen Ländern?

Vor allem in Japan scheint Arbeitssucht weit verbreitet. Gründe sind ein besonders strenges Personalmanagement und eine extreme innerbetriebliche Konkurrenz. Doch nach jahrelangen Auseinandersetzungen hat man dort das Problem immerhin akzeptiert – mit Rückwir­ kungen auf das Verhalten vieler Personaler. Es gibt sogar eine Bezeichnung für den »Tod durch Überarbeitung«, einschließlich eigener Statistik: Auf dieses »Karoshi« gehen rund 10 000 Sterbefälle pro Jahr zurück! Sie werden offiziell als Arbeitsunfall anerkannt – was wichtig ist für die Hinterbliebenen. Am weitesten fortgeschritten ist die Forschung in den USA. Dort gibt es etliche empirische Untersuchungen und eine breite wissenschaftliche und öffentliche Diskussion – allerdings nur selten unter dem Suchtaspekt: Präventionsprojekte dort beziehen sich oft auf die unmittelbare Stressreduzierung, anstatt die tieferen Ursachen anzugehen. Trotzdem könnten wir uns hier zu Lande ein Beispiel daran nehmen. l Die Fragen stellte Gehirn&Geist-Redakteurin Sabine Berger.

Literaturtipps Fassel, D.: Wir arbeiten uns noch zu Tode. Die vielen Gesichter der Arbeitssucht. München: Droemer Knaur 1994. Heide, H. (Hg): Massenphänomen Arbeitssucht. Historische Hintergründe und aktuelle Entwicklung einer neuen Volkskrankheit. Bremen: Atlantik 2002. Poppelreuter, S.: Arbeitssucht. Weinheim: Beltz 1997.

Weblinks www.arbeitssucht.de Homepage der Anonymen Arbeits­ süchtigen www.seari.uni-bremen.de Homepage des Bremer Instituts für sozial­­ökonomische Handlungsforschung

Kontakt E-Mail-Adresse von Holger Heide: hheide@uni-bremen.de

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BALANCE Stressbe wältigung

Ötzis Erbe Anders als unsere Vorfahren in der Steinzeit geraten wir heutzutage eher selten in Todesgefahr. Dennoch verhält sich unser Körper so, als wenn es tagtäglich ums Überleben ginge. Denn Homo sapiens sitzt in der Stress-Falle.

Von Peter Sandmeyer und Michael Sadre-Chirazi-Stark

K

eine Frage: Ötzi hatte gewal­ tigen Ärger. Über die Gründe gibt es so viele Vermutungen wie Schafe im Ötztal – vielleicht war er Viehdieb, vielleicht verfolgte er einen Viehdieb, vielleicht war er Ehebrecher, vielleicht verfolgte er einen Ehebrecher, vielleicht war er auf der Flucht vor Fein­ den, vielleicht verfolgte er Feinde – viel­ leicht war aber auch alles ganz anders: Wem er die Pfeilspitze unterhalb seiner rechten Schulter zu verdanken hat – da­ rüber können wir nur spekulieren. Fest steht dagegen, dass der Mann aus dem Eis in seinem letzten Lebensjahr nicht bei bester Gesundheit war. Als die Mumie nach 5000-jähriger Gletscherru­ he in die Hände der Forscher fiel und von ihnen analysiert, spektroskopiert, endos­ kopiert und laparoskopiert wurde, da fan­ den sie nicht nur Überbleibsel von Rip­ penbrüchen, Zeichen von Karies, Erfrie­ rungen und Wurmbefall. Die genauere Betrachtung des einzigen noch vorhande­ nen Fingernagels erbrachte zudem ein­ deutige Belege für drei schlimme Erkran­ kungen in den letzten fünf Lebensmona­ ten – die schwerste ungefähr zwei Monate 54

vor seinem Tod. Alles deutet darauf hin, dass Ötzi ein gestresster Zeitgenosse war. Wie bitte – Stress? In der Steinzeit? Zugegeben, der Eismann dürfte zeitle­ bens Hitze und Kälte nur zu gut gekannt haben, ebenso wie Hunger, Durst, Wut und Angst – vieles, was die Balance sei­ ner Körperfunktionen gestört hat. Aber Stress? Ursprünglich bedeutet das Wort aus dem Sprachgebrauch der Physiker »mechanische Spannung«, heute wird der Begriff inflationär gebraucht. Ge­ stresst ist schon, wer auf dem Heimweg vom Büro noch eben einkaufen muss, ei­ nen Kindergeburtstag vorbereitet oder sich zwischen zwei verschiedenen La­ ckierungen für das neue Auto entschei­ den soll. Im engeren Sinne aber meinen

wir mit Stress ein zentrales Phänomen unserer Zeit: eine Anspannung, der kei­ ne Entspannung mehr folgt, einen chro­ nischen Aufruhr negativer Gefühle, der sich nicht legen will, einen Leidensfak­ tor, der zu weiterem Leid führt: HerzKreislauf-Erkran­kungen, Depressionen, Erschöpfung. Hat Ötzi diese Art von Stress gekannt? Unwahrscheinlich. Gewiss war seine Welt nicht besser als unsere, aber sie war anders. In ihr funktionierte Stress noch als Waffe im Kampf ums Überleben. Und das Verhängnisvolle daran ist nicht, dass sich in den letzten 5000 Jahren an diesem Abwehrmechanismus etwas ge­ ändert hätte, sondern im Gegenteil – dass er genau derselbe geblieben ist.


Foto: Corbis;  Ötzi-Rekonstruktion: Fotoarchiv Südtiroler Archäologiemuseum

Stellen wir uns einen kalten Sep­ temberabend des Jahres 3000 v. Chr. vor. Nehmen wir an, Ötzi ist Hirte und be­ findet sich mit seinen Schafen auf dem Abstieg von den Sommerweiden hoch oben in den Bergen zu seinem Dorf un­ ten im warmen Tal des heutigen Vinsch­ gaus. Den Übergang über den Similaun hat er schon hinter sich, vor ihm liegt die Waldgrenze des Schnalstals. Doch plötz­ lich schlägt das Wetter um, Schneetrei­ ben setzt ein. In diesem Moment nimmt er in der schnell sinkenden Dämmerung zwischen den Bäumen graue Schatten wahr: Wölfe! Mit einem Schlag wird Ötzis Orga­ nismus in Alarm- und Verteidigungsbe­ reitschaft versetzt. Die Denkzentrale in seinem Kopf rechnet blitzschnell die ver­ schiedenen Handlungsoptionen durch: Wie viele Schatten hat er gesehen? Kann er das Rudel bei einem Angriff abweh­ ren? Ist es ratsam, mit lautem Getöse los­ zustürmen, die Wölfe zu verjagen und die Schafe so schnell wie möglich durch den Wald zu treiben, oder sollte er besser ein Feuer machen und die Nacht abwar­ ten? Wie hungrig sind die Bestien? Wie entschlossen? Sind es so viele, dass die Flucht auf einen Baum als einziger Aus­ weg bleibt? GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

Gleichzeitig startet Ötzis Körper das Überlebensprogramm: Das Gehirn ar­ beitet auf Hochtouren; die Nebennieren jagen in Sekundenschnelle Adrenalin und kurz darauf Cortisol ins Blut. Puls und Atemfrequenz steigen, Blut schießt in den Kopf und in die Muskeln. Energie­ reserven werden aktiviert und alles, was nicht dem unmittelbaren Überleben dient, kommt zum Erliegen. Die Verdauung ruht, Hunger und Durst sind wie wegge­ blasen. Ötzis Haare sträuben sich wie bei einer aufgeregten Katze.

Mit geschärften Sinnen Doch der Angriff der Wölfe bleibt zu­ nächst aus – sie scheinen noch abzuwar­ ten. Jetzt baut der Körper des Steinzeit­ menschen eine zweite Verteidigungslinie auf: Die dauerhaft beschleunigte Atmung versorgt sein Gehirn mit so viel Sauer­ stoff, dass es hyperwachsam bleibt. Seine Sinne – Augen und Ohren – schärfen sich; mit gewei­teten Pupillen vermag Ötzi verdächtige Bewegungen selbst im Dämmerlicht zu erkennen. Die Schmerzempfindlichkeit sinkt, aber auch die Abwehrkraft des Immun­ systems. Nebenher jagt Ötzis Denkap­ parat die gegenwärtigen Ereignisse durch die innere Datenbank, vergleicht sie mit

Fataler Zeitsprung Großstadthektik ist ein modernes Phänomen. Unglücklicherweise unterscheidet sich unsere Reaktion darauf kaum von der unserer Urahnen angesichts eines Raubtiers.

zurückliegenden Erfahrungen und ent­ wirft schließlich eine Abwehrstrategie: Zunächst will er den ersten angreifen­ den Wolf mit Pfeilschüssen vertreiben, was die anderen erst einmal abschrecken sollte. Dann wird er ein großes Feuer entfachen, mit dem er das Wolfsrudel über Nacht auf Distanz halten und an­ dere Hirten auf sich aufmerksam ma­ chen wird. Viele Stunden verbringt Ötzi hell­ wach, hochaufmerksam und kampfbe­ reit, bis seine Kollegen ihn endlich finden und zu Hilfe eilen. Gemeinsam schlagen sie sich mit ihren Schafen durch den Wald, gelangen ins Tal und in Sicherheit. Ötzis Stress-Motor fährt herunter. Er sitzt am wärmenden Feuer, Atmung, Puls und Verdauung normalisieren sich. Die Nebennieren drosseln die Cortisolpro­ duktion; Leber und Nieren bauen die Überschüsse des Stresshormons ab. Der 55


Str essbe wältigu ng r Steinzeitmensch relaxt – bis er das nächs­

tagten Golf auf vollen Straßen zur Arbeit fährt und ein schneller BMW sich plötz­ lich in die Lücke vor ihm drängt, reagiert Ottos Körper nicht anders als der von Ötzi angesichts des Wolfes. Alarm!! Fer­ tigmachen zur Abwehr! Kampf oder Flucht?!

Ein Schreck jagt den anderen Der nächste Schreck kommt mit den Wirtschaftsnachrichten. Otto erfährt, dass seine gerade erworbenen Aktien in den Keller gerauscht sind. Wieder ein Si­ gnal von Gefahr und Bedrohung, das der Computer im Kopf unverzüglich an alle Einheiten weiterleitet, die prompt mit den jahrtausendealten Abwehrstrategien antworten. Dann schaut Ottos Chef herein: Die Konferenz mit der Marketingabteilung wurde um zwei Tage vorverlegt und Otto bleiben zur Vorbereitung gerade noch Fotoarchiv Südtiroler Archäologiemuseum

te Mal in Lebensgefahr gerät. Diese Kampf-oder-Flucht-Reaktion ist nach wie vor tief in jedem Menschen verankert. Heute wie vor 5000 Jahren läuft sie vom Willen beinahe ebenso un­ beeinflussbar ab wie das Abwehrpro­ gramm unseres Immunsystems gegen eine Grippe. Bei jedem Angriff eines »Stressors« erfolgt Überlebensalarm. Und obwohl die Zeiten zivilisierter geworden sind und das Leben sicherer als in Ötzis Tagen, hat sich die Zahl der Stressoren vervielfacht. Denn Wölfe, Bären und ­Säbelzahntiger waren für Steinzeit­ menschen keine Alltagsbedrohungen. Vorgesetzte, Versicherungsformulare, ver­ stopfte Autobahnen, verspätete Züge und Flugzeuge für uns leider schon. Wenn Ötzis Nachfahre Otto, kauf­ männischer Angestellter in einer deut­ schen Großstadt, morgens mit seinem be­

anderthalb Stunden Zeit. Wieder jagen Puls und Atmung nach oben, wieder wird der Körper mit Adrenalin und Cor­ tisol überschwemmt. Und gleich noch einmal, als kurz darauf sein Computer abstürzt, und erneut, als er per E-Mail von der Umstrukturierung seiner Abtei­ lung erfährt – eine Globalisierungsfolge, die sich unmittelbar auf seine Arbeit aus­ wirkt, ohne dass er die geringste Mög­ lichkeit zur Mitsprache bekommt. Natürlich sind das lauter Papiertiger – akut bedroht ist Ottos Leben nicht. Aber jedes Mal reagiert sein Körper so, als stünde er einem echten Raubtier ge­ genüber. Und die Stresshormone in sei­ nem Blut lassen ihn die folgende Nacht ebenso hellwach und kampfbereit in sei­ nem Bett sitzen wie Ötzi seinerzeit auf der Bergwiese. Schließlich versucht Otto mit zwei doppelten Whiskys gewaltsam zur Ruhe zu kommen, worauf er um fünf Uhr morgens schon wieder schlaflos und zudem völlig kaputt ist. Das Programm zur Stressabwehr läuft heutzutage in die Irre. Der biolo­ gische Schutzmechanismus, der Ötzi einst vor den Wölfen rettete, spielt in Ottos Leben inzwischen selbst die Rolle des reißenden Wolfs. Die freigesetzte ­Energie hat kein Ziel mehr, läuft ins Lee­ re und richtet sich sogar gegen den, den sie eigentlich schützen soll. Einst Über­ lebensgarantie, schädigt die andauernde Stressreaktion jetzt das dynamische Gleichgewichtssystem des Körpers, für das Bruce McEwen, Leiter des Labors für Neuroendokrinologie der ­Rockefeller University in New York, den Begriff Al­ lostase geprägt hat. Im Lauf der Zeit ge­ rät das zuvor fein abgestimmte Stressab­ wehrsystem zunehmend durcheinander

Laut der Analyse seines Fingernagels (rechts) durchlebte Ötzi in den Monaten vor seinem Tod mindestens drei schwere Krankheiten. Außerdem litt er an Karies sowie Wurm­befall und hatte eine Pfeilspitze im Rücken.

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Fingernagel  aus: »Der Mann im Eis«, Springer (wien, new york) 1995

Konserviertes Leid


GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

Superb ild

und schwächt den Organismus an emp­ findlichen Punkten. So sorgt Dauerstress für einen rapiden Anstieg von Blutfett­ werten, erhöht den Blutdruck sowie die Gefahr von Arteriosklerose und Infark­ ten. Lang­fristig senkt er die Insulinproduk­ tion der Bauchspeicheldrüse – das Dia­ betes­risiko steigt; Stress kurbelt die Pro­ duktion von Magensäure an, dämpft die Libido, kann zu Impotenz und Menstru­ ationsstörungen führen, schädigt das Im­ munsystem, fördert Asthma, bedingt Schwindel, Hörsturz und Schluckstö­ rungen – eine schier endlose Liste. Die Weltgesundheitsorganisation zählt Stress zu den größten Gesundheitsge­ fahren des 21. Jahrhunderts. Experten in den USA schätzen, dass heute schon die Hälfte aller Krankentage pro Jahr (das sind 225 Millionen!) auf Stressfolgen be­ ruhen. Dennoch: Stress hat auch seine guten Seiten. Wissenschaftler sind sich einig, dass er in dosierter Form dem Or­ ganismus wohl tut. Wer aufregende Er­ fahrungen macht, wem sich auf einmal ganz neue Horizonte eröffnen, der gerät unvermeidlich in positive Erregung. Ra­ dikale Stressvermeidung ist also weder möglich noch wünschenswert. »Auch wer unterfordert ist, lebt stressig, denn er leidet unter Monotonie«, erklärt Sepp Porta, Hormonforscher am Grazer Insti­ tut für Angewandte Stressforschung. Und Langzeituntersuchungen bestäti­ gen: Auf Dauer ist Unterfordertsein ebenso ungesund wie Überforderung. Eine Vielzahl von Forschern hat sich in jüngerer Zeit mit dem Phänomen Stress und den Möglichkeiten der Be­ kämpfung, Dosierung und Kompensa­ tion befasst. Das vielleicht interessantes­ te Ergebnis: Es gibt keine Überforde­ rung, die sich anhand objektiver, äußerer Skalen messen ließe. Stress ist immer nur gefühlter Stress. Gerade Menschen mit hohem Arbeitsdruck, wie Manager in Führungsrollen oder Börsenmakler, lei­ den seltener an gesundheitlichen Proble­ men! Ein ähnliches Bild zeichnen bio­ chemische Untersuchungen: Das Stress­ hormon Cortisol, das man im Speichel nachweisen kann, fiel in einer Studie an schwedischen Führungskräften nach ­Feierabend sehr schnell wieder auf nor­ male Werte. Das Forscherteam um Töres

Nur ein Papiertiger Objektiv gesehen bedro­hen uns die meisten heutigen Stressverursacher nicht ernsthaft.

Theorell, den Leiter der Abteilung für psychosoziale Faktoren und Gesundheit am Karolinska-Institut in Stockholm, schließt daraus: Während Belastungen manche Menschen eindeutig überfor­ dern, scheinen sie andere gerade ange­ nehm zu stimulieren.

Geborene Sensibelchen Bei der Ursachenforschung stießen Wis­ senschaftler zunächst auf genetische Ver­ anlagungen. Rund ein Drittel aller Ver­ schiedenheiten in Sachen Stressbewälti­ gung wird heute auf das Erbgut zurückgeführt. Daneben scheint die Stressempfindlichkeit im späteren Leben durch frühkindliche Erfahrungen ebenso be­einflusst wie durch die Persönlichkeits­ struktur – also das Dutzend prägender Eigenschaften, die in jedem Menschen verankert, aber jeweils anders verteilt und gewichtet sind. Menschen, deren Persön­ lichkeit von Reizbarkeit, Feindseligkeit und Misstrauen dominiert wird, sind deutlich stressgefährdeter als solche, die

durch Sensibilität, Fröhlichkeit und ­Harmoniebedürfnis auffallen. Mit der »transaktionalen Stresstheorie« beschrieb Richard S. Lazarus von der University of California in Berkeley in den 1970er Jah­ ren Stress erstmals als einen komplexen Prozess, der nicht allein durch die Um­ welt, sondern maßgeblich auch durch die eigene Person beeinflusst wird. Den markantesten Unterschied zwi­ schen wenig und stark gestressten Men­ schen fanden aber englische Forscher vom International Centre for Health and Society in der berühmten Whitehall-IIStudie. Über mehrere Jahre untersuchten sie Gesundheit, Arbeits- und Lebensum­ stände von 10 000 britischen Staatsange­ stellten mittleren Alters. Die epidemio­ logische Studie ergab, dass der wichtigste Unterschied in der Stressempfindlichkeit weder im Erbmaterial noch in der Per­ sönlichkeitsstruktur liegt, sondern in einem psychosozialen Faktor: Je autono­ mer ein Mensch, je mehr Kontrolle er über sein Leben, seine Entscheidungen 57


Mauritius  (Tuareg vor Felsmalereien der Wüstenregion Fezan in der nördlichen Sahara)

Str ess bewältigu ng

Evolutionäre Hausaufgabe Immer wieder musste sich der Mensch an die Umwelt anpassen – etwa an die extreme Trockenheit der Wüste. Heute gilt es, beruflichen Druck und soziale Unsicher­ heit heil zu überstehen.

r und seine Arbeit hat, desto geringer ist

seine ­Stress­anfälligkeit. Deswegen stehen nach übereinstimmenden Untersuchun­ gen von Stressforschern in den USA, Schweden und England Selbstständige und leitende Angestellte nicht an der Spitze der Stress-Skala. Trotz ihrer bers­ tend vollen Terminkalender und ihrer 14-Stunden-Arbeitstage sind sie nämlich deutlich entspannter als Angestellte auf den unteren Sprossen der Karriereleiter. Diese haben zwar nur Acht-StundenTage – aber Aufgaben, Termine, Arbeits­ einteilung und Arbeitstempo werden ih­ nen vorgeschrieben, während ihnen die Anerkennung für ihr Bemühen häufig vorenthalten bleibt. Offenbar gilt die Regel: Je geringer die Kontrolle über das eigene Handeln, je kleiner der Entscheidungsspielraum und je schmaler die Gratifikationen, desto grö­ ßer der Stress und desto gravierender auch 58

seine gesundheitlichen Folgen. Otto er­ lebt eine Art von Stress, die für Ötzi nicht einmal vorstellbar war. Und sein Leben läuft Gefahr, ein jähes Ende zu nehmen. Bei einer vor einigen Jahren veröffentlich­ ten epidemiologischen Studie an 700 männlichen Infarktpatienten erwies sich die Zahl derer als signifikant hoch, die in den letzten Jahren vor ihrem Infarkt be­ ruflich abgestiegen waren und dabei Ent­ scheidungsfreiheit eingebüßt hatten. Ein Teil von ihnen mag genetisch vorbelastet gewesen sein, ein weiterer Teil frühkind­ lich traumatisiert, und etliche mögen den Infarkt vielleicht auch bestimmten Zügen ihrer Persönlichkeit verdanken – entschei­ dend für die Mehrzahl der Fälle bleibt aber der psychosoziale Faktor.

Die Kontrolle wiedergewinnen Letztlich ist dieser auch als einziger men­ schengemacht und damit beeinflussbar – denn an den Erbanlagen kann der Mensch nichts und an seiner Persönlich­ keit nur schwer etwas ändern. Das psychosoziale Umfeld ist mit den meisten der zahllosen Ratschläge und ­Rezepte zur Stressbewältigung, die land­ auf, landab im Angebot sind, wider alle Versprechungen kaum zu beeinflussen. Warme Bäder, Joggen, autogenes Training

oder progressive Muskelentspannung mö­ gen wohltuend und hilfreich sein. Wenn aber die entscheidende Stressquelle einem anhaltenden Gefühl von Ohnmacht und Entmündigung entspringt, reichen solche Strategien der Stressbewältigung nicht aus. Nur ein Rezept verspricht dann tat­ sächlich Erfolg: Es gilt, die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen. Leicht ist dieser Ratschlag nicht ­umzusetzen. Im beruflichen Bereich füh­ ren anhaltende Globalisierungstendenzen dazu, dass immer größere Unterneh­ menseinheiten geschaffen werden, in de­ nen die Räume für autonomes, sinnhaftes Handeln rar werden. Das Gefühl, über­ mächtigen Apparaten mit fernen Kom­ mandozentralen ausgeliefert zu sein, wird sich in Zukunft noch verstärken. Gestern war man Mannesmann, heute Vodafone, und morgen ist man gar nichts mehr, weil die Entwicklungsabteilung in Lon­ don konzentriert wird. Es drohen Stress, Erschöpfung, Resignation. Wahrschein­ lich müssen sich viele Menschen daran gewöhnen, dass eine der Säulen, auf de­ nen ihr Leben ruht – nämlich Arbeit und Beruf –, morsch wird und bleibt. Umso wichtiger werden dann die an­ deren Säulen, die uns tragen: die phy­ sische Existenz, also der pflegliche Um­ GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


gang mit dem eigenen Körper durch Be­ ben sich verändert, sogar die Gestalt der wegung, gesunde Ernährung und Erho­ Nase und Augen. Heute ist der Globus er­ lung; Familie und Partnerschaft; das obert, doch hat dieser Prozess der Anpas­ soziale Netz der Freunde, Hobbys und sung, die den Menschen abverlangt wird, Vereine; geis­tige Sinnerfüllung – sei es nie aufgehört – mit dem wesentlichen durch Geborgenheit im Glauben, spiritu­ Unterschied, dass sich der moderne elle Erfahrungen, Meditation, Gespräche Mensch an Umweltbedingungen assimi­ oder Austausch mit Gleichgesinnten. In lieren muss, die er selbst geschaffen hat. all diesen Bereichen gibt es Gelegenheit zu kompensatorischen Erlebnissen, die dem Kollektive Nervenschwäche Menschen wieder ein Gefühl von Macht In der Zeit der wilhelminischen Grün­ über das eigene Leben, Orientierung, derjahre im letzten Drittel des 19. Jahr­ ­Autonomie und Anerkennung geben kön­ hunderts, als sich das Leben durch neue nen. Von solchen Erfahrungen werden Technologien enorm beschleunigte, gras­ dann psychische Prozesse ange­stoßen, die sierte die »Neurasthenie«, eine Nerven­ in einer komplizierten – im Detail noch schwäche epidemischen Ausmaßes – der unerforschten – Wechselwirkung mit Begriff Stress war damals noch nicht er­ Nerven-, Immun- und Hor­monsystem funden. Als beispielsweise die Firma Sie­ stehen und diese positiv beeinflussen. mens im Jahr 1902 eine neue Telefon­ Im Lauf seiner Evolution und seines zentrale in Betrieb nahm, musste dieser Eroberungszuges über die Erde hat der schon am Tag nach der Eröffnung wieder Mensch sich immer wieder neuen Um­ eingestellt werden, weil alle Telefonistin­ weltbedingungen angepasst. Der polaren nen kollektiv arbeitsunfähig waren. Kälte wie der Wüstenhitze, der Seefahrt Dauerstress scheint ein Zeichen dafür wie dem Hirtenleben im Hochgebirge. zu sein, dass von den Menschen abermals Staunend stehen wir vor den Adapta­ eine gewaltige Anpassungsleistung gefor­ Dr. Willmar Schwabe Tebonin Anzeige T/01/07/5/1 tionsleistungen Marke Homo sapiens. Die dert wird, die vielleicht größer ist als je Format: 1/2 Seite quer 4c Satzspiegelformat 173 x 117 mm Gehirn & Geist – Dossier Hautpigmentierung und Haarformen 02.05.2007 ha­ zuvor. Die Zeitgenossen des Computers

müssen ihr eigenes biologisches Überle­ bensprogramm so in den Griff bekom­ men, dass es sie nicht mehr umbringt. Otto muss lernen, sein Ötzi-Erbe zu über­ winden und den Papiertigern gelassen den Rücken zu kehren. l Peter Sandmeyer ist langjähriger Reporter beim »Stern«. Micha­el Sadre-Chirazi-Stark arbeitet als Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Asklepios-Westklinikum Hamburg.

Literaturtipps Csikszentmihalyi, M.: Lebe gut! Wie Sie das Beste aus Ihrem Leben machen. Stuttgart: Klett Cotta 1999. Hüther, G.: Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. Sapolsky, R. M.: Warum Zebras keine Migräne kriegen. München: Piper 1996. Stark, M., Sandmeyer, P.: Wenn die Seele S.O.S. funkt. Reinbek: rororo Sachbuch 2001.

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07.03.2007 9:48:52 Uhr


Caro

Schwarzer Werktag Depressive Berufst채tige erscheinen zwar h채ufig noch am Arbeitsplatz, sind aber nur eingeschr채nkt leistungsf채hig.


BALANCE depressio n

Mehr Frust als Lust? Seit Jahren steigt die Zahl der Depressiven in den Industrie­ ländern. Eine oft unterschätzte Ursache: Probleme im Beruf. Doch Vorgesetzte und Kollegen können den Betroffenen auch helfen, die Erkrankung zu besiegen.

Von Annette Schäfer

S

port macht depressiv. Zu dieser Meinung musste geradezu jeder kommen, der in den letzten Jahren regelmäßig die Nachrichten verfolgte. Erst unterzog sich Nationalspieler und Bayern-München-Mittelfeld­ star Sebastian Deisler einer mehrere ­Monate dauernden Behandlung in einer psychiatrischen Fachklinik – wegen Depression. Dann wurde bekannt, dass auch der italienische Radprofi Marco Pantani, der im Februar 2004 tot in einem Hotelzimmer in Rimini aufgefunden wurde, unter einer schweren depressiven Störung gelitten hatte. Wenig später quittierte der tschechische Fußballer Jan Simak seinen Dienst beim Bundesligisten Hannover 96. Diagnose: Erschöpfungsdepression. Haarklein diskutierten Journalisten, Fans und Experten in den Sportmedien, wie es zu dieser Häufung kommen konnte. Angesichts des immer stärker werdenden Drucks auf Profisportler sei es GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

kein Wunder, dass sich psychische Störungen ausbreiten, meinten einige Fachleute. Kronzeugen für den zunehmenden Stress zu finden fiel nicht schwer. So klagte laut einer repräsentativen Befragung der Zeitschrift »Kicker« unter Bundesligaprofis im Jahr 2004 jeder Zweite über Selbst­zweifel und Versagensängste, zu gro­ßen Erwartungsdruck sowie den Zwang, ständig ganz vorne mit dabei sein zu müssen.

Längst eine Volkskrankheit Nun dürfte Profisport sicherlich ein besonders nervenaufreibendes Gewerbe sein. Doch auch in anderen Berufen können viele Menschen den wachsenden Anforderungen nicht mehr standhalten und reagieren mit depressiven Symptomen. Das hat Folgen: Experten betrachten die Depression mittlerweile als echte Volkskrankheit. In den Industrieländern zählt sie nach Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation WHO heute zu den häufigsten und schwerwiegendsten Erkrankungen (siehe Kasten S. 64).

Unter dieser Entwicklung leiden nicht nur die Betroffenen selbst und ihre ­Angehörigen, sondern auch ihre Ar­ beitgeber. Amerikanische Firmen schlagen bereits seit einigen Jahren Alarm. Weil Depressionen so weit verbreitet sind und mit den 20- bis 45-Jährigen vor ­ allem jene Altersgruppe betreffen, die mitten im Berufsleben steht, seien die wirtschaftlichen Folgekosten besonders hoch. Wissenschaftler wie Walter Stewart, Forscher am AdvancePCS Center for Work and Health in Hunt Valley im USBundesstaat Maryland, bestätigen diese Einschätzung. In einer 2003 veröffent­ lichten repräsentativen Erhebung hat Stewart zusammen mit Kollegen 733 ­depressive sowie 457 nichtdepressive ­Arbeitnehmer nach Arbeitsverhalten, Fehltagen und Einschränkungen ihrer Leistungsfähigkeit befragt. Ergebnis: Bei den depressiven Berufstätigen gingen im Schnitt 5,6 Stunden produktive Zeit pro Woche durch die Krankheit verloren. Pro Jahr kämen so depressionsbedingte 61


Depr ess ion

Energielosigkeit, Apathie, Niedergeschlagenheit – das sind die typischen Zeichen einer Depres­ sion. In manchen Fällen zeigen sich aber auch die genau entgegengesetzten Symptome. Die Betrof­ fenen sind rastlos und stürzen sich förmlich in Ar­ beit und Aktivität. Aus diesem Grund werden Depressionen selbst von Fachleuten häufig nicht richtig erkannt, wie Hans-Ulrich Wittchen, heute Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden, bereits 1999 am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München fest­ stellte. Bei der Analyse von drei epidemiologischen Studien mit insgesamt rund 5100 Teilnehmern zeigte sich, dass nur jeder dritte Patient mit einer voll ausgeprägten Depression jemals eine medizi­ nische oder psychologische Behandlung erhalten hatte. Ein wichtiger Grund für die niedrige Behand­ lungsquote: Rund dreißig Prozent der Erkrankten passten nicht in das typische Depressionsschema. Innerlich rastlos, sprunghaft und starken Stim­ mungsschwankungen unterworfen, gaben sich die­ se von Forschern bis dahin wenig beachteten ­»aktiven Depressiven« nach außen selbstbewusst, charmant und leistungsorientiert. Besonders Männer versuchen, innerer Leere und trüben Gedanken mit einem vollen Terminkalender oder Überstunden zu entfliehen. Das behauptet zu­ mindest Terrence Real, amerikanischer Psychothe­ rapeut und Buchautor. Im Vergleich zu Frauen hät­ ten Männer eine geringere Toleranzschwelle für seelischen Schmerz, gleichzeitig falle es ihnen viel schwerer, über ihre Probleme zu reden. Depressive Männer suchten sich dann andere Wege, um Er­ leichterung zu finden: exzessive Arbeit, Alkoholoder Drogenmissbrauch, sexuelle Abenteuer oder auch Zorn- und Gewaltausbrüche. Wirklich geholfen ist den Betroffenen damit al­ lerdings nicht. Zwar mag ihnen auf diese Weise kurzfristig die Flucht vor der Depression gelingen, auf Dauer sehen sie sich aber meist mit einem neu­ en Problem konfrontiert. Denn die »Selbstmedika­ tion« in Form von Arbeit, Sport oder Alkohol bringt oft nur dann Linderung, wenn die Dosis kontinuier­ lich steigt. Eine tatsächlich wirksame Behandlung in Form von Antidepressiva oder Psychotherapie bleibt den Betroffenen hingegen vorenthalten, weil weder sie selbst noch ihre Umgebung die eigent­ liche Ursache ihrer Schwierigkeiten erkennen.

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Bilderberg

Schwer zu identifizieren: depressive Hochleister

Schuften am laufenden Band Depressive Hochleister stürzen sich geradezu in berufliche Aktivität und halsen sich immer mehr Arbeit auf, um so ihren bedrückenden Gedanken zu entfliehen.

GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


r Einbußen bei amerikanischen Unterneh-

men in Höhe von 44 Milliarden USDollar zusammen – dreimal mehr als der gesamte Verlust auf Grund aller anderen Erkrankungen! Dabei entstünden aber nur zwanzig Prozent der Kosten durch Fehltage und Krankschreibungen. Sage und schreibe achtzig Prozent gingen hingegen darauf zurück, dass Betroffene zwar bei der ­Arbeit erschienen, jedoch nur eingeschränkt leistungsfähig seien. Denn die typischen Depressionssymptome – gedrückte Stimmung, Desinteresse und mangelnder Antrieb – verhindern oft die normale Aus­übung einer Berufstätigkeit. Zusätzlich belasten in vielen Fällen auch Konzentrationsprobleme, Gedächtnisstörungen, Unentschlossenheit, Schlafstörungen und ein verringertes Selbstwertgefühl die Leistungsfähigkeit der Betroffenen. »Während einer schweren depressiven Episode ist eine normale Berufstätigkeit nahezu unmöglich«, bestätigt Ulrich Hegerl von der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Bei leichteren Formen könnten berufliche Aktivitäten aber häufig noch aufrechterhalten werden. Es sei oft sogar gut für einen Erkrankten, regelmäßig ins Büro, Geschäft oder in die Fabrik zu gehen. »Die Arbeit und der Kontakt zu anderen können wichtige Stützen sein«, so Hegerl. »Besser jedenfalls, als allein zu Hause zu sitzen und zu grübeln.« Was aber, wenn gerade die beruflichen Belastungen zu einer depressiven Störung führen? Die meisten Experten sind sich heute einig, dass Konflikte, Spannungen und Stress am Arbeitsplatz beim Auftreten von Depressionen eine wichtige Rolle spielen. Weniger Klarheit herrscht über das komplexe Wechselspiel zwischen Körper, Psyche und Umwelt, das der Erkrankung zu Grunde liegen dürfte. Denn vermutlich wirken genetische, neurobiologische und psychosoziale Faktoren zusammen, um Depressionen auszu­ lösen und aufrechtzuerhalten. Die Wahrscheinlichkeit, irgendwann im Leben eine entsprechende Störung zu entwickeln, steigt bei engen Verwandten von bereits Erkrankten deutlich. Vererbung scheint also eine wichtige Rolle zu spielen, was GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

auch Zwillingsstudien bestätigen. Des Weiteren können starke psychische Belastungen in der Kindheit das Fundament für spätere Depressionen legen. Auch bestimmte Persönlichkeitsfaktoren erhöhen die Anfälligkeit, vor allem eine Neigung zu Ängstlichkeit, Besorgtheit und häufigen Stimmungsschwankungen. Bei derart prädisponierten Menschen können nun negative äußere Einflüsse wie Stress schnell eine Depression auslösen. Allerdings sind nicht in jedem Fall externe Faktoren im Spiel; und auch Stress – egal wie massiv – kann für sich allein den Ausbruch einer depressiven Erkrankung nicht erklären.

psychologie an der Johannes GutenbergUniversität Mainz aus dem Jahr 2002 zeigt. Der Forscher bediente sich Daten des Projekts AHUS (Aktives Handeln in einer Umbruchsituation) – einer Langzeitstudie, die untersuchte, wie Bürger der ehemaligen DDR auf die dramatisch veränderte Arbeitswelt nach der Wiedervereinigung reagierten. Dormann konzentrierte sich bei seiner Auswertung auf Informationen über soziale Stressoren wie Spannungen mit Kollegen oder problematisches Verhalten von Vorgesetzten. Ergebnis: Wer seine Kollegen als humorlos und schwierig empfindet oder sich von Vorgesetzten unfair behandelt

»Die Arbeit und der Kontakt zu anderen können wichtige Stützen sein. Besser jedenfalls, als allein zu Hause zu sitzen und zu grübeln« ����������������������������� (Ulrich Hegerl, Psychiatrische Klinik, LMU München) Als konkrete Auslöser kommt ein einzelnes belastendes Ereignis, aber auch eine chronische Überforderungssituation in Frage. Wissenschaftliche Studien stellten für eine ganze Reihe von Bedingungen im beruflichen Umfeld einen Zusammenhang mit depressiven Erkrankungen fest, beispielsweise: r  mangelnde Kontrolle und Selbstbestimmung über Ziele und Gestaltung der eigenen Arbeit, r  ein Ungleichgewicht zwischen Arbeitsanforderungen und der persönlichen Qualifikation, r  ein negativer Management-Stil, der nur auf Kritik statt auf positive Rückmeldungen setzt, r  mangelnde Informationen bei grundlegenden Veränderungen wie Restrukturierung oder Fusion, r  emotional aufreibende Arbeiten mit engem zwischenmenschlichem Kontakt wie Pflege oder Schulunterricht, r  ständiger Zeitdruck sowie r  Sorge um den Arbeitsplatz. Auch Probleme mit dem Chef oder den Kollegen können zu einer depressiven Erkrankung beitragen, wie eine Studie von Christian Dormann, Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschafts-

fühlt, klagt häufiger über Einsamkeit, Isolation oder Entscheidungsschwierigkeiten. Allerdings zeigte sich dieser Zusammenhang nur bei Personen, die auf sozialen Stress mit Gereiztheit, Grübeln und Irritation reagieren. »Diese Menschen verhalten sich bei sozialen Kon­ flikten mürrisch und abweisend«, erläutert Dormann, »innerlich jedoch beißen sie sich regelrecht an den quälenden Gedanken fest und grübeln auch am Feierabend oder im Urlaub immer weiter.« Daraus könne sich schließlich eine Depres­sion entwickeln.

Unterschwellige Sticheleien Allerdings zeigt die Studie auch, dass für eine depressive Erkrankung keinesfalls offene Schikane, sexuelle Beläs­tigungen, Mobbing oder körperliche ­Gewalt nötig sind. Dormann: »Unterschwellige Sticheleien und Animositäten – etwa Informationen zurückzuhalten oder einen unschuldigen Kollegen etwas ausbaden zu lassen – reichen, wenn sie über längere Zeit und gehäuft auftreten, um bei gefährdeten Menschen zu massiven psychologischen Folgen zu führen.« Andere Forscher sind den körperlichen Zusammenhängen zwischen Stress 63


Mauritius

Depression – Zahlen und Fakten Schätzungsweise 121 Millionen depressive Menschen gibt es weltweit. In der Anzahl der durch körperliche Beein­ trächtigungen oder Arbeitsunfähigkeit belasteten Lebens­ jahre in der Gesamtbevölkerung – die so genannten »Disabi­ lity Adjusted Life Years« (DALY) – übertrifft die Depression alle anderen psychiatrischen Störungen. Hochrechnungen der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge wird die Be­ deutung der Erkrankung in den nächsten Jahren weiter zu­ nehmen. In Deutschland sind nach Angaben des vom Bundes­ ministerium für Bildung und Forschung geförderten bundes­ weiten Kompetenznetzes Depression rund 6 Prozent der Be­ völkerung im Alter zwischen 18 und 65 an einer behand­ lungsbedürftigen Depression erkrankt – rund 3,1 Millionen Menschen. Weil Depressionen meist vorübergehend auftre­ ten, liegt die Zahl derjenigen, die irgendwann im Lauf ihres

64

Lebens an einer Depression erkranken, noch deutlich höher. Schätzungen gehen hier von bis zu 25 Prozent der Frauen und zehn Prozent der Männer aus. Nach der internationalen Klassifikation psychiatrischer Störungen (ICD-10) zählen zu den Hauptsym­ ptomen einer depressiven Episode: gedrückte Stimmung, In­ teressen- und Freudlosigkeit sowie Antriebshemmung. Diese erzeugen bei den Betroffenen oft einen hohen Leidensdruck, der ein normales »Funktionieren« in Alltag massiv erschwert. Dazu können weitere, bei der Arbeit hinderliche Beschwer­ den kommen: Konzentrationsprobleme, verlangsamtes Den­ ken, Gedächtnis­störungen, Entscheidungsunfähigkeit, allge­ meine Kraftlosigkeit und Vitalitätsverlust, Schlafstörungen, psychomotorische Hemmung sowie ein verringertes Selbst­ wertgefühl.

GEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit


Gefährliche Spannungen Schwierigkeiten mit Vorgesetzten können vor allem bei Menschen, die zum Grübeln neigen, depressive Störungen hervorrufen.

r und Depressionen auf der Spur. Denn

solche Belastungen versetzen den Körper in eine Art Alarmzustand: In einer als ­bedrohlich wahrgenommenen Situation wird im Gehirn ein kompliziertes Stresshormonsystem aktiviert: Das limbische System heizt die Produktion des so genannten corticotropinfreisetzenden Hormons (CRH) an, das letztlich den Pegel des Stresshormons Cortisol erhöht. Das wiederum löst zahlreiche physiologische Reaktionen aus, wie Mobilisierung von Energiereserven, angespannte Muskeln, beschleunigten Herzschlag und hohen Blutdruck. Normalerweise reguliert sich das System selbst über eine Art automatische Bremse, die der Stressreaktion entgegensteuert. Doch das scheint bei depressiven Menschen nicht richtig zu funktionieGEHIRN&GEIST DOSSIER: Gute Arbeit

ren. »Hier ist die Rückstellfunktion des Stresshormonsystems vermindert, sodass die Gegenregulation weniger schnell und effektiv erfolgt«, erläutert Marcus Ising, Leiter der Arbeitsgruppe Psychobiologie am Max-Planck-Institut (MPI) für Psychiatrie in München. »Deshalb dauert es länger, bis man sich nach einer Belastung wieder erholt. Neben genetischen Faktoren tragen wohl auch Stressereignisse in der Kindheit und Jugend zu einer Beeinträchtigung der Rückstellfunktion bei.« Depressive befinden sich also quasi im Dauerstress. Mehr noch: Die Forschun­ gen am MPI für Psychiatrie deuten da­ rauf hin, dass das »Bremsversagen« die depressiven Krankheitsmerkmale sogar direkt verursacht. So demonstrierten die Münchner Wissenschaftler in zahlreichen Stu­dien an Menschen und Tieren, dass eine erhöhte Konzentration an CRH zu Symptomen führt, die für Depressionen typisch sind – etwa Angst, gestörtes Denkvermögen oder Appetitlosigkeit. Andererseits erweisen sich speziell gezüchtete Mäuse, denen Rezeptoren für CRH im Gehirn fehlen, als ausgesprochen furchtlos und zeigen kaum depressionstypisches Verhalten. Die Tiere erkunden etwa im Unterschied zu normalen Nagern auch hell ausgeleuchtete Plätze

steigen verhindern – Forscher nennen das aktives Bewältigungsverhalten. Auf Grundlage dieser Forschungs­ ergebnisse werden derzeit bereits Medikamente entwickelt, die direkt das Stresshormonsystem stabilisieren und somit eine Depression effektiver als bisherige Antidepressiva behandeln sollen. Davon profitieren werden allerdings nur solche Betroffene, die sich auch in ärztliche Behandlung begeben. Genau hier liegt aber das eigentliche Problem: Weil sie ihre Symptome nicht als Krankheit betrachten oder sich für ihr Leiden schämen, gehen viele depressive Menschen gar nicht erst zum Arzt oder Psychologen – rund ein Drittel sucht Studien zufolge überhaupt keine professionelle Hilfe!

Die Kollegen sind gefordert Hier sind Vorgesetzte und Kollegen gefordert, verbringen sie doch mit dem Erkrankten oft mehr Zeit als Freunde oder die Familie. Bei Verdacht auf eine depressive Verstimmung sollte ihn jemand vorsichtig darauf ansprechen, Unterstützung anbieten und vorschlagen, einen Arzt zu Rate zu ziehen – so lauten die Empfehlungen von Organisationspsychologe Dormann. In der Praxis seien diese Vorschläge allerdings nur schwer umzusetzen, räumt er ein. »Insbesondere Männer finden es äußerst befremdlich, in beruflichem Zusammenhang über das eigene emotionale Erleben und psychische Probleme zu sprechen. Lieber hadern sie allein mit ihren depressiven Symptomen und treten oft den totalen sozialen Rückzug an.«

Bei Verdacht auf eine depressive Verstimmung sollte jemand den Mitarbeiter vorsichtig darauf ansprechen, ihm Unterstützung anbieten und vorschlagen, einen Arzt zu Rate zu ziehen und erhöhte Plattformen ohne Seitenbegrenzungen. Außerdem lassen sie sich in schwierigen Situationen nicht so schnell entmutigen und versuchen beispielsweise unermüdlich, aus einem sich mit Wasser füllenden Glasbehälter zu entkommen, obwohl die glatten Wände ein Heraus-

Aber auch Personalmanagern, Vorgesetzten und Mitarbeitern fällt es häufig nicht leicht, offen mit depressiven Kollegen umzugehen. »Depression wird oft nicht als schwere, zuweilen auch lebensbedrohliche Erkrankung aufgefasst, sondern mit persönlichem Versagen in Ver65


Depr ess ion

r bindung gebracht«, beobachtet Hegerl,

der gleichzeitig Sprecher des bundesweiten Kompetenznetzes Depression ist (siehe auch Kasten S. 64). Dass in deutschen Firmen beim psychologischen Gesundheitsmanagement man­ches im Argen liegt, bestätigt eine Befragung, die das Düsseldorfer Wirtschaftsund Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) 2004 unter rund 3500 Betriebs- und Personalräten durchführte. Zwar gaben über neunzig Prozent von ihnen an, dass in den letzten fünf Jahren psychische Arbeitsbelastungen wie Zeitdruck, Arbeitsintensität und Verantwortungslast zugenommen hätten. Doch gegen mög­liche gesundheitliche Beeinträchtigungen scheint nur wenig unternommen zu werden.

Mehr Sport im Betrieb So erfasste überhaupt nur knapp ein Viertel der untersuchten Betriebe potenzielle psychische Belastungen am Arbeitsplatz, obwohl solche Gefährdungsbeurteilungen in regelmäßigen Abständen seit 1996 gesetzlich vorgeschrieben sind. Und selbst diese Firmen setzten daraus abgeleitete Maßnahmen – etwa Betriebssport, Gesundheitszirkel, Entspannungsprogramme oder vermehrte Mitsprache der Beschäftigten bei der Arbeitsgestaltung – nur in jedem dritten Fall auch um. In anderen Ländern ist man da bereits weiter. Amerikanische Firmen bieten depressiven Mitarbeitern zahlreiche Hilfe66

stellungen an, wie die Studie »Depression in the Workplace« des University of Michigan Depression Center (UMDC) in Ann Arbor aus dem Jahr 2004 zeigt. Am weitesten verbreitet sind so genannte Employee Assistance Programs (EAPs), bei denen firmeninterne Expertenteams oder externe Berater Betroffene intensiv betreuen. Etwa zwei Drittel der untersuchten Firmen haben solche Programme bereits etabliert. Ein gutes Drittel der Unternehmen veranstaltet spezielle Schulun­ gen, in denen Vorgesetzte und Kollegen den richtigen Umgang mit depressiven Mitarbeitern lernen; elf Prozent der Betriebe setzen auf Screenings, um gefährdete oder bereits erkrankte Mitarbeiter frühzeitig zu identifizieren. Gut so, meinen dazu Arbeitspsychologen und Mediziner. Depressive selbst emp­ finden solche Maßnahmen allerdings eher als zweischneidiges Schwert – auch das geht aus der Michiganer Studie hervor. So betrachtete die überwiegende Mehrzahl der befragten 443 depressiven Arbeitnehmer ein offenes Umgehen mit der Erkrankung als Gift für ihren weiteren beruflichen Erfolg. Und mehr als die Hälfte befürchtet, dass die Karriere eines Berufstätigen im Grunde beendet ist, wenn er eine depressive Störung eingesteht und die angebotenen Hilfen in Anspruch nimmt. Die Diagnose »Depression« scheint also zu einer beträchtlichen Stigmatisierung der Betroffenen zu führen.

Ein möglicher Grund dafür könnte sein, dass die Heilungschancen häufig unterschätzt werden. Schließlich verschwinden die Symptome bei zwei Dritteln der behandelten Patienten vollständig, bei den meisten anderen bessern sie sich immerhin. Auch Sebastian Deisler rappelte sich nach einer stationären Behandlung wieder auf, sein Vertrag wurde sogar bis 2009 verlängert. Dass er kürzlich trotzdem das Ende seiner Karriere bekannt gab, liegt an seinen nicht enden wollenden Knieproblemen. Auf jeden Fall habe die damalige große Medien­ resonanz viel dazu beigetragen, falsche Vorstellungen und Missverständnisse im Zusammenhang mit Depressionen auszuräumen, meint Hegerl. Vielleicht ein erster Schritt, um die weit verbreiteten Vorurteile zum Verschwinden zu bringen. l Annette Schäfer ist promovierte Volkswir­ tin und lebt in Chicago.

Literaturtipps Berkels, H. et al: Mental Health Promoti­ on and Prevention Strategies for Coping with Anxiety, Depression and Stress Re­ lated Disorders in Europe (2001 – 2003). Forschungsbericht Fb 1011 der Bundes­ anstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsme­ dizin, Dortmund 2004. Wissenswertes zu Depressionen bei Berufstätigen. Auch online zu finden unter www.baua.de in der Rubrik Forschung. Hegerl, U., Niescken, S.: Depressionen bewältigen – die Lebensfreude wieder finden. Stuttgart: Trias Verlag 2004. Ratgeber für Betroffene. Hegerl, U., Althaus, D., Reiners, H.: Das Rätsel Depression. Eine Krankheit wird entschlüsselt. München: C.H.Beck Verlag 2005. Erläutert die neuesten Ergebnisse der Depressionsforschung und erfolgreiche Behandlungswege. Real, T.: Mir geht’s doch gut. Männliche Depressionen. Bern: Scherz Verlag 1999.

Weblink www.kompetenznetz-depression.de

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