ProgrammZeitung November 2012

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Die Kraft der puren Präsenz a l f r e d s c h l i e nge r

Programmkino a l f r e d s c h l i e nge r Die Kultkinos bieten Neues. Wer kennt das nicht? Da wollte man einen neuen, etwas spezielleren Film, von dem man Gutes gehört oder gelesen hat, unbedingt sehen – und dann ist er nach nur zwei Wochen bereits aus dem Programm verschwunden. Kleinere, ungewöhnliche Arthousefilme, die sich an ein cineastisches Publikum richten, haben es in einer ‹normalen› Kinoauswertung oft schwer. Was nicht gleich zu Beginn erfolgreich ist, hat kaum eine Chance. Dabei sind es oft gerade diese Filme, die durch Mund-zu-Mund-Werbung mit der Zeit Neugier wecken und Zuschauende anziehen. Mit dem Zusatzkonzept ‹Programmkino› versuchen die Kultkinos auf diese wenig erfreuliche Situation zu reagieren. Sie verknüpfen mehrere dieser speziellen Filme zu einem Monatsprogramm und können ihnen durch eine Verteilung der Vorstellungen auf mindestens drei bis vier Wochen eine längere Laufzeit garantieren. Die fixen Vorführzeiten dieser Filme werden in einem speziellen Leporello zusammengestellt. So wird der Kinobesuch nicht nur für eine Woche, sondern für den ganzen Monat planbar. Dieser Versuch ist auf jeden Fall sehr zu loben. Ob er vom interessierten Publikum angenommen und genutzt wird, muss sich zeigen. Es wäre sehr zu wünschen, denn spezielle Filme sind wichtig für die kulturelle Vielfalt und brauchen deshalb eine besondere Plattform. Zusammen mit dem Stadtkino stehen die Kultkinos in Basel beispielhaft für die Pflege der Filmvielfalt. Und weil die Kultkinos über mehrere Säle verfügen, könnte ein Film, der im ‹Programmkino› gut läuft, auch im Normalbetrieb prolongiert werden. Filmfans dürfen hoffen. Programmkino: www.kultkino.ch

Filmstill aus ‹Hiver Nomade›

Der Dokfilm über Marina Abramovic zeigt eine radikale Grenzgängerin. Sie gilt als ‹Grandmother of Performance Art›, und ihr Markenzeichen ist die völlige Auslieferung ihres Körpers bis hin zur Fremd- und Selbstverletzung. Nackt rennt sie gegen Wände, geisselt ihren Rücken mit Peitschenhieben, ritzt sich mit Rasierklingen einen fünfzackigen Stern auf den Bauch. Bei einer Performance in Neapel hat sie sich selber als Objekt zur Verfügung gestellt, mit dem das Publikum anstellen konnte, was es wollte. Einzige Bedingung, es mussten die auf einem Tisch bereitgelegten Gegenstände verwendet werden: Axt und Alkohol, Ketten, Nägel, Olivenöl, Parfüm, Peitsche, Pistole, Säge und Schwefel. Wie weit würden die Besuchenden gehen? Man riss ihr die Kleider vom Leib, legte sie hin, traktierte ihren Körper mit allem, was zur Verfügung stand. Sechs Stunden dauerte die Tortur, dabei wurde sie beinahe getötet. Im Juni dieses Jahres verwandelte Robert Wilson im Theater Basel in einer hoch ästhetisierten Show von sakralem Charakter die Schmerzsuche der gebürtigen Serbin in reine, stupende Schönheit. Der Dokumentarfilm ‹Marina Abramovic: The Artist Is Present› von Matthew Akers streift das bisherige Werk der Künstlerin mehr, als er es analysiert und einordnet. Intensive Augenblicke. Ins Zentrum stellt der Film die Retrospektive, die das MoMA in New York vor zwei Jahren der heute 66-Jährigen gewidmet hat, und darin vor allem ihre jüngste Performance in diesem Rahmen: Während der dreimonatigen Ausstellungsdauer sass die Künstlerin von morgens bis abends auf einem Stuhl im Atrium des Museums, und die BesucherInnen konnten sich für kürzere oder längere Zeit ihr gegenüber auf einen leeren Stuhl setzen. Stumm, zugewandt, hoch konzentriert. Es ist wohl die zarteste, aber auch die anstrengendste Performance der Mutter aller Schmerzen. 736 Stunden hat sie auf dem Stuhl ausgeharrt. 750’000 Personen besuchten insgesamt die Ausstellung, 1565 schafften es, ihr gegenüber Platz zu nehmen. Manche Augen füllen sich dabei mit Tränen. In besonders rührenden Momenten klatscht das umstehende Publikum. Was geht da ab? Ein Spektakel? Selbstsuggestion? Bespiegelung? Projektion? Es ist unbestreitbar ein schöner Anblick, wenn zwei Menschen sich intensiv anschauen. Es ist die Kraft der puren Präsenz. 1565 mal ein Akt der Liebe: «Und sie erkannten sich». Die Urbeziehung auch zwischen Mutter und Kleinkind. Es ist das, was Marina Abramovic offenbar selber vermisst hat; nie wurde sie von ihrer Mutter geküsst oder umarmt. Jetzt saugt sie das Publikum in einem meditativen Akt stiller Schönheit förmlich in sich auf – und gibt vielen damit auch etwas zurück.

Filmstill aus ‹Marina Abramovic: The Artist Is Present›

‹Marina Abramovic. The Artist Is Present› läuft derzeit in einem der Kultkinos. November 2012 |

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