Responsible Wealth Review Vol. 2

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Investing on the right side of global change

Responsible

Wealth Review Eine Private Wealth Council Publikation

Responsible Investing Gutes tun und dabei Geld verdienen

Der Private Wealth Council über Responsible Investing. Von Fritz Kaiser.

Die Welt von Jetzt

Günter Grass über die Zeitläufte vom Nationalismus des vergangenen bis zur Globalisierung des neuen Jahrtausends.

Der Schlüssel zum Leben

Die Krankheitsgeschichte unseres Planeten und das Rezept zur Gesundung. Von Christopher Flavin und Robert Engelmann.

Energie für die Welt

Marcel Brenninkmeijer über eine der grössten Herausforderungen der Menschheit.

Kampf der Armut

Die Ökonomie des Mikrokredits. Von Muhammad Yunus.

Kein Leben ohne Wasser

Ein Plädoyer für den Umgang mit unserer wichtigsten Ressource. Von Peter Brabeck-Letmathe.

Investition in die Zukunft

Königin Silvia von Schweden über ihr Engagement in der Drogenprävention für Kinder.

Vol. 2


Mit freundlicher Unterst端tzung durch Kaiser Ritter Partner Holding Vaduz, Liechtenstein Cofra Holding Zug, Schweiz

Herausgeber: Fritz Kaiser Private Wealth Council Pflugstrasse 12, 9490 Vaduz, Liechtenstein Zollikerstrasse 60, 8702 Z端rich-Zollikon, Schweiz


Editorial Der Private Wealth Council befasst sich seit der Gründung während des World Economic Forums (WEF) im Jahre 2004 in Davos mit der Frage, was die Verantwortung von vermögenden Menschen im Kern ausmacht und wie Privatvermögen nachhaltig gesichert und entwickelt werden können. Der Begriff «Verantwortung» stand dabei von Beginn an im Zentrum all unserer Reflexionen und führte uns zur vielleicht einfachen, aber umso klareren Erkenntnis, dass wir nicht nur für uns und unsere Familien Verantwortung tragen, sondern auch für die Gesellschaft in der wir leben sowie für unseren Planeten. Vermögen von Privatpersonen können nachhaltig profitabel sein und gleichzeitig eine positive Wirkung für die Gesellschaft und unsere Umwelt entfalten, wenn sie auf der «richtigen» Seite der globalen Entwicklung investiert werden. Denken Sie nur an die verschiedenen Einflussfaktoren, die die Entwicklung unserer globalen Ökonomie prägen: vom Klimawandel, von der Energieverknappung, von der rasanten Entwicklung in Wissenschaft und Technologie bis zum aktuellen Kollaps des globalen Finanzsystems. Wir müssen lernen zu verstehen, wie diese Kräfte unser Leben beeinflussen. Investmententscheidungen müssen auf wohl überlegt formulierten Grundwerten basieren, wobei gleichzeitig die Treiber der globalen Veränderung laufend beobachtet und bewertet werden. In unserer zweiten Ausgabe der «Private Wealth Review» beleuchten wir die verschiedenen Facetten von «Responsible Investing» mit Beiträgen von herausragenden Menschen, die unsere Gedanken unterstützen und wir zeigen konkrete Beispiele, bei denen die Prinzipien von «Responsible Investing» erkennbar sind. Wir machen diese Betrachtung zu einer Zeit, in der wir uns in einer sehr ernsten Weltwirtschaftskrise befinden, gegen welche die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik kein adäquates Rezept

zur Hand zu haben scheinen. Zu einer Zeit, in welcher der neu gewählte Präsident der USA, Barak Obama, als Hoffnungsträger der Welt antritt und plötzlich rund um den Globus Staaten den Versuch unternehmen, den Kapitalismus zu regulieren. Während Europa und die USA verzweifelt und mit Lichtgeschwindigkeit versuchen Ihre Wirtschaft mit öffentlichen Mitteln anzukurbeln und diese weltweiten Investitionsprogramme schon bald die unvorstellbare Summe von insgesamt 10 Billionen US Dollar erreichen wird. Kein Wunder, wurde kürzlich der britische «Aufschwungtheoretiker» John Maynard Keynes (1883–1946) im französischen «Le Figaro» zum «Mann des Jahres» gewählt. Der Dow Jones fiel 2008 um 33,8%, die schlechteste Performance seit 1931, während andere Börsenindices 40% und mehr verloren. Als Auslöser für diese globale Finanzkrise werden oft die auf kurzfristiges Denken und Handeln angelegte, transaktionsgetriebene Kultur der Finanzmarktindustrie und die grenzenlose Gier einiger Akteure genannt. In dieser Zeit haben angeblich die zehn Milliardäre, an der Spitze der Liste der reichsten Menschen der Welt, in wenigen Monaten Vermögenswerte von über 150 Milliarden Dollar verloren. Und nun ist «die Party» für eine ganze Weile vorbei. Während dieser Ernüchterungsphase ist es klug und entscheidend, sich bei Investments wieder auf grundsätzliche Werte und Handlungsmaximen zurückzubesinnen, was für jedermann und nicht nur für die Verantwortlichen für Privatvermögen gilt.

Fritz Kaiser Herausgeber fritz.kaiser@privatewealthcouncil.org

Responsible Wealth Review – Vol. 2

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Responsible

Investing on the right side of global change

Wealth Review Responsible Investing: Gutes tun und Geld verdienen

Wie verantwortungsbewusste Vermögensinhaber Gutes tun und gleichzeitig ihr Vermögen langfristig erhalten und vergrössern können. Von Fritz Kaiser, Gründer des Private Wealth Council. Seite 4

Die Welt von Jetzt

Günter Grass ist einer der führenden Intellektuellen deutscher Zunge. Der Nobelpreisträger für Literatur überblickt die Zeitläufe der Welt vom Nationalismus des vergangenen bis zur entfesselten Globalisierung des neuen Jahrhunderts. Ein Gespräch bei Tee und trübem Licht. Seite 8

Der Schlüssel zum Leben

Bevor sich die Wissenschaft über Prognosen zum Klimawandel einig wird, könnte das Ökosystem irreversibel kippen. Die Technologien zur Vermeidung wären vorhanden, was fehlt ist der globale politische Wille. Eine Krankheitsgeschichte der Welt und der Weg zur Gesundung, von Christopher Flavin und Robert Engelmann. Seite 14

Geld verdienen allein ist nicht genug

Familien mit Privatvermögen können wie niemand sonst einen langfristigen Anlagehorizont mit persönlichen Wertvorstellungen verbinden. Was aber ist eine verantwortungsbewusste Investition? Ein Gedankenaustausch zwischen Josh Lerner und Fritz Kaiser. Seite 23

Energie für die Welt

Die Entwicklungsländer der südlichen Hemisphäre besitzen eines im Überfluss: Sonnenlicht. Wenn es gelingt, diese Quelle für die Menschheit fruchtbar zu machen, ist die Energiefrage gelöst. Eine technologische ­Herausforderung ähnlich jener der Erfindung der Dampfmaschine im 19. Jahrhundert, schreibt Marcel Brenninkmeijer. Seite 26

Jedem Kind seinen Computer

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Als Professor Nicholas Negroponte seine Initiative «One Laptop per Child» startete, ging es ihm um ein globales Bildungsprojekt, bei dem der Computer Hilfsmittel, nicht Endzweck ist. Eine Investition in die Zukunft und ein Projekt der Armutsbekämpfung. Eine Bestandsaufnahme von Matthew Keller. Seite 31 Responsible Wealth Review – Vol. 2


Kredite für die Armen

Es begann mit der Gründung der Grameen Bank in Bangladesch, welche Mikrokredite vergibt. Es ist eine Bank für Arme, welche Armen gehört und das System der Mikrokredite erfunden hat. Der nächste Schritt der Armutsbekämpfung ist das globale Sozialunternehmertum, schreibt ­Muhammad Yunus. Seite 35

Wertvolles Wasser

Für Wasser existiert weder Preis noch Markt, schreibt Peter Brabeck-Letmathe. Dies führt zu einer hemmungslosen Verschwendung. Um einen globalen Kollaps in der Wasserversorgung zu verhindern, braucht es volle Kostendeckung und eine Preisgestaltung, welche den finanziellen Möglichkeiten der Armen Rechnung trägt. Seite 38

Die Öko-Stadt in der Wüste

Im Emirat Abu Dhabi entsteht Masdar City, die erste Stadt der Welt ohne Kohlendioxid-Emissionen, ohne Abfall, ohne Autos. Sie soll sich zum Silicon Valley im Zeitalter der sauberen Technologien entwickeln, schreibt Dr. Sultan Al Jaber. Seite 49

Prävention für Kinder

Der Kampf gegen Drogenmissbrauch bei Kindern und Jugendlichen, dem sich die Mentor-Stiftung verschrieben hat, ist global. Eine gemeinnützige Initiative, die eine wichtige Investition in unser aller Zukunft ist, schreibt Königin Silvia von Schweden. Seite 53

Messung von Nachhaltigkeit

Das Konzept einer ökologischen und sozialen Rechenschaftspflicht von Unternehmen entstand vor rund vier Jahrzehnten und ist immer weiter verfeinert worden, schreibt Ernst Ligteringen. Als Entscheidungshilfe für den Anleger braucht es nun aber zukunftsgerichtete Nachhaltigkeitsdaten. Seite 56

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Responsible Investing: Gutes tun und Geld verdienen Wie verantwortungsbewusste Vermögensinhaber Gutes tun und gleichzeitig ihr Vermögen langfristig erhalten und vergrössern können. Von Fritz Kaiser, Gründer des Private Wealth Council.

Al Gore ist ehemaliger Vizepräsident der Vereinigten Staaten und prominenter Umweltschützer.

Erik A. Brenninkmeijer ist Chairman der Zuger Cofra Holding.

Fritz Kaiser ist Executive Chairman der Kaiser Ritter Partner Gruppe und Gründer des Private Wealth Councils.

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Wir leben in einer Zeit, in der sich der Wandel mit einer Geschwindigkeit vollzieht, wie sie die Welt noch nicht erlebt hat. Diese Meinung äusserte Al Gore im Jahr 2005 an einer Veranstaltung des Private Wealth Council, als er uns die Herausforderungen der weltweiten Klimaerwärmung darlegte. Seither haben wir uns in verschiedenen Gesprächsrunden und Szenarienworkshops damit auseinandergesetzt, wie die Welt in zehn Jahren aussehen könnte. Dabei war uns klar, wie wichtig es ist, aus der Vergangenheit zu lernen und die Gegenwart zu verstehen. Aber wir begannen auch zu erkennen, dass die Fähigkeit zur Vorhersage von zukünftigen Ereignissen, die Qualität unserer Entscheidungen – und damit der geplanten Resultate – verbessern könnte. Unsere Arbeitstreffen waren immer sehr anregend und voller Denkanstösse und zuweilen wurden die Grenzen unserer intellektuellen Fähigkeiten getestet, wenn es galt, die kybernetischen Dimensionen einzelner Aufgaben zu begreifen. Heute verstehen wir besser, was verantwortungsbewusstes Vermögenseigentum bedeutet und dass man sich gut fühlt, wenn man bewusst den richtigen Weg geht und als Anleger über kurzfristige finanzielle Ergebnisse hinaus denkt. Der Gedankenaustausch mit grossartigen Menschen hat uns sehr interessante Erkenntnisse zu ganz grundsätzlichen Fragen gebracht. So ist uns klar geworden, dass wir in einer komplexen Welt leben, in der die Treiber des globalen Wandels alle miteinander vernetzt sind und unsere Welt sich sehr schnell zum Guten oder zum Schlechten verändern kann. Beim eingehenden Studium un-

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serer Liste der neun Treiber des globalen Wandels – von der Cyber-Revolution bis zur Energieverknappung – erkennt man rasch, dass wir lernen müssen, auf der richtigen Seite des Wandels zu sein, um die langfristigen Interessen unserer Familien in diesem sich schnell verändernden Netz globaler Systeme zu wahren. Und wer verstanden hat, wie alles miteinander vernetzt ist, für den wird es immer offensichtlicher, dass wir als Anleger die positive Entwicklung unserer Gesellschaft und unseres Planeten aktiv unterstützen müssen. Al Gores Mahnung, dass wir unseren Planeten wie ein in Liquidation befindliches Unternehmen behandeln, hat das gegenwärtige Denken vieler nachhaltig geprägt. Immer mehr Menschen denken und handeln umweltbewusst und sorgen sich um das ökologische Erbe, das wir unseren Kindern hinterlassen. Dieser Wahrnehmungswandel hat eine wachsende Gruppe von Vermögensinhabern und Meinungsbildnern veranlasst, sich aktiv für das Konzept des verantwortungsbewussten Investierens zu engagieren. Nicht zuletzt deshalb, weil sie erkannt haben, dass ihnen in Situationen, in denen sie mit kurzfristigem, transaktionsorientiertem Denken und fehlender Vision konfrontiert sind, eine ­Makro-Sicht hilft, bessere Entscheidungen zu treffen. Bei der Diskussion um verantwortungsbewusstes Investieren vertritt der Private Wealth Council den Standpunkt der Inhaber bedeutender Vermögen – eine Position, die oftmals von derjenigen der Vertreter aus der Investment-Industrie, darunter Banken, Vermögensverwaltungsfirmen


«gut»

Responsible Investing

«schlecht»

Globaler Wandel

und Fonds, abweicht. Zwischen diesen beiden Interessengruppen bestehen naturgemäss zahlreiche Interessenkonflikte: So können beispielsweise private Vermögensinhaber langfristige, vermögenserhaltende Ziele und den Wunsch haben, eine angemessene Rendite zu erzielen, während Investment-Manager ganz einfach nach kurzfristigen Gewinnen streben und sich mit ihren Produkten an einem bestimmten Benchmark messen. Der Investment-Manager denkt und handelt transaktions­orientiert, während die Vorstellungen des Vermögensinhabers eine längerfristige Betrachtungsweise erfordern. Bei näherer Betrachtung der Vermögensverwaltungsindustrie lassen sich drei verschiedene Anlagephilosophien identifizieren. Der Typ des «Just make money»-Anlegers ist in der Investment-Industrie mit Abstand am meisten vertreten. Diese Investment Manager versuchen ganz einfach, für ihre Kunden und für sich selbst die bestmögliche kurzfristige Rendite (ROI) zu erzielen. Eine weitere Kategorie ist jene der «Make money, but do no harm»-Anleger. Sie lassen bestimmte Kundenvorstellungen in die Anlagestrategie einfliessen und wenden dafür oft sogenannte Negativ-Screening-Methoden an, um Unternehmen, die beispielsweise im Drogen- oder Waffengeschäft tätig sind, aus ihrem Anlageportfolio auszuklammern. Und schliesslich gibt es eben den «Do good while mak­ing money»-Anleger, um den es in den nachfolgenden Abschnitten geht. Die heutige Investment-Industrie bietet eine unermessliche Vielfalt an sehr komplexen Anlageprodukten, die jedoch leider allzu häufig nur einen geringen Grad an Transparenz aufweisen. Allerdings beweist das sogenannte Social Responsible Investing (SRI) – also das sozial verantwortungsvolle Investieren – als ein wachsendes Segment in der Investmentindustrie, dass dieses Konzept einem echten Kundenbedürfnis bei privaten Vermögensinhabern entspricht. Beim SRI basiert die Festlegung einer Anlagestrategie auf einer Kombination aus finanziellen, ökologischen und sozialen Renditefaktoren. Eine solche Strategie kann eine breite Palette an Produkten umfassen, von Kohlenstoff-Produkten, Themenfonds und SRI-Indices bis zu Micro-Finance-Produkten und philanthropischen Engagements. Die beiden

Nur Geld verdienen niedrig

Geld verdienen, keinen Schaden anrichten

Gutes tun und Geld verdienen

ESG Compliance*

*Environmental, Social, and Governance

Letzteren bieten anstelle einer finanziellen Rendite ökologische und soziale Erträge. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass SRIs nachweislich genauso gut abschneiden können wie rein gewinnorientierte Anlagen. Erik Brenninkmeijer, Verwaltungsratspräsident von Cofra Holding, einem erfolgreichen, weltweit tätigen Familienunternehmen in fünfter Generation, ist eine der treibenden Kräfte hinter der Responsible Investing Initiative. Als Partner in zahlreichen Veranstaltungen und Workshops des Private Wealth Council hat er oft auf die Bedeutung hingewiesen, auf der richtigen Seite des Wandels zu sein: «Als private Vermögensinhaber können wir selbständig entscheiden, und zwar jeder Einzelne in seiner Tradition, Kultur, Industrie und Umgebung. Dabei genügt es unserer Ansicht nach längerfristig jedoch nicht mehr, durch das eigene Tun nur keinen Schaden anzurichten. Wir glauben

hoch Steht für verantwortungsbewusste Investitionsmöglichkeiten

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an Entscheidungen, die dazu führen müssen, dass unsere Investments und Aktivitäten auf der richtige Seite des Wandels liegen. Mit anderen Worten: Wir wollen eine gute Rendite erzielen und einen positiven Beitrag für die Entwicklung unserer Welt und der Menschheit leisten. Egal wie gross oder klein dieser Beitrag auch sein mag.»

Das Konzept des verantwortungsbewussten Investierens

Vereinfacht gesagt, verfolgen verantwortungbewusste Investoren das Ziel, ihr Vermögen langfristig zu erhalten, Werte zu schaffen, eine überdurchschnittliche Anlagerendite zu erzielen und gleichzeitig ihrer Verantwortung als Anleger nachzukommen – nicht nur für sich selbst und für ihre Familien, sondern auch für die Gesellschaft und für die Umwelt. Die folgenden fünf Hauptkriterien skizzieren, worauf vermögende Familien und verantwortungsvolle Anleger beim Investieren achten sollten: 1

Definieren Sie Ihre Werte Werte können eine Vielzahl von Vorstellungen und Überzeugungen enthalten. Vielleicht sind Sie besonders umweltbewusst, lehnen Kinderarbeit ab oder legen grossen Wert auf Ihre Religion oder Ihre Kultur. Wie auch immer Ihre Wertewelt aussehen mag, deren schriftliche Formulierung bildet einen wesentlichen Bestandteil des Briefings an das Investment-Management-Team. 2

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Beobachten Sie laufend die Treiber des Wandels Das Verständnis der wichtigsten Entwicklungen in den verschiedenen Systemen unserer sich schnell verändernden, vernetzten Welt ist eine bedeutende Voraussetzung für einen Anleger, um sich erfolgreich auf der richtigen Seite des Wandels zu bewegen. Al Gore’s Liste der Treiber des globalen Wandels wird von vielen geschätzt, erfordert jedoch eine regelmässige Aktualisierung. Das World Economic Forum oder das Worldwatch Institute bieten dazu Daten für einen wertvollen Überblick. Darüber hinaus gibt es heute auch weitere interesResponsible Wealth Review – Vol. 2

sante Quellen, die zusätzliche, relevante Daten für diese Aufgabe liefern. 3

Entwickeln Sie eine langfristige Anlagestrategie Eine wertorientierte Anlagephilosophie gepaart mit einem soliden makroökonomischen Verständnis nimmt gezielt Einfluss auf die generelle Vermögensallokation und auf die Auswahl der Anlagethemen, Produkte und Unternehmen im Rahmen einer fünf- bis zehnjährigen, auf Rendite und Nachhaltigkeit ausgerichteten Anlagestrategie.


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Wählen Sie Investment-Manager, die sich Ihren Werten verpflichtet fühlen Bei der Umsetzung einer definierten Anlagestrategie werden Sie rasch den Nutzen erkennen, wenn Sie Ihre Werte schriftlich formuliert haben und sich ein gutes Bild über die globalen Trends machen können. Dies wird es Ihnen auch erst ermöglichen, jene gleich gesinnten Investment-Manager auszusuchen, die sich Ihren Werten verpflichtet fühlen und Ihre definierte Strategie auf dieser Basis umsetzen. Eine wesentliche Grundlage dafür ist ein IncentiveSystem mit einer gut durchdachten Kombina­

tion aus finanziellen und wert­orientierten Parametern.

Bild: Corbis

Responsible Investing: Werte schaffen für zukünftige Generationen.

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Beobachten Sie die finanzielle und wertbasierte Performance Ihrer Anlagen Die Erfolgsmessung und Berichterstattung von verantwortungsbewussten Investments ist ebenfalls von Bedeutung, erfordert jedoch mehr als nur die allgemein bekannte Finanzberichterstattung. So müssen langfristige Aussichten der Investitionen genauso wie die wertebasierenden «ausserfinanziellen» Kriterien einbezogen werden, um ein Investment ganzheitlich bewerten zu können. Responsible Wealth Review – Vol. 2

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Die Welt von Jetzt Günter Grass ist einer der führenden Intellektuellen deutscher Zunge. Der Nobelpreisträger für Literatur überblickt die Zeitläufe der Welt vom Nationalismus des vergangenen bis zur entfesselten Globalisierung des neuen Jahrhunderts. Ein Gespräch bei Tee und trübem Licht. Geht es um Günter Grass, folgen mediale Chiffren über Autor und Werk in der Regel der neuzeitlichen journalistischen Kürzestprosa. «Der Nobelpreisträger ist zum obersten Intellektuellen des Landes gekürt worden», heisst es etwa im deutschen Nachrichtenmagazin «Der Spiegel». «Grass ist ein Leitwolf der intellektuellen Entwicklung der vergangenen 50 Jahre», bekennt Mathias Döpfner, Chef des Springer-Konzerns, des grössten Zeitungsverlags des Landes. Uns empfängt Günter Grass an einem trüben Novembertag in seinem Büro im Dachgeschoss des Günter-Grass-Hauses im Herzen Lübecks. Was folgt, ist kein Gespräch mit in Satzfolgen gegossenen Superlativen über die Rezeptionsgeschichte des Autors und bildenden Künstlers. Während draussen das Schneegestöber von Grau langsam in das nächtliche Dunkel kippt, suchen wir drinnen bei Tee und trübem Licht im Gespräch Versatzstücke zum Verständnis der Welt von jetzt. Wir stellen Fragen, folgen den Grass­ schen Antworten, und die Gedanken des Literaten gerinnen so zu einer Momentaufnahme zu zwölf Stichworten.

I.

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Entschleunigung

«1992 habe ich die Erzählung ‹Unkenrufe› geschrieben. Eine heiter-melancholische Liebesgeschichte, welche in meiner Geburtsstadt Danzig spielt, in der nach dem Fall der Mauer alles ins Rutschen gerät. In dieser Geschichte tritt auch ein Bengale auf, der sich in Danzig sesshaft gemacht hat und eine Marktlücke entdeckt. Die Polen, hat er beobachtet, können sich keine Ta-

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xis leisten, weil zu teuer, und die Taxifahrer sind ohne Kundschaft arbeitslos. Er kommt auf die Idee, in Danzig Fahrrad-Rikschas einzuführen, und weil die alte Lenin-Werft gerade leer steht, richtet er dort eine «Rikscha-Fabrik» ein. Gut, die Idee stammt aus meinem Kopf, und vom modernen Automobilbau verstehe ich nichts. Aber ich sehe, dass immer mehr und mehr Autos gebaut werden, die Innenstädte verstopft sind, und da braucht es eine Alternative, welche im Kopf beginnt. Die Alternative bedeutet Entlastung, Entschleunigung gar und Übergang zu umweltfreundlichen Verkehrsmitteln. Mit Rikschas lassen sich Menschen befördern, und sie bewegen sich in angemessenem Tempo. Das wäre auch ein sinnvolles Investment, es schafft Arbeitsplätze, ist ein sehr personenbezogenes Geschäft und im Grunde genommen frei von dem in der Wirtschaft üblichen Wachstumszwang.»

II.

Tempo

«Es gibt viele Momente in einem langen Menschenleben, welche einem den Eindruck vermitteln, alles sei zu schnell geworden. Und das gilt auch für ein Schriftsteller-Leben, dessen vornehmste Aktivität bekanntlich die Schreibtätigkeit darstellt. Ich erinnere mich, als die ers-

Selbstbildnis «Mit Handschuh nachdenklich», Radierung 1981.


Bild: Günter Grass

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ten Computer aufkamen und mich Kollegen fast mitleidig fragten: Was, Sie schreiben noch auf einer Olivetti aus den 50er Jahren? Jawohl, das tue ich. Ich habe mir vor Jahren vier Stück auf dem Flohmarkt gekauft. Woanders kriegt man die ja nicht mehr. Das Tempo, mit dem ich die erste Fassung meiner Texte von Hand aufschreibe, entspricht der Geschwindigkeit, mit der ich sie dann im Vier-Finger-System auf der Olivetti abtippe. Das entspricht auch meinen Überlegungen und meinem Denktempo.»

III.

Computer

«Der Computer lädt ein, ruck, zuck ein sauberes Schriftbild zu erstellen. Das ist eine optische, weil vordergründige Täuschung. Bei mir erfährt ein Manuskript dauernde Veränderungen. Immer neue Einschübe. Es muss verschmiert sein. Dann geht es in die nächste Fassung. Das muss überschaubar bleiben. Ich muss die erste Fassung greifbar halten, um an der vierten arbeiten zu können. Dann stellt sich heraus, dass Gedanken, welche ich in der ersten Fassung gestrichen habe, in der vierten wieder in den Text gehören. Vielleicht in anderer Form. Dadurch entsteht eine Korrespondenz zwischen den einzelnen Fassungen. Demgegenüber lädt der Computer dazu ein, beliebig zu sein. Alles sieht schön aus, ist aber nicht zu Ende gedacht.»

IV.

Fortschritt

V.

Globalisierung

«Fortschritt ist janusgesichtig. Er bringt eine Verbesserung der Lebensumstände. Und er bewirkt auch Elend. Zum Beispiel, als im 19. Jahrhundert die mechanischen Webstühle eingeführt worden sind. Das hat zur Katastrophe geführt, weil die Weber draussen in den Dörfern arbeitslos wurden. Gerhart Hauptmann hat darüber das Drama ‹Die Weber› geschrieben.»

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«Mir ist schon früh aufgefallen: Durch das, was wir Globalisierung nennen, verändern sich die Markthallen. Wir fuhren schon vor zwanzig Jahren, kurz nach der Nelkenrevolution, nach Portugal. Auf dem Markt gab es alles zu kaufen, was das Land hergab. Ein paar Jahre später war alles angepasst, und die kleinen Bauern wa-

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ren aus der Markthalle verschwunden. Sogar die Orangen kamen nun aus Spanien, und die portugiesischen gingen im besten Fall in die Saftpresse. Weil sie zu dicke Schalen hatten. Sie entsprachen nicht mehr den europäischen Normen. Heute erleben wir, wie Laster an Laster die Nahrungsmittel kreuz und quer durch die Gegend karren. Es wird Energie verbraucht, um global präsent zu sein. Dazu ein kleines Erlebnis: Auf einer Rückfahrt von Portugal machten wir Halt in Avignon. In einem kleinen provenzalischen Dorf entdeckten wir ein Restaurant, welches diese wunderbaren frittierten Fische servierte, die ich so gerne esse. Wir gingen also hinein, die Fische schmeckten, und als ich den etwas verschlafenen Wirt fragte, ob er seine Fische aus Marseille beziehe, lachte der nur, meinte, im Mittelmeer sei alles leer gefischt. Seine stammten aus der Ostsee.»

VI.

Politik

«Eins kann ich aus meiner Erfahrung heraus sagen: Wenn es uns nicht gelingt, zu den bankrotten politischen Systemen eine Alternative zu schaffen, läuft es hier auf eine Ökodiktatur hinaus. Das kommunistische System ist ja bereits erledigt, und das kapitalistische ist, so wie das seit den 80er Jahren läuft, nahe dran. Wir hatten ja nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland einen relativ gebändigten Kapitalismus, und seit uns die politische Konkurrenz abhanden gekommen ist, ist der entfesselt. So lief ja auch die deutsche Wiedervereinigung: zugreifen, plattmachen, Konkurrenz wegschaffen. Diese Haltung hat sich fortgesetzt. Und nun droht, wie gesagt, die Ökodiktatur, und Öko hat dabei nichts mehr mit Grün zu tun. Es sind Notfälle, welche eintreten. Wasser tritt über die Ufer, Wasser wird knapp, das Klima verändert sich, Bevölkerungswachstum, Hungersnöte. Die armen Menschen aus Afrika versuchen in die Wohlstandszone Europa einzudringen. Wir müssen uns fragen: Warum versuchen die Menschen in Afrika, unter der Gefährdung ihres Lebens auf dem alten Kontinent Fuss zu fassen? Wir müssen nach den Ursachen forschen und diese an Ort und Stelle beseitigen. Die Grenzen dichtzumachen, hilft da nicht weiter.»


VII.

Neues Wettrüsten

«Als die Mauer fiel, keimte die Hoffnung, und der vormalige sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt sprach einmal von der Friedensdividende, welche ein Wettrüsten zukünftig überflüssig machen würde. Das sah eine kurze Zeit einmal so aus, dann kam der erste Golfkrieg, und die Rüstungsspirale begann sich erneut zu drehen. Brandt hatte ja bereits im Jahre 1980 im Auftrag der Vereinten Nationen den so genannten Nord-Süd-Bericht «Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer» verfasst, in dem er für eine neue Weltwirtschaftsordnung eintrat. Darin wies Willy Brandt unter anderem auch auf den Zusammenhang zwischen Aufrüstung und Armut in der Dritten Welt hin. Hätten wir nur einen Bruchteil dessen, was seither weltweit an Rüstungskosten verschleudert worden ist, in Projekte zur Linderung dieser Not investiert, wäre schon viel geholfen. Stattdessen sind wir kurz davor, einen neuen Kalten Krieg zu entfesseln. Wir erleben derzeit ein imperiales Gehabe der Vereinigten Staaten und ein ebensolches von Russland. Diese über Jahrzehnte eingeübten Verhaltensweisen brechen wieder auf. Die Amerikaner sollten verstehen, dass sich die Russen von Raketenschirmen in Polen oder Tschechien bedroht fühlen müssen, schliesslich haben sie selber Kuba erlebt. Ob der neue Präsident die Kraft aufbringen wird, sich aus den imperialen Wunschvorstellungen Amerikas zu lösen, weiss ich nicht. Auch bei seiner Aussenministerin bin ich da nicht so sicher. Dieses imperiale Verhalten haben in der Vergangenheit schliesslich Demokraten und Republikaner gleichermassen an den Tag gelegt.»

VIII.

Demokratie

«Wir erleben einen schleichenden Zerfall der Demokratie. Sehen Sie, was aus Italien geworden ist oder wie der französische Präsident mit viel Geschick und grosser Theatralik seine Politik betreibt. Das geht immer auf Kosten der Demokratie. Die noch grössere Gefahr geht freilich von den mächtigen und anonymen Lobbysystemen aus, welche sich um die Parlamente aufgebaut haben, von Brüssel ganz zu schweigen. Das för-

dert eben die Gefahr dessen, was ich Ökodiktatur genannt habe. Sie entstünde aus der Not heraus. Dann nämlich, wenn es zum ökologischen Kollaps kommen sollte.»

IX.

Terrorismus

X.

Religion

«Terrorismus hat Ursachen. Als Willy Brandt seinen Nord-Süd-Bericht geschrieben hatte, gab es noch keinen Terrorismus. Er hat aber darauf hingewiesen, dass durch Überbevölkerung in Afrika oder Südamerika und die von den reichen Industriestaaten geprägte Weltwirtschaftsordnung Ungleichheit entsteht. Die industrialisierte Welt hat sich den Zugang zu den Märkten verschafft, während die Staaten der Dritten Welt ihre Produkte nicht auf dem Weltmarkt absetzen können. Das ist damals so hingenommen worden und bis heute so geblieben. Diese Art der Verarmung schlug schliesslich in Verelendung um, welche in diesen Ländern bis in die Mittelschichten hinein reicht. An diesem Punkt entstehen aus Enttäuschung Wut und Hass. Und das ist der Nährboden für jedes fundamentalistische Verhalten. Das gilt auch nicht nur für den Islam, den man übrigens nicht auf einen Stammeskonflikt zwischen Sunniten und Schiiten reduzieren sollte. Nun bekämpfen wir den Terrorismus mit polizeilichen und militärischen Mitteln. Und oft genug, wie in Afghanistan oder dem Irak, erreichen wir gar nichts. Aufbauprogramme auf der einen Seite sind notwendig und richtig, aber die angeblich zielgenauen Raketeneinsätze der Amerikaner und Engländer schüren nur Hass.»

«Jede Religion, nicht zuletzt das Christentum, birgt in sich ein ungeheures Potential, auch an Gewalttätigkeit. Die Kreuzzüge sind von den Christen gemacht worden, und die Kreuzzugmentalität lebt in fundamentalistischen Christen bis heute fort, wie gerade der abgetretene USPräsident George W. Bush unter Beweis gestellt hat. Ähnliches gibt es natürlich auch beim Islam. Wir haben das Glück gehabt, dass bei uns seit der Renaissance das Feld für die spätere Aufklärung bereitet worden ist. Dadurch ist in fast allen Bereichen eine Trennung von Kirche und Staat erreicht worden. In Deutschland sind in den 60er Responsible Wealth Review – Vol. 2

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Jahren von der Kanzel herab noch Hirtenbriefe verlesen worden. Das ist, Gott sei Dank, vorbei. Aber nun erwarten wir von anderen Ländern, welche noch in diesem Prozess stecken, dass sie sich im Schnellverfahren demokratisieren. Etwas, wozu wir selber Jahrhunderte gebraucht haben. Das sind falsche Erwartungen. Und vergessen wir nicht: Europa war bis zum Beginn der Renaissance in den meisten Forschungsbereichen der muslimischen Welt unterlegen. Spanien war während der maurischen Besatzungszeit in der Mathematik oder der Medizin führend. Diese grossen historischen Linien müssen wir uns in Erinnerung rufen, bevor das christliche Abendland von anderen erwartet, auf demokratische Verhältnisse einzuschwenken, welche selbst bei uns ins Wanken gekommen sind.»

XI.

Günter Grass, deutscher Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker, gilt als einer der bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Im Jahr 1999 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

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Amerika

«Amerika hat mit Ausnahme des Bürgerkriegs keinen Krieg im eigenen Land erlebt. Die Amerikaner haben immer nur in der Fremde Krieg geführt. In Korea, Vietnam oder dem Irak. Es existiert eine Vielzahl von eindrücklich inszenierten amerikanischen Filmen, welche die Dramen der Rückkehrer thematisieren, von GIs, die völlig durcheinander sind und in eine Heimat zurückkehren, in der sie keine Zuhörer mehr finden. Es interessiert niemanden, was sie für das Vaterland durchgemacht haben. Ob die Vereinigten Staaten nun am Ende ihres Zyklus als Grossmacht angelangt sind, wird stark davon abhängen, wie die europäischen Verbündeten zukünftig ihre Beziehungen zu den USA gestalten werden. Deutschland beispielsweise hat unter Bundeskanzler Gerhard Schröder seinerzeit Nein gesagt zu einer Beteiligung am Irakkrieg. Heute müssen wir froh sein, dass wir an diesem Schlamassel nicht beteiligt sind. Schröder hatte für seinen Entscheid gute, auch persönliche Gründe. Jede Familie im Land hat im eigenen Bewusstsein noch Erfahrungen, welche noch bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückreichen. Selbst die Ururenkel wissen noch, dass der Ururgrossvater in Verdun gefallen ist. Von Schröder weiss ich, dass auf seinem Schreibtisch ein Foto seines Vaters stand, den er nie kennen gelernt hat, weil er 1944 in Rumänien gefallen war. So et-

Responsible Wealth Review – Vol. 2

was prägt einen Menschen. Deshalb ist es kein Zufall, dass es dieser Kanzler war, der ein erstes Mal in der Nachkriegsgeschichte zum Grossverbündeten USA Nein gesagt und die Souveränität des Landes voll ausgeschöpft hat. Dieses Minimum an Courage müssen wir aufbringen. Man kann die Gestaltung der Weltordnung nicht allein den Amerikanern überlassen, auch wenn sie sich schwertun werden, von der Vorstellung abzurücken, einzige Grossmacht zu sein.»

XII.

Lehrmeister und Lehren

«Ich hatte in meinem langen Leben einige Lehrmeister. Politisch war es Willy Brandt, der mitten im Kalten Krieg und gegen ungeheure Widerstände das verkrustete deutsch-deutsche Verhältnis aufzuweichen begann, Verhandlungen führte mit Russland, mit Polen. Ich bin damals mitgefahren, als er am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos den Kniefall machte. Brandt hatte den Schriftsteller Siegfried Lenz und mich eingeladen. Es war eine Geste der Versöhnung und ein symbolischer Akt gegen den Krieg. Heute sollten wir endlich den Waffenhandel verbieten. Es besteht kein Anlass, Kriege zu führen. Ich sage das aus einer ökonomischen Notwendigkeit heraus. Ich argumentiere nicht pazifistisch. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Wenn etwa in afrikanischen Länden oder in Serbien die Gewalt überhand nimmt, muss das UNO-Mandat verstärkt werden. Rüstungsausgaben aber sind niemals produktiv. Die dorthin fliessenden Mittel müssen wir umleiten in aufbauende und Frieden sichernde Massnahmen. Damit die Verelendung der Dritten Welt gestoppt werden kann. Damit der Kreislauf von Hass und Terror durchbrochen werden kann. Denn militärische Gewalt kann den Terror nicht besiegen.»

Selbstbildnis «Selbst mit toten Fliegen», Radierung 1992.


Bild: Günter Grass

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Der Schlüssel zum Leben Bevor sich die Wissenschaft über Prognosen zum Klimawandel einig wird, könnte das Ökosystem irreversibel kippen. Die Technologien zur Vermeidung wären vorhanden, was fehlt, ist der globale politische Wille. Eine Krankheitsgeschichte der Welt und der Weg zur Gesundung, von Christopher Flavin und Robert Engelmann.

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Neujahrstag 2101. Irgendwie ist es der Menschheit gelungen, die schlimmsten Folgen der Erderwärmung – höhere Temperaturen, steigende Meeresspiegel, längere Dürreperioden und heftigere Stürme – zu überleben und das Erdklima zu stabilisieren. Die Treibhausgaskonzentrationen haben ihre Höchstwerte erreicht und dürften im 22. Jahrhundert zurückgehen. Der Anstieg der weltweiten Temperaturen verlangsamt sich, und die Natur erholt sich allmählich. Der Gesellschaftsvertrag hat grösstenteils standgehalten. Und die Menschheit ist heute insgesamt besser ernährt, gesünder und wohlhabender als noch vor einem Jahrhundert. Dieses imaginäre Zukunftsszenario wirft eine zentrale Frage auf: Was müssen wir im 21. Jahrhundert – insbesondere 2009 und in den Jahren danach – unternehmen, um eine solche Zukunft möglich zu machen und die Klimakatastrophe abzuwenden, die viele Wissenschaftler für wahrscheinlich halten? Diese Frage liegt dem Thema des Berichts zur Lage der Welt 2009 des Worldwatch Institute zugrunde: wie der Klimawandel in den nächsten Jahren ablaufen wird und welche Schritte heute am dringendsten unternommen werden müssen. In den vergangenen drei Sommern spielte sich zuoberst auf unserem Planeten Erstaunliches ab. Jedes Jahr am Ende des Nordsommers entstand eine grössere Fläche offenen Wassers, die sich über die gesamte Arktis erstreckte und es für kurze Zeit möglich machte, ohne Umweg über den Panamakanal oder um das Kap der Guten Hoffnung mit dem Schiff vom Atlantik zum Responsible Wealth Review – Vol. 2

Pazifik zu fahren. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit – nicht einmal eine Million Jahre bevor der Mensch existierte – wäre eine solche Reise möglich gewesen. Als Gradmesser der Umweltveränderung ist das Abschmelzen der permanenten Eiskappe am Nordpol mit dem Ausreisser eines Seismografen vergleichbar. Seit mehreren Jahrzehnten befindet sich die Wärmebilanz der Erde massiv ausser Gleichgewicht. Atmosphäre und Ozeane nehmen mehr Wärme auf, als sie abgeben, und überall auf der Welt reagieren die Ökosysteme. Bisher waren die Veränderungen kaum spürbar, und noch immer verlaufen sie aus menschlicher Sicht graduell. Aber man lasse sich nicht täuschen: Die Veränderungen durch schmelzende Gletscher, übersauernde Ozeane und wandernde Arten brechen auf der planetaren Zeitachse sämtliche Geschwindigkeitsrekorde. Der Planet, den die Menschen seit 150 000 Jahren (einschliesslich der Epochen Pleistozän und Holozän, wie sie von Geologen genannt werden) kennen, wird durch menschliche Aktivitäten unwiderruflich verändert. Im Jahr 2000 erkannte der Nobelpreisträger Paul Crutzen zusammen mit seinem Kollegen Eugene F. Stoermer, dass diese Veränderungen derart tiefgreifend waren, dass die Welt in ein neues geologisches Zeitalter eintrat – das sie treffend als Anthropozän bezeichneten. Die Veränderung des Erdklimas gleicht der Steuerung eines riesigen Frachters. Gewaltige Energiemengen sind erforderlich, um ein solches Schiff in Bewegung zu setzen. Zunächst bewegt es


sich kaum merklich vorwärts, aber hat es einmal seine Reisegeschwindigkeit erreicht, kann es nur noch schwer gestoppt werden. Es steht so gut wie fest, dass Kinder, die heute geboren werden, mit einer Vielzahl von Komplikationen fertig werden müssen, die durch die unaufhaltsame Erderwärmung entstehen. Die Nahrungsmittelvorräte gehen zurück, und viele der weltweiten Wälder werden abgeholzt. Empfindlich gestört werden nicht nur Korallenriffe, die zahlreichen Fischgründen Nahrung bieten, sondern auch die Chemie der Ozeane. Schon heute versauern die Weltmeere in immer schnellerem Tempo. Küstenlinien werden

neu geformt, ebenso die Feuchtgebiete der Welt. Ob Landwirt oder Büroangestellter, Bewohner der Nord- oder der Südhemisphäre, arm oder reich, jeder wird davon betroffen sein.

Bild: Gurinder Osan/AP/Keystone

Neues geologisches Zeitalter: Strassenkind in Delhi während der JahrhundertMonsunregen 2008.

Trödeln, während die Erde brennt

Wie ein ferner Tsunami, der auf dem offenen Meer nur einige Meter hoch ist, sich aber beim Erreichen seichter Küstengewässer dramatisch auftürmt, bewegte sich die Welle des Klimawandels zunächst schleichend und beginnt jetzt zu brechen. Der Klimawandel wurde erstmals Ende des 19. Jahrhunderts von einem schwedischen Responsible Wealth Review – Vol. 2

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Problemfeld Bevölkerungswachstum (in Milliarden Menschen)

8,90

5,90

0,79

0,97

1750

1800

1,26

1,65

1850

1900

2,52

1950

1998

2050

Quelle: GeoHive

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Chemiker beschrieben, aber erst Ende der 1980er Jahre hatte die Wissenschaft genug Beweismaterial, um daraus zu folgern, dass die Transformation bereits im Gang war und eine ernsthafte Bedrohung für die Menschen darstellte. Am 23. Juni 1988 setzte James Hansen, ein amerikanischer Wissenschaftler der NASA, den Klimawandel auf die Tagesordnung der Politiker. An jenem heissen Sommertag erklärte Hansen vor einem Ausschuss des US-Senats, dass die Rekordtemperaturen jenes Jahres mit 99-prozentiger Sicherheit nicht das Ergebnis natürlicher Variation seien. Aufgrund seiner Forschungsergebnisse war Hansen zu dem Schluss gelangt, dass die Erwärmung auf steigende Konzentrationen von Kohlenstoff (CO2) und anderen Luftschadstoffen zurückzuführen sei. «Es ist an der Zeit, dass wir nicht mehr so viel schwafeln und stattdessen anerkennen, dass die Beweise für den Treibhauseffekt recht überzeugend sind.» Hansens Aussagen stimmten mit jenen anderer Wissenschaftler aus aller Welt überein, und innerhalb weniger Monate begannen Medien, Öffentlichkeit und Behörden Schritte zur Reduktion von Treibhausgasemissionen in Erwägung zu ziehen. Der Schwerpunkt lag auf internationalen Abkommen, die nötig sein würden, um dieses globalste aller Probleme anzugehen. 1992 unterzeichneten Staatschefs in Rio de Janeiro die UN-Klimarahmenkonvention, 1997 kam das Kyoto-Protokoll mit seinen rechtlich verbindlichen Emissionsgrenzwerten für die Industrieländer hinzu. Gegen Ende der neunziger Jahre schien die Welt entschlossen, gegen das grösste und vielResponsible Wealth Review – Vol. 2

schichtigste Problem der Menschheit vorzugehen. Doch Interessenten der fossilen Brennstoffindustrie bliesen zum Gegenangriff, setzten die Regierungen unter Druck und stifteten Verwirrung um die Wissenschaft vom Klimawandel. Eine Handvoll Klimawandel-Skeptiker – grösstenteils von der Ölindustrie finanzierte Akademiker – machte sich unvermeidbare Unsicherheiten und Vorbehalte in den führenden Klimastudien zunutze, und es gelang ihnen, den Klimawandel von einer grimmigen Realität in ein Thema wissenschaftlicher Debatten zu verwandeln. Den grössten Einfluss übten die Klimawandel-Skeptiker in den USA aus, weshalb es zum Streit mit der EU kam, die seit Anfang der neunziger Jahre der stärkste Befürworter von Massnahmen gegen den Klimawandel war. Im November 2000, kurz vor Ende der Clinton-Administration, trafen sich die Klimaunterhändler in Den Haag, um die Details des Kyoto-Protokolls auszuarbeiten, das drei Jahre zuvor in Grundzügen verabschiedet worden war. Nach zwei Wochen intensiver Diskussionen kam es zu einer dramatischen Nachtsitzung, die im Nichts endete. Misstrauen und Missklänge zwischen amerikanischen und europäischen Unterhändlern waren die Ursachen dieses historischen Versagens der Diplomatie. Dennoch blieben in den darauf folgenden Monaten viele zuversichtlich: Vor seiner Wahl hatte Präsident George W. Bush seine Bereitschaft angedeutet, das Klimaproblem anzugehen und mit anderen Ländern zusammenzuarbeiten. Zwei Monate später – unter starkem Druck von Vizepräsident Cheney und der Erdöllobby – vollzog er eine abrupte Kehrtwendung, als er das KyotoProtokoll geradewegs ablehnte und damit die Verhandlungen zum Scheitern brachte. Zwar rangen sich Europa, Kanada, Japan und Russland in den folgenden Jahren zur Ratifizierung des KyotoProtokolls durch, aber das politische Momentum war dahin.


Problemfeld Naturkatastrophen

Sturm

Überschwemmungen

Temperaturextreme

800 600

Sturmwolken ziehen auf

Das Tragische an diesen zwei vergeudeten Jahrzehnten ist, dass sich die Welt im gleichen Zeitraum von einer Situation, in der rund eine Milliarde Menschen in den Industrieländern grösstenteils für die Probleme verantwortlich waren – auf die USA mit 4,6 Prozent der Weltbevölkerung entfallen 20 Prozent der CO2-Emissionen durch fossile Brennstoffe –, zur heutigen Realität wandelte, in der weitaus bevölkerungsreichere Entwicklungsländer dabei sind, ein noch grösseres Problem zu verursachen. Die weltweiten Kohlendioxidemissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe und der Zementproduktion stiegen zwischen 1990 und 2007 von 22,6 Milliarden Tonnen auf schätzungsweise 31 Milliarde Tonnen, eine erstaunliche Zunahme von 37 Prozent. Das sind 85 Millionen Tonnen Kohlendioxid oder durchschnittlich 13 Kilogramm pro Person, die jeden Tag in die Atmosphäre entlassen werden. Die jährliche Zunahme der Emissionen stieg von 1 Prozent in den neunziger Jahren auf 3,5 Prozent zwischen 2000 und 2007, wobei dieser erstaunliche Sprung hauptsächlich auf das Konto Chinas geht. Zwischen 1990 und 2008 stiegen die amerikanischen Kohlendioxidemissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe um 27 Prozent, während die Emissionen in China gar um 150 Prozent zunahmen, das heisst von 2,3 Milliarden Tonnen auf 5,9 Milliarden Tonnen. Noch plötzlicher und dramatischer, als es die Experten erwartet hatten, stehen China und andere Entwicklungsländer kurz vor den energieintensivsten Phasen der Wirtschaftsentwicklung, und ihre Fabriken, Gebäude, Kraftwerke und Autos benötigen riesige Mengen an fossilen Brennstoffen. Noch 2004 prognostizierte die Internationale Energieagentur, dass China die USA in Sachen Emissionen nicht vor 2030 überholen

400 200 0 1980

1985

1990

1995

2000

2005 2008

Quelle: FTD

würde. Inzwischen macht es den Anschein, als sei diese Relation bereits 2006 umgekehrt worden. Doch rasant steigende Emissionen sind nicht der einzige Aspekt, der mehr und mehr Bedenken weckt. Durch die Abholzung tropischer Wälder – schätzungsweise 13 Millionen Hektar pro Jahr – gelangen jährlich 6,5 Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre. Die weltweit grösste Waldfläche, der Amazonas, schwindet immer schneller, weil die hohen Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu Rodungen verleiten. Noch alarmierender ist, dass die natürlichen Kohlenstoffsenken der Erde – Ozeane und biologische Systeme – ihre natürliche Fähigkeit verlieren, einen beträchtlichen Teil dieser Emissionen aufzunehmen. Deshalb hat die atmosphärische CO2-Konzentration den höchsten je gemessenen Wert erreicht. Klimaforscher sind auf eine besonders unbequeme Wahrheit gestossen: Noch bevor sich die Wissenschaft über definitive Prognosen zum Klimawandel einig wird, könnte das Klimasystem den Umkipppunkt erreicht haben, an dem der Klimawandel sich selbst erhält und für Jahrhunderte irreversibel wird. Nach dem Verlust des arktischen Eises wird beispielsweise die Sonne das Polarmeer stärker erwärmen und dadurch den Wärmerückstau beschleunigen sowie den riesigen grönländischen Eisschild bedrohen. Und bereits gibt es erste Anzeichen, dass der rasche Temperaturanstieg in der Arktis die Tundra auftaut und somit weitere Mengen an CO2 und Methan freisetzt. Responsible Wealth Review – Vol. 2

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Diese dramatischen Veränderungen werden sich auf den gesamten Planeten auswirken, aber in erster Linie die Ärmsten der Welt treffen. Den neuesten Klimamodellen zufolge sind die trockenen Tropen besonders gefährdet. Dort bedroht der Klimawandel die Nahrungsmittelversorgung von Hunderten Millionen Menschen. Auch in den riesigen Flussdeltas Asiens sind viele Hundert Millionen der Gefahr durch steigende Meeresspiegel und immer stärkere Stürme ausgesetzt. Gesundheitliche Gefahren wie Malaria, Cholera und andere Erkrankungen, die in einer wärmeren Welt zunehmen dürften, bedeuten für die Ärmsten der Welt eine zusätzliche Belastung. Die Tatsache, dass viele der 1,4 Millionen Menschen, die heute in bitterer Armut leben, bereits mit schwerwiegenden ökologischen Schäden – an Gewässern, Böden und Wäldern – konfrontiert sind, wird die neuen Probleme im Zusammenhang mit dem Klimawandel verstärken. Der neueste Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (kurz: UN-Klimarat) von 2007 wurde als drastische Warnung vor den bevorstehenden Gefahren interpretiert. Doch die Flut an wissenschaftlichen Daten, die seither publiziert wurden, hat einige Forscher veranlasst, ihre Empfehlungen noch schärfer zu formulieren. James Hansen und W. L. Hare vom deutschen Potsdam-Institut gehören zu denjenigen, die davon ausgehen, dass zur Vermeidung «des gefährlichen Klimawandels» – dem von den Regierungen vereinbarten Ziel – in den nächsten zehn Jahren weltweite Emissionsminderungen nötig werden, denen bis Mitte des Jahrhunderts weitere Reduktionen auf höchstens die Hälfte des heutigen Niveaus – möglicherweise sogar bis auf null – folgen müssen. Das ist in der Tat viel verlangt, mancher würde sogar sagen, unmöglich. Aber die Ressourcen, Technologien und menschlichen Fähigkeiten für den Wandel sind alle vorhanden. Es fehlt einzig am politischen Willen, und dabei handelt es sich um eine erneuerbare Ressource.

Ein neues politisches Klima

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In vielen Ländern hat der politische Wille, das Klimaproblem anzugehen, in den letzten Jahren zugenommen. Die Europäische Union will

Responsible Wealth Review – Vol. 2

ihre Emissionen bis 2020 um mindestens 20 Prozent unter das Niveau von 1990 reduzieren – sogar um 30 Prozent, wenn andere Industrieländer ein bindendes internationales Abkommen unterzeichnen. Und dank überzeugenden wissenschaftlichen Grundlagen und wachsendem öffentlichem Bewusstsein für den Klimawandel und seine Gefahren nimmt der politische Wille weiter zu. Ende 2007 wählte Australien eine konservative Regierung ab, teils aus Unzufriedenheit über die Weigerung des Premierministers, das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen; dieses wurde vom neuen Premierminister umgehend ratifiziert. Seine erste Auslandreise führte ihn zu einer Klimakonferenz nach Bali, und die Regierung erarbeitet seither einen nationalen Klimaplan. In den USA wütet die klimapolitische Debatte auf einzelstaatlicher Ebene wie ein Buschfeuer. Bis Ende 2008 verabschiedeten 27 Staaten einen Klimaplan, und mehrere Staaten im Osten und Westen entwickelten eigene Systeme für den Handel mit Emissionszertifikaten. Im April 2008 verkündeten die Gouverneure von 18 Bundesstaaten an der Yale-Universität: «Am heutigen Tag erneuern wir unsere Verpflichtung, die Erderwärmung aufzuhalten, und rufen die führenden Kongressmitglieder sowie die beiden Präsidentschaftsanwärter auf, gemeinsam mit uns eine umfassende nationale Klimapolitik zu erarbeiten.» Und auch amerikanische Unternehmen reagierten: 27 Grosskonzerne wie Alcoa, Dow Chemical, General Motors und Xerox gaben ihre Unterstützung für nationale Obergrenzen der Treibhausgasemissionen bekannt. Entwicklungsländer kamen ebenfalls dazu. Im Juni 2008 verkündete der indische Premierminister die Umsetzung des lang erwarteten nationalen Aktionsplans für den Klimawandel. Er konzentriert sich auf acht Bereiche, die im Hinblick auf die Eindämmung des inländischen Klimawandels und entsprechende Anpassungen eine maximale Wirkung erzielen sollen: Sonnenenergie, Energieeffizienz, nachhaltiger Lebensraum, Wasser, Schutz des Ökosystems im Himalaja, grünes Indien, nachhaltige Landwirtschaft und nachhaltiges Wissen zum Klimawandel. China kündigte 2007 einen neuen Klimaplan an und hat im laufenden Jahr seine Energieeffizienzpro-


Bild: CJ Gunther/EPA/Keystone

gramme gestärkt, darunter ein neues Anreizsystem, das lokale Behörden zu Energieeinsparungen anspornen soll. Diese Fortschritte sind erfreulich. Doch die Welt muss den Kurswechsel viel schneller vollziehen. Um die Aufmerksamkeit der Politiker zu fokussieren, ist eine weltweite Massenbewegung nötig, die dafür sorgt, dass die Verhandlungen über ein neues Klimaabkommen 2012 dort ansetzen, wo das Kyoto-Protokoll aufhört. Denn schliesslich gehören Planet und Klima allen. In den Industrie- und Entwicklungsländern gibt es Anzeichen, dass eine solche Bewegung entsteht, aber sie ist noch nicht stark und breit genug, um den massgeblichen Interessen auf der anderen Seite Paroli zu bieten. Ein Grund – der vielleicht auf die Neuartigkeit des Problems und seine Wurzeln in den Prinzipien der Physik zurückzuführen ist – liegt darin, dass die Klimaverhandlungen anspruchsvoll

und nur mühsam nachvollziehbar sind. Abgesehen von einer fleissigen Gemeinde von Regierungsunterhändlern, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftlern wissen die meisten Leute nicht genau, worum es geht.

Wie ein Buschfeuer: Klimapolitische Debatte in den USA.

Zehn Schlüsselherausforderungen

Um die Netto-Treibhausgasemissionen auf null zu reduzieren, wie es für die Stabilisierung des Klimas erforderlich ist, müssen zehn Herausforderungen gemeistert werden. 1

Langfristiges Denken. Die Menschen haben im Laufe ihrer Entwicklung gelernt, mit unmittelbaren Gefahren umzugehen – von den wilden Tieren, die den ersten Vorfahren in den Steppen Afrikas begegneten, bis zur finanziellen Panik, welche die Welt gegen Ende 2008 in Atem hielt. Der Klimawandel ist ein aussergewöhnlich langfristiges Problem und macht sich auf der MenschResponsible Wealth Review – Vol. 2

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Neues Klimaabkommen: Vision für eine bessere Welt?

heits-Zeitachse nur langsam bemerkbar. Seine schwerwiegendsten Folgen werden voraussichtlich Menschen betreffen, die heute noch nicht geboren sind. Um dieses Problem zu lösen, müssen wir Verantwortung für die Zukunft übernehmen und die Auswirkungen heutiger Entscheidungen auf zukünftige Generationen in Betracht ziehen. 2

Innovation. Die Welt muss Technologien entwickeln und verbreiten, welche die Produktion und Anwendung von kohlenstofffreier Energie maximieren, die Kosten minimieren und den Komfort optimieren. (Komfort ist wichtig: Die Leichtigkeit von Transport, Lagerung und Anwendung kohlenstoffbasierter Treibstoffe gehört zu den Vorzügen, die nicht im Preis erfasst sind.) Ein wirksamer Klimapakt bietet Anreize, welche die technische Entwicklung fördern und sicherstellen, dass erneuerbare Energien und emissionsarme Technologien in allen Ländern eingesetzt werden, egal ob diese in der Lage sind, die Kosten zu tragen oder nicht. Wir müssen die Effizienz, mit der wir kohlenstoffbasierte Energie verwenden, dramatisch steigern und die Freisetzung von CO2, Methan, Stickoxiden und Treib­ hausgasen aus landgebundenen Kühlsystemen und industriellen Prozessen senken. Das Potenzial für rasche und kostengünstige Emissions­ reduktionen ist nach wie vor gewaltig und weitgehend ungenutzt.

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3 Bevölkerung. Wir müssen den weltweiten Dialog zur Bevölkerung wiederaufnehmen und jene Politiken und Programme fördern, die helfen, ihr Wachstum zu verlangsamen und schliesslich umzukehren, indem wir sicherstellen, dass alle Frauen selbständig darüber entscheiden können, ob und wann sie Kinder haben wollen. Ein umfassendes Klimaabkommen würde die Auswirkungen des Klimawandels auf anfällige Bevölkerungen ebenso anerkennen wie den langfristigen

Responsible Wealth Review – Vol. 2

Beitrag, den ein verlangsamtes Wachstum sowie eine kleinere Weltbevölkerung zur Reduktion künftiger Emissionen unter einem ausgewogenen Klimarahmenwerk leisten könnten. Und es könnte die Verpflichtung erneuern, welche die Länder der Welt 1994 zur Lösung der Bevölkerungsfrage eingingen, wonach sie nicht etwa die Eltern dazu zwingen, weniger oder mehr Kinder als gewünscht zu haben, sondern die Familienplanungs-, Gesundheits- und Bildungsbedürfnisse der Frauen erfüllen. 4 Änderung der Lebensgewohnheiten. Das Weltklima kann nicht allein durch Technologie gerettet werden. Auch unsere Lebensweise muss sich ändern – und je länger wir zuwarten, desto grösser wird der erforderliche Verzicht sein. In den USA war die unaufhaltsame Vergrösserung von Häusern und Fahrzeugen in den letzten Jahrzehnten eine treibende Kraft der Treibhausgasemissionen und der Hauptgrund dafür, dass die amerikanischen Emissionen doppelt so hoch sind wie in anderen Ländern. Änderungen der Lebensgewohnheiten sind notwendig, von denen heute einige unattraktiv erscheinen. Letztendlich sind jene Dinge, auf die wir möglicherweise verzichten müssen – überdimensionierte Fahrzeuge und Häuser, statusbewusster Konsum, einfaches und billiges Reisen, Fleisch zu jeder Mahlzeit, Wegwerfartikel – nicht lebensnotwendig und in den meisten Fällen nicht das, was die Menschen glücklich macht. 5

Heilung des Landes. Wir müssen den Kohlendioxidfluss aus zerstörten oder geschädigten Wald- und Landflächen umkehren. Boden und Vegetation sollten als effiziente Nettoverwerter von atmosphärischem Kohlenstoff und Treib­ hausgasen fungieren. Bei richtiger Bewirtschaftung kann allein der Boden jedes Jahr schätzungsweise 13 Prozent aller menschgemachten


Bild: Jonathon Gruenke/AP/Keystone

Kohlendioxidemissionen aufnehmen. In dem Masse, in dem wir das Land zu einer effizienteren «Senke» für diese Gase machen, können wir bescheidene Mengen freisetzen, die für die Entwicklung und das Wohlergehen der Menschen notwendig sind. Wie bei der Effizienz nimmt aber auch bei einer aktiven Senke letztendlich der Nutzen ab. Und jede Senke muss durch «Abflussstöpsel» gesichert werden, um das Entweichen der Treibhausgase in die Atmosphäre zu verhindern. 6

Starke Institutionen. «Good Governance» kann so lange ein Streitpunkt sein, bis es für jemanden ums Überleben geht. In den letzten Monaten von 2008 zeigte sich das gefährliche Ungleichgewicht zwischen einer ungezügelten Weltwirtschaft und einem Regulierungssystem, das als Flickwerk unterschiedlichster nationaler Systeme besteht. Und wenn es jemals ein globales Phänomen gegeben hat, dann ist es das Kli-

ma. Man kann sich unschwer vorstellen, dass das Klimaproblem langfristig eine politische Evolution in Richtung «Global Governance» antreiben wird, aber angesichts des öffentlichen Widerstands gegen dieses Konzept verkörpern die Vereinten Nationen, multilateralen Banken und Regierungen bedeutender Staaten dank ihrer Stärke und Schlagkraft den nächstwirksamen klimaregulierenden Mechanismus. Neue Institutionen und Finanzierungsquellen sind nötig, aber zur Überwindung der Hindernisse ihrer Konzeption und Gründung wäre wohl ein umfassendes politisches Umdenken oder eine dramatische Verschlechterung des Klimas Voraussetzung. 7 Der Gerechtigkeitsimperativ. Ein dauerhaftes und erfolgreiches Klimaabkommen findet Mechanismen, damit die Kosten und potenziellen Unannehmlichkeiten gemeinsam geschultert werden können. Die CO2-Emissionen pro

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Kopf sind in den USA fast 5-mal höher als in Mexiko und über 20-mal höher als in den meisten Ländern Subsahara-Afrikas. Ein wirksames Klimaabkommen trägt der Tatsache Rechnung, dass die reichsten und am höchsten industrialisierten Länder die Fähigkeit der Erde zur Treibhausgasabsorption bereits uneingeschränkt nutzen und dass die verbleibende Absorptionsfähigkeit den Entwicklungsländern vorbehalten bleiben muss. 8 Wirtschaftliche Stabilität. Als die Weltwirtschaft im Herbst 2008 ins Schleudern geriet, stellte sich unweigerlich die Frage, ob eine Welt, die wirtschaftlich schwierigen Zeiten entgegengeht, die Kosten des Übergangs von fossilen auf erneuerbare Treibstoffe sowie die Nutzung von wertvollem Land für die Kohlenstoffsequestrierung verkraften kann. Jedes Klimaabkommen, das von weltweiter Prosperität ausgeht, ist zum Scheitern verurteilt. Und weil wachsende sowie zunehmend wohlhabende Bevölkerungen immer mehr Ressourcen eines endlichen Planeten verlangen, könnten wir gezwungen sein, die Zukunft des Klimas mit den gegenwärtigen Realitäten wie Hunger, Armut und Krankheit in Einklang zu bringen. Ein griffiges internationales Klimaregime muss Mechanismen entwickeln, die sowohl theoretisch als auch in wirtschaftlichen Boomzeiten funktionieren. 9 Politische Stabilität. Eine Welt, die durch bedeutende Konflikte oder terroristische Ausbrüche abgelenkt wird, kann ihr Augenmerk nicht auf die weitere Zukunft richten. Aber genau eine solche Zukunftsfokussierung ist nötig, damit wir künftige Veränderungen des Klimas verhindern und uns auf solche, die bereits eingetreten sind, einstellen können. Ein Klimapakt könnte Präventivmassnahmen fördern, um die Verunsicherung zu mindern, die der Klimawandel her-

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Responsible Wealth Review – Vol. 2

vorgerufen oder verschärft hat. Aber solange die Staaten keine Wege finden, gewaltsame Konflikte zu entschärfen und die mögliche Ablenkung oder Störung ihrer Gesellschaften durch Terrorismus zu mindern, wird die Anpassung an den Klimawandel wie auch seine Verhinderung (und die Entwicklung selbst) zweitrangig bleiben. 10

Mobilisierung zugunsten des Wandels. Ebenso wie die Angst vor dem Klimawandel hat in den letzten Jahren auch die Bereitschaft zu politischen Massnahmen zugenommen. Doch die Gegner solcher Massnahmen haben immer wieder auf die gewaltigen Kosten von Emissions­ reduktionen hingewiesen. In einer Zeit schwerer wirtschaftlicher Probleme gewinnt dieses Argument an Bedeutung, und von denjenigen, die sich überzeugen lassen, gehen einige direkt von der Verneinung zur Verzweiflung über. Die wirksamste Antwort auf beide Reaktionen besteht nach Ansicht von John Gardner, dem ehemaligen Präsidenten der Carnegie Corporation, darin, die Erderwärmung als «einmalige Gelegenheit im Gewand unlösbarer Probleme» anzusehen. Die Lösung des Klimaproblems wird die grösste Welle neuer Industrien und Arbeitsplätze auslösen, welche die Welt seit Jahrzehnten gesehen hat. Im November 2009 wird die Welt vor einer Prüfung stehen. Werden die rund 200 Regierungen, die in Kopenhagen zusammenkommen, um ein neues Klimaabkommen zu schmieden, mit einem neuen Protokoll aufwarten, das eine Vision und einen Fahrplan liefert und die Massnahmen auf der ganzen Welt beschleunigt? Die Herausforderungen sind zahlreich: Werden sich die Staatschefs von der Finanzkrise und vom Nahostkonflikt ablenken lassen? Wird der neue US-Präsident Zeit haben, um sein Land wieder in eine Führungsposition zu bringen? Wird die globale Nord-Süd-Kluft überwunden, welche die Klimagespräche in den letzten Jahren prägte?

Christopher Flavin ist Präsident des Worldwatch Institute in Washington. Robert Engelmann ist Mitarbeiter des Worldwatch Institute. Der vorliegende Text ist eine leicht gekürzte Fassung des Intro-Kapitels «The Perfect Storm» aus «State of the World 2009: Into a Warming World», erschienen im Januar 2009.


Geld verdienen allein ist nicht genug Familien mit Privatvermögen können wie niemand sonst einen langfristigen Anlagehorizont mit persönlichen Wertvorstellungen verbinden. Was aber ist eine verantwortungsbewusste Investition? Ein Gedankenaustausch zwischen Josh Lerner und Fritz Kaiser. Seit der Gründung des Private Wealth ­Council

durch Fritz Kaiser im Jahr 2004 sucht dieses

kämpfen, weil sie von anderen Seiten unmittelbarem Druck ausgesetzt sind.

wusste Investitionen aus der Sicht des Vermö-

Angesichts der gegenwärtigen Finanzkrise stehen

im Mittelpunkt, was es eigentlich bedeutet, ein

Druck, verantwortungsbewusster und mit lang-

­Forum nach einer Formel für verantwortungsbegensbesitzers. Dabei steht natürlich die Frage

verantwortungsbewusster Vermögensbesitzer zu

sein. Als Fritz Kaiser Ihnen gegenüber erwähnte, dass geplant sei, Anfang des Jahres verantwortungsbewusste Investitionen eingehender zu

untersuchen, waren Sie der Ansicht, dass dieser

Bereich ausgesprochen interessant sei und von Praktikern in der Industrie nicht die Aufmerksam-

keit bekomme, die er verdient hätte. Wie kommen Sie zu dieser Auffassung?

Josh Lerner: Ich berufe mich dabei auf eine akademische Dokumentation, die vor etwa einem Jahrzehnt von Andrei Shleifer und Robert Vishny unter der Bezeichnung «The Limits Of Arbitrage» veröffentlicht wurde. Shleifer und Vishny haben darauf hingewiesen, dass es für Finanzdienstleister trotz der langfristig betrachtet ausgesprochen guten Investitionsmöglichkeiten schwierig sei, daraus Nutzen zu ziehen, weil ihre Geschäfte im Zeichen kurzfristiger Interessen stehen würden. Diesen Trend kann man in Investment-Banken erkennen, die Handelplätze für Kohlenstoff­emissionen anbieten, aber auch in Umwelt-, Gesellschafts- und Forschungsteams. Stets leiden diese Gruppierungen unter kurzfristigem Finanzdruck. Investment-Banken und Finanzdienstleister unternehmen häufig Schritte in die richtige Richtung, müssen jedoch ständig um die Aufrechterhaltung ihrer Bemühungen

besonders die Investment-Banken unter hohem fristigen Zielsetzungen zu arbeiten. Daher könnte

man vielleicht sagen, dass der von Ihnen beschrie-

bene Status quo sich aufgrund der Finanzkrise ändern könnte?

Lerner: Es wäre fantastisch, wenn dies eintreten würde und die Banken mehr Führungsarbeit bei der gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen übernehmen würden. Aber ich bin da skeptisch. Investment-Banken sind immer geneigt, im Zeichen der Transaktionen zu agieren, sie reagieren auf Ebbe und Flut der Märkte und nehmen keine langfristigen Investitionen vor. Dies klingt zwar pessimistisch, aber ich bin dennoch optimistisch in Bezug auf die Fähigkeit langfristig denkender Investoren (besonders vermögender Familien), einige der Dinge in Angriff zu nehmen, zu denen Finanzdienstleister nicht in der Lage sind. Ich würde in diesem Zusammenhang auch auf das zunehmende Interesse an Umwelt- und Gesellschaftsinvestitionen im Risikokapitalbereich verweisen.Aufgrund der Struktur des Risikokaptials können die Manager längerfristige Investitionen vornehmen als Investmentfonds, die täglich mit der Ablösung der Einlagen rechnen müssen. Fritz Kaiser: Wenn man Ihnen so zuhört, kann man wohl ohne Übertreibung sagen, dass die meisten Finanzdienstleister es ganz einfach darauf abgesehen haben, für ihre Kunden und Responsible Wealth Review – Vol. 2

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sich selbst Geld zu verdienen. Einige wenige Investoren arbeiten vielleicht mit «Negativ-Kriterien», welche bestimmte Branchen, Produkte und Tätigkeiten bei der Auslese von Investitionsmöglichkeiten ausschliessen und somit versuchen, Geld zu verdienen ohne Schaden anzurichten. Wenn wir jedoch an dem Gedanken festhalten, dass wir Gutes tun und gleichzeitig Geld verdienen möchten, scheint die Antriebskraft von Vermögensbesitzern kommen zu müssen, die es sich leisten können, langfristige Entscheidungen zu treffen. Das setzt voraus, dass die Vermögensbesitzer ihre Hausaufgaben machen und entscheiden müssen, was ihnen wichtig ist. Sobald der Vermögensbesitzer seine Werte sortiert hat, kann er bei der Auswahl und Anweisung seiner Investmentmanager sowie bei der Festlegung seiner strategischen Anlagengestaltung wesentlich zielgerichteter vorgehen. Lerner: Die Massnahmen der Familie Rockefeller nach dem 2. Weltkrieg sind ein interessantes Beispiel für diesen Gedanken. Diese Familie beteiligte sich am Wiederaufbau der Tempel in Tokio und stand auch an der Spitze der Bauprojekte in dieser Stadt. Die Rockefellers bezogen ihre Motivation aus sozialen Zielsetzungen und ihrer Wertschätzung der japanischen Kultur. Selbstverständlich standen ihre Bemühungen auch im Zeichen einer visionären Finanzinvestition, zu der nur wenige Institutionen bereit oder in der Lage gewesen wären. Wie Sie das beim Private Wealth Council betont haben, befinden wir uns in einer Phase schneller Veränderungen, die uns vor enorme gesellschaftliche Herausforderungen stellt, uns aber auch erhebliche Investitionsmöglichkeiten bietet, wenn man in der Lage ist, langfristige Entscheidungen zu treffen. Häufig handelt es sich dabei um Familien mit einer mehrere Generationen überschreitenden Investitionsperspektive. Kaiser: Bei unseren Besprechungen im Rahmen des Private Wealth Council, an denen sich Responsible Wealth Review – Vol. 2

wichtige Vermögensbesitzer beteiligen, gibt es immer einen breiten Konsens: Wenn es uns gelingt, Investitionen auf der richtigen Seite der Veränderungen vorzunehmen, werden diese nachhaltiger ausfallen und bessere Ergebnisse erzielen. Wie aber können wir diesen Gedanken vermitteln, speziell gegenüber der Investitionsbranche? Lerner: Es gibt keine einfachen Antworten auf diese Frage, aber ich würde vier wichtige Bereiche in den Vordergrund stellen: Zunächst einmal besteht ein Bedarf an genaueren Daten über die Aktivitäten im privaten Sektor bei den Investitionen in soziale und umweltfreundliche Projekte. Aussagefähige Daten vermitteln Investoren ganz allgemein ein besseres Gefühl für eine bestimmte Idee. Diesen Trend haben wir bereits bei den Schwellenmärkten beobachtet, als bessere Daten zusätzliche Investitionen aus dem Ausland ausgelöst haben. Zweitens besteht ein Bedarf an analytischen Rahmenbedingungen. Tatsächlich gibt es nur sehr wenige akademische Arbeiten zu sozial verträglichen Investitionen. Es müssen mehr intelligente Leute dazu bewegt werden, erfolgreiche und nicht funktionierende Vorgehensweisen und die dahinter liegenden Gründe zu untersuchen. Drittens sollten wir uns mehr auf Bereiche mit der besten Praxis bei langfristigen Investitionen konzentrieren, da diese offenbar in einem engen Zusammenhang mit dem Erfolg nachhaltiger Investitionen stehen. Einige Spitzenfamilien haben bei ihren Anlagen überhaupt nicht mit sozialen Zielsetzungen gearbeitet, sondern sich mit beeindruckenden Ergebnissen auf langfristige Finanz­ erträge konzentriert. Wie ist ihnen dieser Erfolg gelungen? Was können andere daraus lernen, die mit breiter gefächerten Zielsetzungen arbeiten? Viertens würde sich eine Art Zertifizierung oder Genehmigungsstempel vorteilhaft auswirken. Investoren brauchen ein Erkennungsmerkmal, welche Institutionen sich ernsthaft um So-


Lerner: Vielleicht bin ich nicht ehrgeizig genug, aber ich glaube, dass die Messung sozialer Erträge mit Schwierigkeiten verbunden ist. Ich habe von einem Studententeam untersuchen lassen, welche finanziellen und sozialen Erträge sich aus Entwicklungsprojekten der Gemeinde ergeben haben. Schnell kam dieses Team zu dem Ergebnis, dass bei der Messung sozialer Erträge viel Subjektivität im Spiel ist. Schon die korrekte Erfassung privater Erträge in diesen Bereichen und erste Massnahmen hin zu einer Messung sozialer Erträge wären ein Riesenschritt nach vorn.

zunehmendes Bewusstsein in Bezug auf das weitere Spektrum, in dem Unternehmen tätig sind, und einen ausgeprägten Wunsch, etwas zu unternehmen, das die Gesellschaft grundlegend verändern kann. Diese Veränderungen finden schon seit einigen Jahren statt, und es würde mich nicht überraschen, wenn sich dieser Trend beschleunigen würde. Kaiser: Ich habe im letzten Jahr in Peking in einer Diskussionsrunde mit einer Gruppe von Akademikern, Politikern, Investment-Bankern und Beratern über die chinesische Perspektive dieses Gedankens gesprochen. Einer der Teilnehmer legte seinen interessanten Standpunkt dar, dass wir einen Fehler begehen, wenn wir verantwortungsbewusste Investitionen nur mit den Augen vermögender Investoren betrachten. Vielmehr sollten wir diese Situation auch aus Sicht der Regierungen begutachten, da diese eine direkte Verantwortung für ihre Bürger tragen.

Sind Sie der Ansicht, dass die gegenwärtige Fi-

Der zunehmende Einfluss unabhängiger Vermö-

eher begünstigen oder behindern wird?

Gedanken verantwortungsbewusster Investitio-

zial- und Umweltprobleme bemühen und welche sich nur mit dem zweckmässigen Mantel des allgemeinen Trends umhüllen. Sie sagen, es gebe einen Bedarf an zusätzlichen

Daten. Bedeutet dies, dass soziale Erträge quantifiziert und in die allgemeine Bilanz aufgenommen werden müssen?

nanzkrise verantwortungsbewusste Investitionen

Lerner: Man könnte darauf hoffen, dass diese schwierigen Zeiten die Leute dazu bringen werden, intensiver über ihre Zielsetzungen und Ambitionen nachzudenken. Es könnte zu einer Hinterfragung der blinden Verbrauchermentalität kommen, was viele Menschen als gesund begrüs­ sen würden. Möglicherweise sind die Leute dann nicht mehr der Ansicht, dass der Sinn des Lebens darin besteht, Investment-Banker zu werden und Millionen zu verdienen. Bemerken Sie diese Einstellungsänderung bei Ihren Studenten?

Lerner: Dazu ist es noch zu früh, weil ich der Meinung bin, dass Veränderungen dieser Grös­ senordnung Jahre oder gar Jahrzehnte brauchen, um sich durchzusetzen. Es gibt mit Sicherheit ein

gensfonds auf den globalen Märkten verleiht dem

nen eine neue Dimension. Würden Sie Investoren unabhängiger Vermögensfonds auf diesem Gebiet als einflussreiche Akteure einstufen?

Lerner: In vielerlei Hinsicht haben unabhängige Vermögensfonds viele Gemeinsamkeiten mit Familienanlegern und Universitätseinrichtungen, weil sie ihre Investitionen über mehrere Generationen hinweg tätigen können. Daher haben sie als wichtige Kapitaleigner ganz sicher das Potenzial, das Verständnis für verantwortungsbewusste Investitionen zu verbessern und diese Anlagenform zu fördern. Ich bin aber als Akademiker am meisten an dem Aspekt interessiert, dass es sich hier aus wissenschaftlicher Sicht um ein noch junges Forschungsgebiet handelt, das sich durch ein enormes Potenzial auszeichnet.

Josh Lerner ist Professor für Investment Banking an der Harvard Business School, Boston. Fritz Kaiser ist Gründer des Private Wealth Council. Die Fragen stellte James Rutter, Managing Editor beim «Dow Jones Wealth Bulletin».

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Energie für die Welt

Die Entwicklungsländer der südlichen Hemisphäre besitzen eines im Überfluss: Sonnenlicht. Wenn es gelingt, diese Quelle für die Menschheit fruchtbar zu machen, ist die Energiefrage gelöst. Eine technologische Herausforderung ähnlich jener der Erfindung der Dampfmaschine im 19. Jahrhundert, schreibt Marcel Brenninkmeijer. Anfang dieses Jahrtausends, im Oktober 2000, fragte ich mich, welche guten Gründe es geben konnte, in alternative Energien zu investieren. Dies beschäftigte mich deshalb, weil ich der Cofra, unserer Familienholding, ebendies vorschlagen wollte: ein substanzielles Investment in die Solarenergie. Ich wusste um die Brisanz dieses Vorschlags. Erstens ist ein solches Ansinnen reichlich ungewöhnlich für eine Familie, welche ihr Geld seit Generationen im Bekleidungshandel verdient. Zum anderen wusste ich aus Erfahrung, dass unsere Familie zumindest im Business nur investiert, wenn auch ein Business Case vorliegt. Wollte ich ein Startkapital von der Cofra, genügte es also keineswegs, die Welt retten zu wollen, obwohl dies ein durchaus lohnenswertes Ansinnen ist. Es brauchte harte Überzeugungsarbeit durch harte Fakten. Ich präsentierte also drei überzeugende Gründe, welche für ein Investment in alternative Energien sprachen. 1

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Klimawandel. Daraus wächst nach meiner Überzeugung das bedeutendste Geschäftsfeld des 21. Jahrhunderts. Und das Bewusstsein dafür stand im Herbst des Jahres 2000 erst am Anfang. Die Erkenntnis über die globalen Gefahren des Treibhauseffekts war gerade einmal zehn Jahre alt, die Konferenz von Rio hatte acht Jahre zuvor stattgefunden, und das Kyoto-Protokoll war 1997 unterzeichnet worden. Wer also den Klimawandel bekämpft, indem er in alternative, weil saubere Energie investiert, tut Gutes für die Welt und eröffnet sich damit

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ein weites Feld lohnender geschäftlicher Aktivitäten. 2 Energiebedarf. Zweieinhalb Milliarden Menschen allein in China und Indien stehen an der Schwelle, zu der industrialisierten Welt aufzuschliessen, und träumen von einem westlichen Lebensstandard. Global gesprochen bedeutet dies einen doppelt so hohen Energiebedarf und damit auch eine Verdoppelung des CO2-Ausstosses. Ein Blick auf die noch vorhandenen fossilen Brennstoffe auf der Welt genügt, um festzustellen, dass diese Nachfrage nach Energie mittel- und langfristig nur über den Einsatz erneuerbarer Quellen gesichert werden kann. 3 Soziale Spannungen. Die Entwicklungsländer sind für einen relativ geringen Teil der globalen Treibhausemissionen verantwortlich, aber von den Folgen des Klimawandels in besonderem Masse betroffen. In der südlichen Hemisphäre drohen Trinkwasserknappheit und als Folge von Trockenheit ein Rückgang der Nahrungsmittelproduktion. Bei einer globalen Erderwärmung von 2 Grad Celsius wird im besten Falle mit einem Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter durch thermische Expansion der Ozeane und um weitere dreissig Zentimeter durch die Gletscherschmelze gerechnet. Dies wird im 21. Jahrhundert zu mehr als 700 Millionen Umweltflüchtlingen führen. Zu erwarten sind soziale Spannungen, Menschen- und Völkerwanderungen, ja gar politische Krisen und bewaffnete Auseinandersetzungen.


Davon wäre auch die Nordhalbkugel betroffen. Wenn wir also unseren Kindern, Familien eine Zukunft geben wollen, müssen wir im wahrsten Sinne des Wortes global denken und auch den Menschen in den Entwicklungsländern die Zukunft sichern. Schlüssel sind die Solarenergie, die Photovoltaik, die Umwandlung von Licht in Strom, ebenso wie die Solar-Thermik, die Umwandlung von Wärme in Strom oder Warmwasser. Heute liegt ihr Anteil an der weltweiten Energieproduktion noch unter einem Prozent. Doch niemand zweifelt ernsthaft daran, dass sich dies ändern muss und auch ändern wird. Die Wachstumsraten in der Solarenergie sind stark steigend, und klar ist auch, dass sich der Mix der Energieträger bis zur Schwelle des nächsten Jahrhunderts dramatisch zugunsten der Solarenergie verändern wird. Das Mineralölunternehmen Shell hat bereits im Jahr 1999 auf zwei Megatrends in der globalen Energiewirtschaft hingewiesen:

Energieträger: der globale Mix

Kernkraft 15%

Kohle 40%

Erneuerbare Energiequellen 18%

Erdgas 20%

Wasserkraft 16.0%

Öl 7%

Biokraftstoffe 1.3% Erdwärme 0.4% Solar/Wind 0.5%

Quelle: Lehman Brothers research, November 2007

Alternative Energieträger: die Prognosen bis ins Jahr 2100 (in Exajule pro Jahr)

1. Der primäre Energiebedarf der Menschheit wird sich bis ins Jahr 2100 gegenüber heute auf 1600 Exajoule (EJ) vervierfachen, wobei eine deutliche Verbesserung des Energieeffizienzfaktors bereits einkalkuliert ist. 2. Die dominante Rolle fossiler Brennstoffe bei der Energieerzeugung wie Öl, Gas oder Kohle wird ihren Peak im vierten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts erreicht haben. Bis dahin fristet die Solarenergie buchstäblich ein Schattendasein, wird dann aber buchstäblich zum Substitut der zur Neige gehenden fossilen Brennstoffe. Übertragen auf die unternehmerische Biographie meiner Familie bedeutet dies folgendes: Seit der Gründung unseres Bekleidungsunternehmens C&A im Jahre 1841 haben fünf Generationen Brenninkmeijers gelebt; bis ins Jahr 2100 werden vier weitere folgen. Dannzumal wird Solarenergie mit Abstand die bedeutendste Energiequelle der Welt sein. Auf dem Zeitband ist seit der Gründung unserer Firma und der zu erwartenden Marktdominanz der Solar-Photovoltaik bereits mehr als die Hälfte

andere

1400

Solar/ andere Photovoltaik Wind

1200 1000

Bio

800

Wasser

600

Kernkraft

400

Gas

200

Kohle

0 2000

2020

2040

2060

2080

2100

Öl

Quelle: solarwirtschaft.de

Sonneneinstrahlung: Quelle für Energie

(in Stunden pro Tag während des Monats mit der geringsten Sonneneinstrahlung)

1.0–1.9 2.0–2.9 3.0–3.9 4.0–4.9 5.0–5.9 6.0–6.9 Quelle: globalspec.com, 2006

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der Zeit verstrichen. Aus wirtschaftlicher Per­ spektive ist für eine unternehmerisch denkende und handelnde Familie ein Investment in diese Industrie also durchaus angezeigt. Zumal dann, wenn es bei einem frühen Einstieg als Early Movers gelingen sollte, in diesem weltweit noch stark fragmentierten Markt eine bedeutende Position aufzubauen. Mit diesem Argumentarium trat ich also vor die Verantwortlichen der Cofra und bat um entsprechendes Startkapital. Mir wurde ein einstelliger Millionenbetrag bewilligt, und ich gründete mit diesem Geld im März 2001 in Basel die Investmentgesellschaft Good Energies. Wie der Name schon sagt, mit dem Ziel und Zweck, in gute, weil saubere, erneuerbare Energie zu investieren. Bei Investitionsentscheidungen lassen wir uns dabei von unseren Familienwerten der Triple Bottom Line beziehungsweise den 3Ps People, Planet, Profit leiten, welche bedeuten: 1

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People. Nur was den Menschen nützt, ist nachhaltig. Ein Geschäft muss also auch unter dem sozialen Fokus eine «Social Rate of Return» nachweisen können. Andernfalls verzichten wir. 2 Planet. Die Umwelt unseres Planeten zu schützen, ist gewissermassen unser Geschäftsmodell, und unsere Investitionen sollen dafür einen substanziellen Beitrag leisten, eine «Environmental Rate of Return». Andernfalls verzichten wir. 3 Profit. Ohne Aussicht auf Profit kein Investment. Ein finanzielles Engagement muss einen in der Wirtschaft üblichen Return on Investment (RoI) abwerfen. Tut es das nicht, verzichten wir. So verstehen wir auch verantwortungsvolles Investieren: eine Investition in unser aller Zukunft, verantwortungsbewusst ausgewählt, welche dazu beiträgt, diese Welt für unsere Kinder und Kindeskinder lebenswert zu erhalten. Und wir wollen das so tun, dass sich daraus ein Geschäft entwickelt, welches sich finanziell selber trägt und den Investoren eine angemessene Rendite einbringt. Unter diesen Prämissen war die Cofra bereit, beim Start in die Firma Good Energies zu investieren. Responsible Wealth Review – Vol. 2

Das Überleben sichern: Illustration «Heilung der Welt», welche anlässlich des Nord-Süd-Berichtes von Willy Brandt im Jahre 1980 kreiert wurde.

Ein weiser Entscheid, denn die Zukunft verspricht sonnig zu werden. Die Solarindustrie startete zwar auf bescheidenem Niveau und ist in weiten Teilen noch immer sowohl von staatlichen Subventionen als Anschubsfinanzierung abhängig, was den Wettbewerb kurzfristig verzerrt, als auch von den in mittlerweile mehreren Ländern eingeführten Energie-Einspeise-Gesetzen (EEG). Es sind typische Symptome einer sich in die Marktfähigkeit entwickelnden Industrie, Kinderkrankheiten sozusagen, welche sich auswachsen werden. Die produzierten Stückzahlen an Solarzellen potenzieren sich bis ins zweite Jahrzehnt dieses Jahrtausends, der Marktanteil der Sonnenenergie weist Steigerungsraten von jährlich über fünfzig Prozent auf. Für den Investor stellt sich nun die Frage: Welches ist die Schwelle, an der die Solarindustrie gegenüber fossilen Energieträgern, gegenüber der Kernenergie konkurrenzfähig wird? Wo liegt die so genannte «Netz-Parität», jener Punkt also, an dem die Produktionskosten von Solarstrom auf das Niveau des Haushaltsstroms gefallen sein werden? Bei dem heute üblichen Installationspreis von Solarstrom in Höhe von fünf Euro pro Kilowattstunde ist dieser Energieträger gegenüber konventionell erzeugtem Strom kaum konkurrenzfähig. Einzig in einigen wenigen Gegenden Kaliforniens mit rund 1900 Sonnenstunden im Jahr ist dies heute bereits der Fall. Doch ein Blick in die unmittelbare Zukunft zeigt, was möglich ist: Je stärker sich die Solartechnik weiterentwickelt, desto schneller fallen die Kosten für die Solar-Photovoltaik, desto kompetitiver wird die Produktion von Solarstrom auch in weiteren sonnenintensiven Teilen der Welt. Szenarien für das Jahr 2012 gehen beispielsweise davon aus, dass bis dahin der Installationspreis für Solarstrom auf drei Euro pro Kilowattstunde fallen wird. Ein Preis, welcher den Energieträger Sonne auch in Ländern wie Italien wettbewerbsfähig


Bild: Bill Sanders/Science Photo Library (SPL)/Keystone

werden lässt. Das wahrscheinlichste Zukunftsszenario ist dann folgendes: Der Trend zur billigeren Produktion von Solarstrom wird anhalten, sich verstärken, während fossile Energieressourcen sich tendenziell weiter verteuern. Dadurch wird die Nachfrage nach Solartechnik selbst in

von der Sonne weniger verwöhnten Ländern zunehmen, wie beispielsweise den Niederlanden. Dies wiederum wird zur Folge haben, dass sich für die Solarindustrie immer neue Märkte eröffnen. Eine Überproduktion von Solarmodulen, wie dies manche Beobachter erwarten, sehe ich Responsible Wealth Review – Vol. 2

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Grosse Unterschiede

(BIP nach Ländern pro Kopf der Bevölkerung, 2006, in Dollar)

No data 30 000+ 20–30 000 10–20 000

5–10 000 3–5 000 1–3 000 <1 000

Quelle: International Monetary Fund

China an der Spitze

(Kohlendioxid-Emissionen, Prognose nach Ländern, 2000 bis 2030) 35 000

30 000 25 000 20 000 15 000 10 000 5 000 0 2000 2002

Quelle: EIA 2007

2003

2010

2015

2020

2025

2030

OECD Europa Brasilien Afrika Mittl. Osten Indien China Russland Australien/NZ Südkorea Japan Mexiko Kanada USA

Australien und Kanada an der Spitze

(Treibhausgas-Emissionen pro Kopf der Bevölkerung nach Ländern, 2000)

0 Quelle: World Resources Institute (WRI)

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93.9 Tonnen CO2 per capita

deshalb nicht. Im Gegenteil: Es wird sich ein globaler Markt für Solartechnologie herausbilden, welcher die Industrie mit der Zeit von staatlichen Subventionen unabhängig machen wird. Der Blick in eine weiter entfernte Zukunft lässt uns erahnen, wohin die Reise geht. Heute haben auf unserem Planeten rund 1,6 Milliarden Menschen keinen Zugang zu Energie; dies aber ist die Voraussetzung für Wohlstand. Wer die Weltkugel unter dem Aspekt des Bruttoinlandprodukts (BIP) nach Ländern pro Kopf der Bevölkerung betrachtet, dem fällt auf: Auf der Nordhalbkugel beträgt dieses mindestens 10 000 Dollar und steigert sich in einzelnen Ländern bis auf Spitzenwerte von über 30 000 Dollar. Auf der Südhalbkugel ist die Situation eine diametral andere: Dort beträgt der Spitzenwert des BIP pro Kopf der Bevölkerung in einzelnen Ländern höchstens 10 000 Dollar, in den ärmsten Regionen liegt er unter 1 000 Dollar. Fassen wir also zusammen: Im Norden ist der Zugang zur Energie gesichert und der Wohlstand am höchsten. Im Süden ist dies nicht der Fall, und deshalb ist dort die Armut am grössten. Diese Arithmetik lässt sich durchbrechen, wenn wir als Energie nutzen können, was der Süden im Überfluss besitzt: Sonnenlicht. Ein Prozent der Fläche der Sahara müssten wir mit Solarzellen bestücken, und der Energiebedarf der Menschheit wäre gedeckt. Herausfordernd wird es sein, Wege zu finden, um diese Energie zu speichern und über weite Distanzen zu transportieren. Für die Menschheit und ihren steigenden Energiehunger ist eine Lösung dieses technologischen Problems in etwa so bedeutend wie die Erfindung der Dampfmaschine im 19. Jahrhundert. Wir dürfen und werden nicht ruhen, bis wir im 21. Jahrhundert die Erfindungskraft unserer Spezies ein zweites Mal unter Beweis gestellt haben. Marcel Brenninkmeijer ist Gründer und Chairman der Investmentfirma Good Energies, welche in Europa, den USA und Asien Beteiligungen an Unternehmen der Solarund Windenergie hält.


Jedem Kind seinen Computer Als Professor Nicholas Negroponte seine Initiative «One Laptop per Child» startete, ging es ihm um ein globales Bildungsprojekt, bei dem der Computer Hilfsmittel, nicht Endzweck ist. Eine Investition in die Zukunft und ein Projekt der Armutsbekämpfung. Eine Bestandsaufnahme von Matthew Keller. Es sind zwei simple Fakten, welche am Anfang stehen: Kinder sind die wichtigste Ressource eines jeden Landes. Und ihre Ausbildung ist in jedem Falle Teil der Lösung jener Probleme, mit denen sich gerade die ärmsten Länder der Welt konfrontiert sehen – sei dies Krieg, Armut, Krankheit oder die Zerstörung der Umwelt. Steigt der Bildungsgrad der nachwachsenden Genera­tion an, erhöht dies die Chance, die Lebensbedingungen mittelfristig und dauerhaft zu verbessern. Im Grunde genommen ist dies der einzige Weg, welcher zum Erfolg führen kann. Dass wir es dabei mit einer existenziellen Problematik zu tun haben, illustrieren ein paar wenige Zahlen. Alle fünf Sekunden stirbt irgendwo auf der Welt ein Kind an Unterernährung und Armut. Eine Milliarde Menschen müssen auch heute noch mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. 150 Millionen Kinder, meist Mädchen, haben noch nie eine Schule besucht. Am Millennium-Gipfel der Vereinten Nationen (UN), welcher im Herbst 2000 in New York stattfand, formulierte die Generalversammlung die «Mil­ lennium-Entwicklungsziele», welche von 189 Mitgliedstaaten verabschiedet wurden. Darin heisst es unter Punkt eins: «Bekämpfung von extremer Armut und Hunger.» Die Vorgabe sieht vor, dass ausgehend vom Basisjahr 1990 bis in das Jahr 2015 die Zahl der Menschen halbiert werden soll, die weniger als einen Dollar in lokaler Kaufkraft pro Tag zur Verfügung haben, ebenso der Anteil der Menschen, welche an Hunger leiden. Unter Punkt zwei heisst es: «Vollständige Primarschulbildung für alle Jungen und Mädchen.»

Beide Vorgaben sind noch immer unerreicht. Allein in Sub-Sahara-Afrika besuchen weniger als 70 Prozent der Kinder eine Primarschule, und es ist zweifelhaft, ob diese Statistik die Wirklichkeit abbildet. Die UN legte vor einiger Zeit das Programm «Welt-Ernährung» auf, mit dem Ziel, Kinder in die Schulen zu bringen, indem ihnen dort nahrhaftes Essen geboten wurde. Der Zusammenhang zwischen Ernährung und Lernen ist evident, und die Erfahrung hat gezeigt, dass Kinder auf der Suche nach Essbarem zwar kilometerweit liefen, aber in vielen Fällen dann keine Schule vorfanden oder diese schlecht ausgerüstet, die Lehrer überfordert waren. Dies lässt mich an der Statistik zweifeln, und es scheint mir klar, dass die Anzahl von Kindern ohne adäquate Schulbildung höher liegt als die offiziellen Daten. Deshalb ist diese Frage ja so zentral: Wie können wir die Kinder zum Lernen bringen? Wie schaffen wir es, dass Einzelpersonen, Gemeinschaften, Nationen diesen fatalen Kreislauf von Armut und Bildungsarmut durchbrechen können? Was ist zu tun, damit die natürliche Neugier von Kindern überall auf der Welt spielerisch in Lernbegierde übersetzt werden kann, im Wissen, dass dieser Schritt kritisches Denken fördert und dies wiederum den Weg zu einer besseren Welt darstellt? Der Schlüssel dazu, davon bin ich überzeugt, ist der Computer. Dies ist mehr als eine bloss theoretische Annahme. Seymour Papert, Mathematiker, Professor für Mathematik und Erziehungswissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT), und ­Nicholas Responsible Wealth Review – Vol. 2

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­Negroponte, Gründer und Chairman des MIT Media Lab sowie der Initiative «One Laptop per Child», versorgten im Jahre 1982 Schulen aus­ serhalb Dakars mit Apple-II-Computern, und dieses Projekt im Senegal bestätigte, was Professor Papert bereits bei früheren Projekten festgestellt hatte: Kinder gehen mit einer grossen Selbstverständlichkeit mit dem Computer um, und die Interaktivität der Geräte ermöglicht eine Selbsterfahrung beim Lernen, welche im gängigen Frontalunterricht in den Schulen nicht möglich ist. Ähnliche Erfahrungen machten sie Jahre später auch in Costa Rica oder Kambodscha. In Südostasien bauten sie in sehr armen Dörfern, in denen das jährliche Durchschnittseinkommen nicht einmal 50 Dollar erreichte, Schulen auf und wagten dann einen weiteren Schritt. Jedes Kind erhielt einen energieeffizienten Wireless-Laptop. Sie waren gespannt darauf, was dann geschehen würde. Die Kinder nahmen den Computer mit nach Hause, spielten damit, informierten sich über die Resultate ihrer bevorzugten Fussballmannschaften oder setzten das Gerät im Kreise der Familie gar als effiziente Lichtquelle ein. Und sie lernten ein erstes englisches Wort: «Google». Technologiegestützte Lehre, das haben wir aus diesen Erfahrungen gelernt, ermöglicht selbst in den abgelegendsten und ärmsten Gegenden der Welt ganz neue Kommunikationsformen. Unter anderem um diese Möglichkeiten weiter zu erforschen, gründeten der ehemalige MIT-Präsident Jerome Wiesner zusammen mit Professor Negroponte das MIT Media Laboratory, kurz: MIT Media Lab. Von dort war der Weg nicht mehr weit zu einem Projekt, das sie seither umtreibt. «One Laptop per Child» (OLPC), jedes Kind, so lautet unsere Vision, sollte einen Computer erhalten, der im wahrsten Sinne des Wortes kinderleicht zu bedienen ist. Er muss zudem der Tatsache Rechnung tragen, dass die meisten KinResponsible Wealth Review – Vol. 2

der auf der Welt in Entwicklungs- und Schwellenländern leben, in denen in der Regel kaum ausgereifte und flächendeckende Energiequellen existieren, geschweige denn eine Computer-Infra­ struktur. Aus diesem Grund wurde im Herbst des Jahres 2005 die gemeinnützige Stiftung «One Laptop per Child» ins Leben gerufen, welche folgende Ziele verfolgt: 1

Konstruktion einer Lernplattform Entwicklung intuitiver, kollaborativer Software 3 Aufbau von Datennetzen in den Schulen 4 Anbindung an das Internet 5 Aufbau von Lern-Communities 6 Kontinuierliche Weiterentwicklung der bereitgestellten Software. Diese kurze Auflistung zeigt, was OLPC ist und was eben nicht. Wir verfolgen ein globales Bildungsprojekt, in welchem der Computer Hilfsmittel, nicht Endzweck ist. Als dieses Projekt am UN Net Summit in Tunis erstmals vorgestellt wurde, wurde es von den UN-Offiziellen und insbesondere vom Generalsekretär Kofi Annan persönlich sehr positiv aufgenommen. Auch weil es sich um ein offenes, nichtkommerzielles Projekt handelt, welches den Regierungen in Entwicklungs- und Schwellenländern einen funktionstüchtigen Laptop zu Gestehungspreisen verkaufen will, welcher dann in den Schulen an die Kinder verteilt werden soll. Ein Laptop pro Kind. Robuste Computer, betrieben mit der offenen Software Linux, die wenig Energie verbrauchen und sich mit einer Handkurbel aufladen lassen. Und sie müssen zu einem Preis hergestellt werden können, welcher für die Regierungen der ärmsten Länder noch bezahlbar ist. Die Vorgabe lautete: hundert Dollar pro Laptop, und die Wortführer der Computerindustrie sagten uns: Das ist unmöglich. Wir fragten uns: Wieso soll das nicht gehen? Die Hälfte der 2


Bild: Martin Mejia/AP/Keystone

Kosten eines modernen Laptops gehen auf das Konto von Verkauf, Marketing und Logistik sowie der Profitmargen von Herstellern und Händlern. All dies entfällt bei dem OLPC-Projekt. Bleiben die zweiten fünfzig Prozent der Kosten, die sich aufsplitten auf Display sowie Rechner, Speicherkapazität und Stromverwaltung. Technisch heraus­fordernd war dabei ohne Zweifel die Produktion eines kostenschonenden, funktionalen Displays, und es ist Professor Negroponte und dem Team des Media Lab tatsächlich gelungen, ein solches zu entwickeln. Auch Rechner und Stromverwaltung bargen weitere Tücken. Noch

vor wenigen Jahren verbrauchten handelsübliche Laptops rund drei Viertel ihrer Rechnerleistung zur Unterstützung aufgeblähter SoftwareAnwendungen sowie des Betriebssystems. Den Initianten der OLPC-Initiative war bewusst, dass sie nur mit einer rigiden Abmagerungskur zum Ziel kommen konnten. Das hiess Reduktion auf ein «schlankes» Linux-System und Verzicht auf alle weiteren technischen Möglichkeiten. Nur so kann es überhaupt möglich sein, unser grosses Ziel zu erreichen: eine Milliarde Laptops für eine Milliarde Schulkinder auf der ganzen Welt herzustellen.

One Laptop per Child: Frühstück in Arahuay, einem Dorf in den peruanischen Anden.

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Bei all unseren Aktivitäten gilt es, den ganz grossen Zusammenhang nie aus dem Blickfeld zu verlieren – die Armutsbekämpfung durch eine globale und computergestützte Bildungsoffensive. Dabei lassen wir uns von fünf Prinzipien leiten: 1 Jedes Kind besitzt seinen eigenen Laptop. Besitz bedeutet Verantwortung. Es bedeutet auch, dass es ein Low-Cost-Gerät sein muss, robust und benutzerfreundlich. Dies fördert die Interaktivität der Besitzenden und die Verbreitung und Vertiefung von Wissen bei allen am Projekt Beteiligten. 2 Kleines Kind erhält modernen Laptop. Je früher Kinder mit Technologie in Berührung kommen, desto selbstverständlicher wachsen sie damit auf. Sie werden in die Lage versetzt, Eltern und Grosseltern an die Möglichkeiten dieses Geräts heranzuführen und noch jüngere Kinder in der Benützung anzuleiten. 3 Alle Kinder sind gleich. Ein Kind mit einem Computer unter dem Arm verliert seine Exotik, und dies ist in etlichen, gerade armen Gegenden der Welt besonders wichtig. Alle werden sie auf diesem Wege Teil einer grossen Bewegung des Lernens. 4 Alle Kinder sind vernetzt. Wer vernetzt ist, profitiert vom Wissen aller am Netz Beteiligten. Das Netz ist global und kann die Kinder über alle kulturellen oder politischen Grenzen hinweg miteinander in Kontakt treten lassen. 5 Eine offene, zugängliche und wachsende Projektstruktur. Das Projektteam von OLPC in Cambridge/Massachusetts umfasst dreissig fest angestellte Personen. Insgesamt sind bis heute über 3 000 Menschen rund um den Globus an der Entwicklung von Basisanwendungen und Software des OLPC-Laptops beteiligt gewesen. Es werden immer mehr, denn die Entwicklung geht weiter.

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Noch kostet unser Computer das Doppelte der von uns angepeilten hundert Dollar pro Stück. Jede neue Generation wird jedoch billiger werden, und dies ist auch absolut notwendig. Denn für viele der ärmsten Länder der Welt sind hundert Dollar genauso unerschwinglich, wie es zweihundert sind oder vielleicht auch fünfzig. Deshalb passen wir unser Distributionsmodell auch laufend an: Nicht mehr nur die Regierungen einzelner Länder sollen als Käufer in Frage kommen, sondern beispielsweise auch wohlhabende Nationen dazu motiviert werden, ärmere beim Kauf von Laptops zu unterstützen. Der amerikanische Kongress oder das Parlament der Europäischen Union (EU) wären ohne Probleme in der Lage, Gelder zu bewilligen, um in einem Entwicklungsland jedem Kind einen Laptop zu schenken. Ein anderes Modell ist jenes des «give one, get one», welches wir zusammen mit dem InternetVersandhaus Amazon entwickelt haben: Kauft eine Privatperson zwei Computer, geht einer an ein Kind in einem Entwicklungsland, und Amazon stellt uns hierfür ihr Vertriebsnetz unentgeltlich zur Verfügung. All dies hilft, damit das OLPC-Projekt wachsen kann. Ende 2008 existierten Projekte bereits in Uruguay, Peru, Äthiopien, Nigeria, Ghana, Ruanda, Haiti, Nepal, Afghanistan, Indien oder Sri Lanka. Die Regierung Perus hat sich verpflichtet, einer Million Kindern in den ärmsten Gegenden des Landes einen Laptop zu schenken, Ghana ist das erste Land der Sub-Sahara, welches Laptops aus dem eigenen Etat finanzieren kann, die Mongolei ist bereit, 10 000 Laptops für die Kinder im Land zu ordern. Mit zahlreichen anderen Regierungen ist OLPC im Gespräch, und es hat sich noch kein Politiker, Minister oder Staatspräsident gefunden, der nicht zugebilligt hätte, dass die OLPC-Initiative ein nachhaltiges und verantwortungsbewusstes Investment in unser aller Zukunft darstellen würde.

Nicholas Negroponte ist Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Mitbegründer des MIT Media Lab sowie der gemeinnützigen Initiative «One Laptop per Child» (OLPC).

Matthew Keller ist OLPC-Direktor für Europa, Middle East und Afrika.


Kredite für die Armen Es begann mit der Gründung der Grameen Bank in Bangladesch, welche Mikrokredite vergibt. Es ist eine Bank für Arme, welche Armen gehört und das System der Mikrokredite erfunden hat. Der nächste Schritt der Armutsbekämpfung ist das globale Sozialunternehmertum, schreibt Muhammad Yunus. Sufiya Begum hatte mir Mitte der 70er Jahre die Augen geöffnet. Die Bewohnerin des Bauerndorfes Jobra in Bangladesch war eine arbeitsame Frau, die im schlammigen Hinterhof ihres Hauses mit bemerkenswertem Geschick schöne und nützliche Bambusstühle fertigte, um ihre Familie durchzubringen. Trotz ihres Arbeitseinsatzes – ihr Mann war Taglöhner und erhielt, wenn er überhaupt Arbeit fand, ein paar Cent am Tag – war die Familie mausearm, und es bestand kaum Aussicht, dass sich dies ändern könnte. So wie Sufiya Begum ging es vielen in Bangladesch. Das Land war nach einem neunmonatigen Befreiungskrieg 1971 von Pakistan unabhängig geworden. Doch der Krieg, Naturkatastrophen, Hungersnöte und auch die Ölkrise 1973 hatten aus dem nun freien Land eine Nation in bitterer Armut gemacht. Erst meine Gespräche mit Sufiya Begum öffneten mir die Augen für die Ursachen, und diese Erkenntnis stand am Beginn des Weges aus der Armut. Wie viele andere Dorfbewohner auch war Sufiya auf den örtlichen Geldverleiher angewiesen, und der gab ihr nur Kredit, wenn sie einwilligte, diesem sämtliche von ihr gefertigten Stühle zu einem von ihm festgelegten Preis zu verkaufen. Eine unfaire Vereinbarung und Wucherzinsen für das Darlehen führten dazu, dass Sufiya bei allem Arbeitseinsatz ein Einkommen von lächerlichen zwei Pence im Tag blieb. Ich beschloss, eine Liste aller Opfer der Geldverleiher in Jobra anfertigen zu lassen: Am Schluss hatte ich 42 Namen beisammen, die Kreditsumme belief sich auf 856 Taka – nicht

einmal 27 Dollar. 27 Dollar reichten also aus, um 42 Menschen und ihre Familien aus der Armutsfalle zu befreien. Wenn es also gelingen könnte, die Ärmsten der Armen kreditwürdig zu machen, so sagte ich mir, existierte plötzlich ein Weg, diesen ein selbst bestimmtes Leben zu ermöglichen. Ich war freilich scheinbar der Einzige, der dies so sah. Banker, mit denen ich über diese Idee sprach, winkten höflich ab, doch mich liess sie nicht mehr los. Ich bot einer Bank an, für die Kleinkredite an die Armen persönlich zu bürgen – die Bank lieh das Geld also im Grunde genommen mir, und ich wollte es dann an die Dorfbewohner weitergeben. Auf diesen Plan liessen sich die Banker ein, und das Resultat war verblüffend: Die Armen zahlten die Kredite ohne Ausnahme und pünktlich zurück. Eine eigene Bank, die Kredite für Arme sprechen konnte, das schien plötzlich eine realisierbare Vision zu sein. Wir gründeten im Jahre 1983 eine Bank für die Armen und nannten sie Grameen Bank, was so viel bedeutet wie «Dorf-Bank». Heute zählt unsere Bank 7,5 Millionen Kreditkunden und mehr als 2 500 Filialen im ganzen Land. Über 97 Prozent unserer Ausleihungen gingen an Frauen, welche im islamischen Bangladesch nicht nur für die Kinder sorgen, sondern auch den Haushalt zusammenhalten. Wir haben eine Ausfallquote, welche unter einem Prozent liegt. Unser System der Mikrokredite funktioniert ohne Kontrolle, ohne Garantien, ohne Rechtsanwälte. Es funktioniert, weil wir uns auf die ursprüngliche BeResponsible Wealth Review – Vol. 2

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deutung des Wortes «Kredit» rückbesonnen haben: Kredite zu vergeben, ist Vertrauenssache. Wir kennen unsere Kunden und die Betriebe, in denen sie arbeiten. Unsere Kunden zahlen Zinsen, und das ist auch ganz wichtig. Würden wir das Geld für null Zinsen an die Armen verteilen, würden sie dies als Almosen taxieren und nicht als Starthilfe in ein selbst bestimmtes Leben. Die Grameen Bank macht Profit und zahlt Dividenden, wie jede andere Bank auch. Der einzige, aber entscheidende Unterschied ist, dass die Bank den armen Leuten gehört, für die sie arbeitet. Es wurde uns aber klar, dass es nicht genügte, den Armen Finanzdienstleistungen anzubieten. Wir erkannten, dass wir auch eine soziale Agenda formulieren mussten. Keine der Frauen, die ein Darlehen bei der Grameen Bank aufnimmt, ist auf sich allein gestellt. Jede Kreditnehmerin gehört zu einer Gruppe von fünf von ihr selbst ausgewählten Freundinnen, zwischen denen kein enges Verwandtschaftsverhältnis bestehen darf. Wenn eine der fünf Freundinnen einen Kredit aufnehmen möchte, braucht sie dafür die Zustimmung der übrigen vier. Obwohl jede Kreditgeberin selbst für ihr Darlehen verantwortlich ist, funktioniert die Gruppe wie ein kleines soziales Netzwerk, dessen Mitglieder sich gegenseitig unterstützen. Auch diese fünfköpfige Zelle ist nicht auf sich allein gestellt. Jeweils zehn bis zwölf solcher Gruppen kommen einmal pro Woche in einem Zentrum zusammen. Im ganzen Land existieren mittlerweile mehr als 130 000 solcher Zentren, in denen jeweils 50 bis 60 Grameen-Mitglieder betreut werden. In der wöchentlichen Versammlung zieht ein Mitarbeiter der lokalen Bankfiliale die Kreditraten ein und nimmt neue Kreditanträge entgegen. Der Erfolg ermutigte uns, die Aktivitäten der Bank auszuweiten. Im Jahre 1984 beganResponsible Wealth Review – Vol. 2

nen wir Wohnbaukredite anzubieten, und inzwischen sind dadurch in Bangladesch 650 000 Häuser gebaut worden. Wir schufen individuelle Sparpläne für unsere Kunden, um ihnen Rücklagen für Krisenzeiten zu ermöglichen. Wir vergeben inzwischen Ausbildungskredite, die es derzeit 32 000 Studenten ermöglicht, sich in unterschiedlichsten Schulen ein Fundament an Bildung zu erarbeiten. Es werden immer mehr Anträge auf Ausbildungskredite gestellt, und so wächst in Bangladesch langsam eine neue, professionell präparierte Generation heran, welche ihre Ausbildungskredite zurückzahlen kann, sobald die Ausbildung abgeschlossen ist. Wir wissen alle, dass Geld wichtig ist – das einzige Problem der Armen war es, dass keine Einrichtung existierte, die ihnen diesen Stoff für das Wirtschaften zur Verfügung stellen wollte. Mit der Vergabe von Mikrokrediten war dieses ökonomische Problem auf vernünftige Art und Weise gelöst. Es ist aber auch klar, dass Mikrokredite allein die Armut nicht aus der Welt schaffen können. Aber sie legen ein stabiles Fundament, auf dem weitere Programme aufbauen können, damit all diese Aktivitäten dem grossen Ziel dienen: auf allen Ebenen noch bessere Ergebnisse bei der Armutsbekämpfung zu erzielen. Zu diesem Zweck haben wir inzwischen rund zwei Dutzend Firmen aufgebaut, welche zusammen die so genannte «Grameen-Unternehmensfamilie» bilden und das Konzept des Sozialunternehmertums begründet haben. Diese Unternehmen orientieren sich am Gemeinnutzen und an sozialer Produktion, arbeiten ansonsten aber nach strikt marktwirtschaftlichen Grundsätzen, die erwirtschafteten Gewinne fliessen in das Unternehmen zurück und werden zur weiteren Expansion oder der Verbilligung der Produkte eingesetzt. Dadurch wächst eine nachhalti-


ge unternehmerische Aktivität, da sie sich selber finanzieren kann und weder auf forciertes Wachstum noch auf staatliche oder private Spendengelder angewiesen ist. So besorgt beispielsweise das Dachunternehmen Grameen Uddog seit 1994 den Export handgewebter Textilien, Grameen Telecom bietet Telekommunikationsdienste für Arme an, Grameen Cybernet Internetdienste, Grameen Bitek stellt elektronische Produkte her, Grameen Health Care Services kümmert sich um die medizinische Versorgung der Armen, und Grameen Danone produziert hochwertige, erschwingliche Nahrungsmittel. Dies ist keine vollständige Auflistung der Grameen-Unternehmen, sondern eine Auswahl herausragender Beispiele für gelungene Engagements. Einige davon sind der Verwirklichung ihrer sozialen Ziele bereits einen gros­sen Schritt näher gekommen, andere haben noch einen weiten Weg vor sich. Einige haben gute finanzielle Ergebnisse vorzuweisen, andere suchen noch nach dem erfolgreichen Weg zur finanziellen Eigenständigkeit. Einige sind sehr aktiv und weiten ihre Tätigkeit rasch aus, andere sind weitgehend untätig. In diesem Sinne ähnelt die Gruppe der Grameen-Unternehmen vielen anderen Unternehmenskonglomeraten. In einer Hinsicht jedoch sind sämtliche Neugründungen ein Erfolg: Sie haben uns geholfen, das Konzept des Sozialunternehmertums immer weiter auszugestalten. Wo wir scheiterten, lag das meist daran, dass wir den Markt falsch eingeschätzt hatten oder nicht kostendeckend produzieren konnten. Wo wir erfolgreich waren, haben wir ein Bedürfnis des Marktes decken können. Dies ist eine wesent­ liche Voraussetzung für die Gestaltung eines erfolgreichen Sozialunternehmens. Wohin die Reise gehen kann, zeigt unser Joint Venture mit dem französischen Food-

Hersteller Danone. Anlässlich eines Meetings in Paris wurde ich Franck Riboud, dem Chairman des französischen Nahrungsmittelherstellers, vorgestellt. Er stellte viele Fragen zu Grameen, er wollte unbedingt verstehen, wie das funktioniert; ich stellte viele Fragen zu Danone, denn ich kannte die Firma nicht. Am Ende des Gesprächs schlug ich ihm ein Sozialgeschäft vor, und nun produziert Danone seit 2006 Joghurts für die unterernährten Kinder in Bangladesch. Wir verkaufen sie zu einem sehr tiefen, für die Armen erschwinglichen Preis, und wenn ein Kind während zehn Monaten wöchentlich zwei Becher Joghurt zu sich nimmt, erhält es so viele Nährstoffe, dass die Mangelerscheinungen verschwinden. Die Firma verdient kein Geld, wir zahlen keine Dividenden, aber die Investoren erhalten über die Zeit ihre Investitionen zurück. Im Moment sind wir mit Danone nur in Bangladesch aktiv, aber wir erhalten inzwischen Anfragen aus China, Indien, Brasilien. Sobald der Modellbetrieb in Bangladesch abgeschlossen ist, werden wir in weitere Länder expandieren. Dieser Ansatz des Sozialunternehmertums ist auch auf weitere Branchen übersetzbar. Diesen Pfad im Kampf gegen die Armut müssen und werden wir weiter beschreiten.

Muhammad Yunus ist Wirtschaftswissenschaftler aus Bangladesch, Gründer der Grameen Bank und Mitbegründer des Mikrofinanz-Gedankens. 2006 wurde er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

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Wertvolles Wasser Für Wasser existiert weder Preis noch Markt, schreibt Peter BrabeckLetmathe. Dies führt zu einer hemmungslosen Verschwendung. Um einen globalen Kollaps in der Wasserversorgung zu verhindern, braucht es volle Kostendeckung und eine Preisgestaltung, welche den finanziellen Möglichkeiten der Armen Rechnung trägt. Im Jahr 2003 brachte Frank Rijsberman, der damalige Chef des in Sri Lanka ansässigen International Water Management Institute, seine Bedenken zum Ausdruck: «Wenn die gegenwärtigen Trends anhalten, wird die Wasserknappheit bis 2025 die Lebensgrundlagen von einem Drittel der Weltbevölkerung beeinträchtigen. Dies könnte zu Ernteausfällen in einer Grössenordnung der Getreideernte der USA plus jener Indiens führen.» Diese Botschaft ist ungewöhnlich. Normalerweise wird Wasserknappheit mit Leitungswasser in Verbindung gebracht, aber Rijsberman sprach von Ernten. Die Dimension des angesprochenen Problems ist denn auch gewaltig: Zusammengenommen belaufen sich die Getreideernten der USA und Indiens auf 30 Prozent des weltweiten Getreidekonsums. Aber vermutlich kam die Botschaft zum falschen Zeitpunkt: 2003 fielen alte, von ihren Familien verlassene Menschen in Paris der Sommerhitze zum Opfer, und der Klimawandel beherrschte die öffentliche Debatte. Die Botschaft macht auch deutlich, dass das naturgemäss lokale Wasserproblem eine globale Dimension annehmen und sich selbst auf wasserreiche Länder wie die Schweiz auswirken kann.

Wasser: unterschiedliche Rolle, je nachdem, wann, wo und wie es bereitgestellt wird

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Wasser kennt keine Grenzen. In vielen Ländern sind die Leute angesichts riesiger Seen, Flüsse, Gletscher und endloser Ozeane über-

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zeugt, dass es sich um eine uneingeschränkt nutzbare Ressource handelt. Andere werden Ihnen erklären, dass jegliches entnommene Wasser als Teil eines ewigen Wasserzyklus erhalten bleibt: Es fällt als Regen, der die Flüsse füllt, die ins Meer fliessen, wo das Wasser verdunstet und als Regen zurückkehrt. Wie könnte es also jemals zu Wassermangel kommen? Niemand würde dieselbe Frage zur Energie stellen. Man akzeptiert, dass Energiemangel vielerorts eine Tatsache ist und ein beträchtliches globales Risiko für die Zukunft darstellt. Doch gemäss Energieerhaltungsgesetz besteht in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen Wasser und Energie. Das Gesetz besagt, dass die gesamte Energiemenge in einem System konstant bleibt. Energie geht durch den Verbrauch nicht verloren, sondern ändert nur ihre Form. Beispielsweise kann kinetische Energie zu thermischer Energie oder potenzieller Energie werden (das heisst aufgrund der Position von Objekten im Gravitationsfeld der Erde) und sich danach wieder in kinetische Energie umwandeln. Wie beim Wasser bleibt also die Energiemenge insgesamt gleich, da sie zirkuliert. Entscheidend bei der Energie wie auch beim Wasser ist die richtige Form, zum richtigen Zeit-

Sauberes Wasser: Grossvater mit Enkel beim traditionellen japanischen Wasserbad.


Bild: Kirchgessner/laif/Keystone

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Steigender Wasserverbrauch

(nach Sektoren, in Milliarden Kubikmetern) 3500 3000 2500

Landwirtschaft

2000 1500 1000

Industrie

500 0

Haushalt 1900

1925

1950

1975

2000

2025

Quelle: UNEP, 2002

1

2

Igor A. Shiklomanov, 1999, «World Water Resources and their Use: A Joint SHI/UNESCO product». OECD Checklist for Public Action; Paris, November 2008, S. 65.

40

punkt, am richtigen Ort. Es nützt wenig, wenn Russland in den Flüssen, die dem arktischen Ozean zufliessen, über riesige Wassermengen verfügt, aber die Zuflüsse des Aralsees infolge übermässiger Bewässerung der Anbauflächen zunehmend versiegen (Baumwolle und andere landwirtschaftliche Produkte). Im Norden Russlands, wo es reichlich Wasser gibt, ist es zu kalt (und wahrscheinlich zu wenig sonnig), um Nahrungsmittel anzubauen. Politiker sprechen deshalb manchmal von riesigen transkontinentalen Kanalprojekten – Unterfangen mit derart hohen Investitionen, Unterhaltskosten und Wasserverlusten, dass die «Lösung» oftmals schlimmer als das Problem wäre. Wasser muss wie Energie zum richtigen Zeitpunkt bereitgestellt werden. Obwohl der jährliche Niederschlag in Ländern mit Monsunzeit (rund 60 Prozent der Erdbevölkerung) ausgiebig sein kann, konzentriert er sich auf einen oder zwei Monate des Jahres und ist nicht verfügbar, wenn sich die Pflanzen im Wachstum befinden. Ohne angemessene Wasserspeicher fliesst das Regenwasser des Monsuns oberflächlich ab.

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Wassermangel: heute schon eine Realität

Wassermangel ist für viele Menschen heute schon eine Realität. Das zeigt sich unter anderem an Flüssen, die das Meer nicht mehr erreichen, oder an einem verborgenen Grundwasserspiegel, der mit alarmierender Geschwindigkeit zurückgeht – in Teilen von Bangladesch beispielsweise auf ein Niveau, bei dem die Entnahme infolge des hohen natürlichen Zyanidgehalts im Tiefengestein gefährlich wird. Auch in den Industrieländern nehmen die Probleme der städtischen Trinkwasserversorgung zu. In einer breit angelegten Studie ermittelte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) den Investitionsaufwand zur Aufrechterhaltung und Anpassung der Wasserverteilungsinfrastruktur in 34 Ländern – davon sechs Schwellenländer. Der Studie zufolge werden bis 2025 jedes Jahr schätzungsweise 1 040 Milliarden Dollar benötigt, doch die gegenwärtigen Ausgaben belaufen sich auf weniger als 580 Milliarden. Rund 10 Prozent des weltweiten Süsswasserverbrauchs entfallen auf Haushalte, Tendenz rasant steigend. 20 Prozent sind für die Industrie bestimmt, mehr als die Hälfte davon für die Kühlung von Kraftwerken. Die wahre Gefahr im Zusammenhang mit Wasser liegt jedoch in der Landwirtschaft. Rund 70 Prozent des derzeitigen Süsswasserverbrauchs entfallen auf den Anbau von Nahrungsmitteln und anderen Agrarprodukten. Nach einer anderen Messmethode, die berücksichtigt, dass einige Sektoren sauberes und wieder aufbereitetes Brauchwasser an die Flüsse und das Grundwasser zurückgeben, entfallen über 90 Prozent des Wasserverbrauchs auf die Landwirtschaft.1 Die von der Landwirtschaft benötigten Wassermengen sind enorm und müssen in der Nähe der Anbauflächen und genau zum Zeitpunkt des Pflanzenwachstums verfügbar sein.


Durstige Amerikaner

(durchschnittlicher Wasserverbrauch in Litern pro Person und Tag, 1998–2002)

600 USA 550

Der Grundsatz, dass ein Liter Wasser nicht einfach ein Liter ist, sondern, je nachdem, wann, wo und wie er für den menschlichen Verbrauch bereitgestellt wird, einen unterschiedlichen Wert hat, gilt auch für Flaschenwasser. Wer sich etwa im Sommer zur Chinesischen Mauer begibt, wird im Schatten eines Wachturms unvermittelt einen Verkäufer von Flaschenwasser erkennen – eine sichere und effiziente Quelle der Rehydratation. Vielleicht bietet er auch Süssgetränke an, aber Mineralwasser ist für diesen Zweck am besten geeignet. Der Preis dürfte relativ hoch sein, denn neben der Logistik des Wasserlieferanten, der das Tal mit Flaschen beliefert, musste der Wasserverkäufer die Flaschen bis zur Mauer hochtragen. Der grösste Teil des Preises, den man bezahlt, entfällt deshalb nicht auf das Wasser an sich, sondern auf die Dienstleistung, das heisst auf Wasser in der richtigen Form, am richtigen Ort und zum richtigen Zeitpunkt. Manche Hobbyökonomen, die den Preis, den man für dieses Flaschenwasser bezahlt, mit den Kosten für Leitungswasser vergleichen, beklagen diesen Unterschied und reden von übermässigen Margen. Aber es gilt, einige bedeutende Vorteile von Flaschenwasser zu bedenken. Zunächst einmal fallen im Gegensatz zu den meisten Leitungswassersystemen keine Subventionen an. Die Infrastruktur zur Bereitstellung des Wassers vor Ort wird vollumfänglich vom Preis gedeckt, den die Verbraucher entrichten. Dann gibt es den Wettbewerb, der übermässige Margen unmöglich macht; gemeint ist der Wettbewerb zwischen einzelnen Wasserunternehmen und jener zwischen den Wasserverkäufern an der Chinesischen Mauer. Normalerweise besteht zwischen Flaschenwasser und Leitungswasser kein Wettbewerb – der weltweite Verbrauch von Leitungswasser für sämtliche Zwecke (einschliesslich

undichter Rohrleitungen der kommunalen Wasserversorgung) liegt in der Grössenordnung von 400 bis 600 Litern pro Kopf der Weltbevölkerung und Tag, während Flaschenwasser, auf der gleichen Basis gemessen, nicht mehr als vier oder fünf Fingerhut ausmacht. Aber jede Person hat die Möglichkeit, ins Tal abzusteigen, um ihren Durst am Wasserhahn einer Toilette zu stillen. Es ist eine Frage der freien Wahl.

Kommunale Wasserversorgung und Strassenverkäufer: Die einen zahlen, die anderen nicht, und wieder andere bezahlen viel mehr

In den meisten Fällen sind sowohl das kommunale Wasser als auch das Wasser für die Landwirtschaft noch weit von der Kostendeckung (Betrieb, Unterhalt, Kapital) entfernt. Die Qualität leidet, und die Wasserverbraucher verweigern die Zahlung. In einigen Städten Nigerias liegen die Zahlungen für Wasserdienstleistungen bei weniger als 10 Prozent der Betriebskosten.2 In grös­ seren Städten Boliviens kann der verrechnete Tarif zwar 80 Prozent der Betriebskosten erreichen, aber rund ein Drittel des Wassers wird nie bezahlt. Das bolivianische Cochabamba, bekannt geworden durch den so genannten Wasserkrieg, veranschaulicht diesen Punkt. Vor Ausbruch des Konflikts waren nur die Bessergestellten – weniger als 60 Prozent der Stadtbevölkerung – ans kommunale Röhrennetz angeschlossen. Der von ihnen bezahlte Wassertarif – 0,1 Dollar pro Kubikmeter – deckte nicht einmal die Unterhaltskosten. Die Folge waren häufige Unterbrüche in der Wasserversorgung, 43 Prozent Verluste durch Lecke in den Leitungen sowie weit verbreitete Korruption und Erpressung. Gleichzeitig mussten 40 Prozent der Bevölkerung, das heisst die Ärmsten ohne Zugang zum Stadtwasser, für Wasser von Tanklastern schätzungsweise vier Dollar pro Kubikmeter bezahlen. Dies entsprach dem vierzigfachen Preis.

500

Australien

450

400

350

Italien Japan Mexiko

Spanien 300

Norwegen Frankreich

250

200

150

Österreich

Dänemark Deutschland Brasilien Peru Philippinen England Indien

100 China 50

0

Wasserarmutsgrenze

Flaschenwasser: ein interessanter Fall, aber nicht Teil des Problems

Bangladesch Nigeria Niger Kambodscha Haiti

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41


3

UNDP, Human Development Report 2006; New York 2006, S. 99. 4 Geraldine Dalton, private sector finance for water sector infrastructure; Water Issues Study Group, School of Oriental and African Studies der Universität London; Occasional Paper No 37; London, September 2001. 5 Jean Friedmann-Rudofky, Return to Cochabamba: eight years later; Earth Island Journal Autumn 2008. 6 http://www.transparency.org/ publications/gcr/download_ gcr#6 S. 44 7 http://www.transparency.org/ publications/gcr/download_ gcr#6 S. 45

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Das Muster ist ziemlich typisch. Leitungswasser wird in verschiedenster Form subventioniert. Diese Subventionen erweisen sich meistens als Vorteil für die Reichen, denn degressive Tarife machen das Füllen eines Swimmingpools viel billiger. Wie der UNDP Human Development Report 2006 aufzeigt, gehen in Bangalore und Kathmandu 30 bis 35 Prozent der Wassersubventionen an die wohlhabendsten 20 Prozent der Bevölkerung und weniger als 10 Prozent an die ärmsten 20 Prozent. Sowohl in den Industrieländern als auch in den Entwicklungsländern decken die Wassertarife nicht einmal die aktuellen Betriebs- und Unterhaltskosten. In Chile mit seiner liberalisierten Wirtschaft enden nur rund 2 Prozent der Wassersubventionen bei den reichsten 20 Prozent der Bevölkerung, während über 35 Prozent die ärmsten 20 Prozent erreichen. 3 Weil man in Cochabamba mit einer Zunahme der Einwohnerzahl von 600 000 zu Beginn des Jahrzehnts auf 3,3 Millionen im Jahr 2025 rechnete, wurde ein privates Unternehmen damit beauftragt, die Infrastruktur für den zukünftigen Wasserbedarf zu entwickeln, die Verluste durch Auslaufen einzudämmen und die hohe Verschuldung abzubauen, welche die kommunale Wasserversorgung unter staatlicher Kontrolle angehäuft hatte. Um die Auflagen zu erfüllen, waren erhebliche Tariferhöhungen nötig (auf 0,25 Dollar pro Kubikmeter für die ärmsten 42 Prozent der Bevölkerung, auf 0,4 Dollar pro Kubikmeter für 38 Prozent der Bevölkerung mit mittlerem Einkommen und auf 0,71 Dollar pro Kubikmeter für die wohlhabendsten 20 Prozent).4 Diese wahrscheinlich zu schnell vorgenommenen Tariferhöhungen führten zu schweren Unruhen, die von Erfolg gekrönt waren, da der Privatsektor das Feld räumen musste. Seither ist die Stadt zum Symbol für all jene geworden, die gegen Privatinitiative und Marktmechanismen in der Wasserversorgung kämpfen. Im «Earth Island

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Journal» werden die heutigen Zustände in Co­ chabamba wie folgt beschrieben: «‹Nach acht Jahren hat die Korruption wieder ein unerträgliches Ausmass erreicht›, räumt Camargo von der SEMAPA ein (SEMAPA ist die staatliche Wassergesellschaft). Auch das Leistungsangebot hat sich kaum verbessert. Das Versorgungsgebiet der SEMAPA wurde zwar vergrössert, aber deswegen gelangt nicht täglich Wasser an alle Anschlüsse. In der armen Zona Sur sind nach wie vor nur zwei von sechs Stadtbezirken an das SEMAPA-Netz angeschlossen. Für jene, die den Wasserkrieg führten, hat sich dieser Rückschritt als Alptraum erwiesen – der in absehbarer Zeit kein Ende finden dürfte.»5 Transparency International hat das Thema noch umfassender untersucht: «Der fehlende Zugang zum öffentlichen Wassernetz beraubt die Armen der Wasserquelle, die normalerweise am billigsten ist. Um die Lücke zu füllen, nutzen die Armen öffentliche Standrohre oder Lieferanten wie NGOs und informelle Wasserverkäufer. Sehr oft operieren diese alternativen Lieferanten in einer rechtlichen Grauzone. Ihre Unternehmen sind von den Behörden nicht ausreichend anerkannt, unreguliert und vom informellen Zugang zu grossvolumigen Wasserressourcen abhängig. Da sie ausserhalb des gesetzlichen Rahmens operieren, können informelle Anbieter für den Wasserzugang höhere Preise als die öffentlichen Versorger verlangen. Aus diesen Umständen ergibt sich eine bittere Ironie: Die armen Bewohner von Elendsvierteln, die nicht ans Wassernetz angeschlossen sind, bezahlen häufig mehr als angeschlossene Verbraucher. In Jakarta, Lima, Manila und Nairobi bezahlen die Armen fünfbis zehnmal mehr für Wasser als ihre wohlhabenden Mitbürger. In Manila decken Bewohner ohne Wasseranschluss ihren Bedarf über Kioske, Strassenverkäufer und Tankwagen zu einem Preis von 10 bis 20 Dollar pro Monat. Dies ist


mehr, als die Bewohner von New York, London und Rom für Wasser bezahlen.»6 Länderstudien zeigen anschaulich, wie die Korruption die Erbringung von Wasserleistungen behindert. In Guatemala erklärten mehr als 15 Prozent der Befragten in einer landesweiten Haushaltsumfrage, für den Anschluss oder Wiederanschluss ans Wassernetz Schmiergeld zu bezahlen. Erpressung bei der Reparatur und Wartung ist ebenfalls üblich. In Bangladesch und Ecuador machen private Anbieter, Kartelle oder sogar Wassermafias mit den öffentlichen Wasserbehörden gemeinsame Sache, um einen Ausbau des Netzes zu verhindern oder Systemstörungen zu verursachen. In Mauretanien bezahlen die Aufseher von «Standposten» (z.B. Wasserpunkte) nachweislich Bestechungsgelder, um sich einen dieser begehrten öffentlichen Arbeitsplätze zu sichern, alles immer gemäss Transparency International.

Die wichtigste Alternative zu Preisen für die Zuteilung und Neuzuteilung, insbesondere in Zeiten der Verknappung, wäre die Wasserrationierung. Für Transparency International steht ausser Zweifel, dass die Korruption dadurch zusätzlich erblühen würde: «Wie in den meisten öffentlichen Sektoren beeinträchtigt die politische Korruption auch die Wasserleistung. Verschiedene Formen von Korruption können zur politischen Vereinnahmung führen und so die Projektauswahl beeinflussen. Politiker können bestochen werden, um Ressourcen von der Verbesserung der ländlichen Wasserversorgung abzuzweigen und stattdessen in städtischen Gebieten einzusetzen, in denen ihre einflussreichsten Wähler leben.»7 Ein abschliessender Punkt: Die Industrie bezahlt normalerweise einen viel höheren Preis als Haushalte und Bewässerer. Laut OECD weist die Tarifstruktur häufig eine sehr hohe Quersubven-

Wertvolles Wasser: Zillergrund im Tirol.

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tion zwischen Industrie- und Haushaltsverbrauchern auf.8

Wasser zur Bewässerung

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In Bezug auf die Wasserversorgung der Landwirtschaft ist die Situation ähnlich. Die Infrastruktur9 ist staatlich subventioniert, und in den meisten Fällen decken die Tarife nicht einmal die Betriebs- und Unterhaltskosten. In einigen Regionen Indiens sind das Grundwasser sowie die Elektrizität für Pumpen kostenlos. In Taiwan, Thailand, Polen, Kroatien, Vietnam, China und Pakistan werden den Landwirten bis 10 Prozent der Betriebs- und Unterhaltskosten verrechnet; in Argentinien, Indien, Ägypten und Kenia können es 10 bis 20 Prozent sein.10 Die volumetrische Preisfestsetzung ist nur im Mittleren Osten, in Iran, Teilen der USA und Mexikos sowie in Australien üblich (mehr dazu später). In vielen Fällen wird der Preis für eine bestimmte Menge und nicht individuell festgesetzt. Am weitesten verbreitet ist eine flächenabhängige Wassergebühr, wobei oftmals ein Tarif pro Quadratmeter bewässertes Land verrechnet wird. Deshalb zögern die Landwirte nicht, möglichst viel Wasser zu verbrauchen. Daraus ergibt sich eine massive Übernutzung der Wasser­ ressourcen, da Anreize für einen effizienten Verbrauch fehlen. Schätzungen zufolge könnten 40 bis 70 Prozent des landwirtschaftlich genutzten Wassers durch den Einsatz bestehender Technologien (z.B. Tropfenbewässerung) eingespart werden. Eine weitere Folge des kostenlosen Wasserbezugs ist der Anbau für Biotreibstoffe. Einer Faustregel zufolge braucht es einen Liter Wasser, um über Pflanzen eine Kalorie zu produzieren, unabhängig davon, ob sie dann für menschliche Ernährung oder als Biotreibstoff für den Fahrzeugantrieb verwendet wird. Doch in Kalorien gemessen ist der Energiemarkt rund 20-mal Responsible Wealth Review – Vol. 2

g­ rösser als der Nahrungsmittelmarkt; der Ersatz von 5 bis 6 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs durch Biotreibstoffe würde die Wasserentnahme für die Landwirtschaft auf einen Schlag verdoppeln. Und angesichts der Unterstützung und Subventionierung von Biotreibstoffen in mindestens 20 Staaten – mit Wasser, das praktisch nichts kostet – dürfte der Wasserverbrauch zum Anbau von Pflanzen für diese Treibstoffe rasch bedrohliche Ausmasse annehmen.

Ein Marktpreis für Wasser

Welche Ziele könnten mit einheitlichen Wasserpreisen erreicht werden? Zunächst einmal geht es um die Gerechtigkeit. Dazu Nancy Birsdall, Leiterin des Center for Global Development: «Wasser braucht einen Preis. Wo der Preis fehlt, bekommen es die Reichen umsonst, und die Armen zahlen zu viel.»11 Gleichzeitig gibt es auch sehr praktische Gründe: Ein angemessener Tarif könnte helfen, finanzielle Mittel für den Unterhalt und wo nötig für den Ausbau der Wasserversorgung zu mobilisieren. Ein weiteres Ziel bestünde zweifellos in der Förderung des Bewusstseins, dass Wasser einen Wert hat, der irgendwie auch seine relative Knappheit widerspiegelt. Der Preis könnte als Anreiz für mehr Nachhaltigkeit, sorgfältigeren Umgang und effizientere Zuteilung dienen. In den 80er Jahren wurde in Aus­ tralien eine umfassende Reform des Wassermanagements in Angriff genommen. Es entstanden Wassermärkte, und zwar nicht nur unter Landwirten, sondern auch zwischen ländlichen und städtischen Verbrauchern. In der Folge ging Australiens Wasserverbrauch pro Hektar zwischen 1990/92 und 2001/03 um die Hälfte zurück.12 Im gleichen Zeitraum nahm der Wert von Wassernutzungsrechten deutlich zu. Die Preisfestsetzung darf aber nicht isoliert erfolgen. Es gilt auch den politischen, ethischen und sogar spirituellen Dimensionen von Wasser


Rechnung zu tragen. Wir benötigen Ausnahmen für die Ärmsten (aber keine Subventionen für die Wohlhabenden); zudem müssen Wasserressourcen für den Umweltschutz bereitgestellt werden (Feuchtgebiete und Lebensräume für Wildtiere). Handelbarkeit und Märkte wie in Australien scheinen von zentraler Bedeutung zu sein. Administrierte Preise und Tarife bergen ein Risiko: Jedes «Cost plus»-System reduziert den Anreiz für eine effiziente Wasserverteilung, und wo Wassergesellschaften darauf bestehen, das Wasser nicht zu «besitzen», sind enorme Verluste durch Lecks in den Rohren nicht verwunderlich. Die grösste Opposition gegen Wasserpreise ist ideologischer Natur. Ein Zitat der indischen Ökofeministin Vandana Shiva: «Die Vorstellung, dass die Kontrolle und Verteilung von sowie der Zugang zu einer knappen und lebenswichtigen Ressource wie Wasser dem Markt überlassen werden kann – und dass der Markt einen angemessenen Preis zuordnet, der den wahren Wert des Wassers widerspiegelt –, ist absurd und verantwortungslos.»13 Offensichtlich hat sie ihre eigenen – eher urbanen – Informationen und Interessen zur Materie.14 Die Landwirte in Oman sind anderer Meinung. Sie zeigen, dass der australische Ansatz nicht ganz so neu und zudem nachhaltig ist: Ihr System, das so genannte «Aflaj» mit handelbaren Wasserrechten, ist über 4 500 Jahre alt und funktioniert noch immer – unter sehr schwierigen klimatischen Bedingungen. Zunächst zur vollen Kostendeckung: Die Landwirte bauen das Bewässerungssystem eigenständig auf. Ohne Pumpen wird das Wasser über viele Kilometer (der längste Kanal misst 17 Kilometer) von unterirdischen Quellen (bis zu 20 Meter tiefe Schächte) oder Brunnen in die nahen Berge kanalisiert, für die landwirtschaftliche und häusliche Nutzung. Die Eigentümer der Wasserrechte sorgen auch für den Unterhalt des Systems.

Hat das Wasser das Dorf erreicht, kann es von allen Bewohnern, Gästen und Reisenden kostenlos als Trinkwasser genutzt werden. Der Kanal verläuft dann bis zur Moschee, denn das Wasser steht auch für zeremonielle Waschungen kostenlos zur Verfügung. Einiges davon wird zudem einbehalten und zur Finanzierung der Moschee und der Schule verkauft. Danach wird das Wasser Privateigentum und kann in Form von festen Anteilen tage-, stunden- oder minutenweise zur Bewässerung genutzt werden. Die Rechte sind vererbt und, noch wichtiger, handelbar. Teile der Wasserrechte können innerhalb der Dorfgemeinschaft verkauft und gekauft oder gepachtet werden. An Auktionen, die manchmal jede Woche stattfinden, tauschen die Landwirte diese Rechte aus. Benötigt ein Landwirt vorübergehend kein Wasser, kann er dieses an einen anderen Landwirt verpachten, der über zusätzliche Anbauflächen verfügt. Wenn ein Landwirt in ein effizienteres Bewässerungssystem investieren will, kann er diese Investition über den definitiven Verkauf von Wasserrechten finanzieren. So erhält das Wasser einen Marktpreis, der von denen gesetzt wird, die sich am besten auskennen – den Landwirten. An Aflaj lässt sich auch die Heterogenität von Wasser veranschaulichen (zur richtigen Zeit, in der richtigen Form, am richtigen Ort). Der Preis des «Aflaj»-Wassers schwankt von Saison zu Saison (mit Unterschieden von bis 1 :10). Er variiert je nach Wasserverfügbarkeit und Anbautypen an den einzelnen Standorten. Im Laufe eines Jahres und in jeder einzelnen Periode wird der Wasserpreis durch den Wettbewerb der Landwirte um Wasser, Wassereffizienz und Marktpreise für Erzeugnisse aus bewässertem Anbau bestimmt. Interessant an der Komplexität des Wassers ist, dass es auch negative Preise geben kann. Mehrere Studien aus Japan und Korea belegen die positiven Externalitäten des Reisanbaus. Be-

8 COM/ENV/EPOC/DCD/ DAC(2008)4 9 Im Laufe der Jahre sind diese Subventionen sowohl auf Projektebene als auch kumulativ deutlich gestiegen. Ein Beispiel ist das Tualatin-Bewässerungsprojekt im US-Bundesstaat Oregon, dessen Baukosten sich auf insgesamt USD 58,7 Millionen beliefen. Als das Wasser 1976 für die Landwirte nutzbar wurde, konnten diese laut Experten von den der Bewässerung zugeordneten Baukosten in Höhe von USD 31,5 Millionen nur USD 5,9 Millionen zurückzahlen. Die Rückzahlung der restlichen USD 25,6 Millionen (81 Prozent der verrechneten Kosten) wurde anderen Verbrauchern zugerechnet, insbesondere kommerziellen Verbrauchern des Stroms, der durch das Projekt erzeugt wurde. 10 F. Molle; J. Berkoff. 11 www.the-world-around-water. net 12 OECD COM/TAD/CA/ENV/EPOC/ RD(2008)15; S. 9. 13 http://www.economist.com/ debate/days/view/215 14 In Delhi, wo Vandana Shiva lebt, machen die verrechneten Tarife und die effektiven Einnahmen weniger als 42 Prozent der Betriebskosten aus. Die Stadt wendet ausserdem fast das Dreifache ihrer Einnahmen für Kapitalinvestitionen auf. Einwohner, die sich eine Zahlung leisten könnten, werden subventioniert. Jene, die weiterhin nicht an das Leitungsnetz angeschlossen sind – in Delhi 16 Prozent der Armen (Express India 21. Juli 2008; http://www.expressindia. com/latest-news/delhi-shrinking/338319/ ) –, beziehen ihr Wasser wie in anderen armen Ländern von Strassenhändlern. Im Übrigen erklärte sich ihr «Free Market»-Gegner in der Economist-Debatte gleich zu Beginn als «vehementer Gegner von Flaschenwasser».

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sonders bedeutend: die Hochwasserminderung, in Korea beispielsweise dank 16 000 kleiner Bewässerungsweiher und des Speichervermögens der eingegrenzten Reisfelder.15 Deshalb und aufgrund marktwirtschaftlicher Logik sollten die Landwirte in Überschwemmungszeiten für diese Leistungen entschädigt werden, anstatt für entnommenes Wasser (über die Kostendeckung hinaus) bezahlen zu müssen. Ein weiterer positiver Beitrag ist die Grundwasserneubildung (bis zu 80 Prozent des Oberflächenabflusses).

Wasser als Menschenrecht: besondere Vorkehrungen für die Armen

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Wasser ist unbestreitbar ein Menschenrecht. Wo es ein Recht auf Leben gibt, existiert auch ein Recht auf Wasser. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist unter anderem auch festgehalten, wo sich der Staat nicht in das Leben der Bürger einmischen soll. Das Recht auf Wasser ist jedoch anders geartet: Es beschreibt die Verpflichtung des Staates, die Verfügbarkeit von Wasser sicherzustellen, das heisst, einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der die Erschöpfung der Reserven verhindert. Aus dem Menschenrecht auf Wasser lässt sich deshalb nicht ableiten, dass Wasser ein kostenloses Gut ist. Ganz im Gegenteil: Die Behörden können zu dem Schluss gelangen, dass die volle Verrechnung von Wasserleistungen für diejenigen, die es sich leisten können, zu den Instrumenten gehört, mit denen die Ziele erreicht werden. Subventionen und andere Transferzahlungen sind notwendig, um beispielsweise sicherzustellen, dass Wasser für die Ärmsten erschwinglich bleibt. Dies kann etwa durch garantierte Mindestmengen (Südafrika) oder mit Coupons (in Singapur, kombiniert für Wasser und Strom) geschehen. Doch die volle Kostendeckung sollte nicht durch eine präventive poli-

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tische Korrektheit unterminiert werden, so zum Beispiel, wenn die OECD von «nachhaltiger Kostendeckung» mit drei gleichwertigen «Pfeilern» spricht: Tarife, Steuergelder und Transferzahlungen (meistens finanzielle Unterstützung für Entwicklungsländer). Förderungsmassnahmen sollten zeitlich begrenzt sein und sicherstellen, dass weiterhin Anreize zum Wassersparen bestehen. Im indischen Pandschab beispielsweise, wo die Elektrizität für die Bewässerungspumpen kostenlos ist, gibt es Pläne, denen zufolge die Regierung im Voraus einen den Energie­ kosten entsprechenden Betrag entrichtet und die Landwirte danach für den tatsächlichen Verbrauch bezahlen.

Preise für eine transparente Zuteilung: innerhalb eines Einzugsgebiets, als virtuelles Wasser über Grenzen hinweg

Australien zeigt, dass Märkte und unverzerrte Preise in Zeiten der Verknappung eine effiziente Zuteilung oder Neuzuteilung begünstigen. Ohne Konflikte geht es nicht, aber weil das System transparent ist, sind alle über diese Konflikte informiert. Aber das ist mit Sicherheit kein Nachteil des Marktes. Das Gegenteil ist der Fall: In Südafrika haben sich die höheren Grenzkosten für entsalztes Süsswasser anscheinend auf die Standortwahl von wasserintensiven Industrien ausgewirkt – weg von der Küste. Hierzu gibt es auch eine globale Dimension. Realistische Tarife und ein intelligenter Preismechanismus für Brauchwasser (wie z.B. jener, der von Landwirten in Oman umgesetzt wurde) könnten die Grundlage für ein neues Konzept der komparativen Vorteile liefern, mit Land, Arbeitskräften und Wasser als Hauptfaktoren für eine weltweit effiziente Zuteilung der landwirtschaftlichen Produktion. Wie das Beispiel Oman zeigt, können Länder mit wenig Wasser auf diese


Mengenlenkung funktioniert nicht

1968 beschrieb der tschechoslowakische Wirtschaftsminister Ota Sik die Probleme einer Planwirtschaft, die den Preisen misstraut und stattdessen versucht, die Produktionsmengen zu lenken. Es ging konkret um Stahlblech, die Vor-

Bild: Keystone

Weise ebenfalls konkurrenzfähig landwirtschaftliche Erzeugnisse anbauen. Länder mit einer Landwirtschaft, die im Wesentlichen nicht künstlich bewässert wird und in deren Produkten Regenwasser eingeschlossen ist, erhielten einen Wert, obwohl für den Regen natürlich kein Preis bezahlt würde. In der Schweiz könnte die Landwirtschaft so an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen und zur Senkung der gewaltigen Subventionen beitragen. Effizienzgewinne dieser Art – einschliesslich bei Wasser – können selbstverständlich nur in einem globalen, offenen Markt erzielt werden. Aber in den letzten zwei Jahren hat sich eine neue Form von Bilateralismus ausgebreitet. Länder des Mittleren Ostens sowie Ägypten, China, Korea und Japan investieren in gros­se Landflächen im Ausland (Sub-Sahara-Afrika, Zentralasien, Laos, Burma usw.) – immer mit Fokus auf den Niederschlägen und/oder den damit verbundenen Wasseransprüchen. Weil Wasser kostenlos ist, schien sich niemand dafür zu interessieren. Wir sammelten Pressemeldungen zu diesen Transaktionen – allein über 100 für 2007/08. Bei rund 40 davon war die Transaktionsfläche publiziert – zusammengenommen entspricht das der doppelten Getreideanbaufläche Deutschlands. Auf der Basis von einer Ernte pro Jahr gerechnet, ergibt dies 55 bis 65 Kubikkilometer eingeschlossenes Süsswasser. Die Zwänge, die sich aus der Kontrolle des Wassers im Rahmen bilateraler Abkommen ergeben, drohen die bevorstehende Wasser-Nahrungsmittel-Krise zu verschlimmern.

gaben wurden in Tonnen gesetzt. Bald entdeckten die Fabrikmanager, wie sich die Vorgaben am einfachsten erreichen liessen: Man produziert die Bleche so dick wie möglich. Die Lenkung über die Produktionsmengen ist wieder «en vogue»: Ein niederländischer Professor entwickelte das Konzept des Wasserfussabdrucks von Gütern. Interessierte Leser erfahren dabei, dass eine Scheibe Weizenbrot 40 Litern Wasser entspricht, ein Apfel 70 Litern und ein Baumwollhemd 2 700 Litern.16 Der Fussabdruck liefert jedoch keine umsetzbaren Informationen, keine klaren Verantwortlichkeiten und keinen Bezugsrahmen für sinnvolle Entscheidungen. Laut OECD mangelt es den Wasserfussabdrücken an der konzeptionellen Grundlage und Breite, die zur Unterstützung politischer Analysen erforderlich ist.17 Es gibt zum Beispiel keinerlei Daten über den Wert dieses Wassers und somit keine brauchbare Basis für den Ver-

Ausnahmen für die Umwelt: Zebras bei der Wassertränke in Namibia.

15 James E. Nickum und Chisa Ogara; Asian Water and Resources Institute: Agricultural Water Pricing in Japan and Korea; OECD COM/TAD/CA/ENV/EPOC/ RD(2998)50; Paris, November 2008; S. 23. 16 http://www.waterfootprint.org/ 17 OECD COM/TAD/CA/ENV/EPOC/ RD(2008)55

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gleich von Wasser, das in einem in den USA angebauten Getreidekorn eingeschlossen ist, mit fossilem Wasser aus dem Ogallala-Aquifer oder einem Apfel, der aus einem nicht bewässerten Obstgarten irgendwo in der Schweiz stammt.

Bild: Keystone

Schlussfolgerung

Peter BrabeckLetmathe ist Chairman der Nestlé AG.

18 http://www.economist.com/ debate/overview/133

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Die Wasserprobleme sind gravierend und werden rasch dramatische Ausmasse annehmen, wenn sie von Politikern, Experten, Geschäftsleuten und Bürgern nicht ernst genommen werden. Wasser ist in zweierlei Hinsicht unschätzbar: als Grundlage des Lebens auf der Erde und weil es keinen Preis hat und von vielen als freies Gut betrachtet wird, das hemmungslos verschwendet werden kann. Eine Wasserkrise erscheint höchstwahrscheinlich – sofern sich die aktuellen Trends fortsetzen und, schlimmer noch, sofern sich die aktuellen Trends in Richtung Biotreibstoffe verstärken. Diese Wasserkrise – naturgemäss ein «Multilokal-Risiko» – wird ebenso globale Ausmasse annehmen wie die Nahrungsmittelkrise. Aber noch lässt sie sich vermeiden. Es ist genug Wasser vorhanden, wenn wir es umsichtig und effizient nutzen. Dies gilt auch dann, wenn die Menschen in den Entwicklungsländern etwas mehr wasserintensives Fleisch konsumieren. Es gibt Lösungen zur Überwindung der Wasserknappheit – keine Wunderwaffe, aber umfassende Massnahmen, die helfen können, das Problem erheblich zu reduzieren. Die Lösung umfasst unter anderem das Prinzip der vollen Kostendeckung – mit Ausnahmen für die Armen und die Natur – sowie ein intelligentes Preisgestaltungssystem, das womöglich von den Erfahrungen der Landwirte in Oman profitiert. Wasser ist zu komplex für kontrollierte Preise und eine kontrollierte Zuteilung von Mengen. Es gibt ein weiteres Risiko, eine weitere Nicht-Lösung: Wir leben in einem Informationszeitalter, in dem zusammen-

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gestückelte Projekte und symbolische Gesten eine zu grosse Bedeutung geniessen; Schritte, die keine wirksame praktische Lösung liefern, sondern als kühne Aussagen zum Problem zu verstehen sind. Regierung und Politik haben eine wichtige Rolle zu spielen. Ein erster Schritt wäre die Berichtigung von zuweilen eindimensionalen und eher kurzfristig orientierten Massnahmen, wie etwa der Unterstützung von Biotreibstoffen. Der Anbau von Pflanzen für die Umwandlung in Treibstoff erfordert grosse Mengen an Wasser, und das gilt auch für die zweite Generation Biotreibstoffe. Es müssen zwei Probleme gelöst werden: Finanzierung und eine effiziente Politik für die kommunale Wasserversorgung sowie Wasser für die Landwirtschaft. Volle Kostendeckung sowie vererbbare und handelbare Eigentumsrechte an Wasser, insbesondere in der Landwirtschaft, sind Teil der Lösung. Wasser ist wahrscheinlich zu komplex für ein rein mengenbezogenes Management, deshalb erscheinen Preise unverzichtbar. Administrierte Preise funktionieren nicht immer, sondern die direkt Betroffenen müssen den richtigen Preis finden – einen Preis, der sich unterscheidet, je nachdem, wann, wo und in welcher Form Wasser bereitgestellt wird. Es gibt viele Argumente und noch mehr Emotionen. Offenbar findet Vandana Shivas apodiktische und ideologische Ablehnung jeglicher Wasserpreise selbst in einer dem freien Markt wohlgesinnten Publikation wie dem «Economist» Gehör: 56 Prozent der Leserinnen und Leser stimmten in ihrem Sinne ab.18 Die Debatte muss deshalb weitergehen; die Wasserprobleme können und müssen auf umfassende Weise gelöst werden. Wir möchten die für 2025 prognostizierte Wasser- und Nahrungsmittelkrise vermeiden – sie würde Menschen in aller Welt treffen und am schlimmsten die armen.


Die Öko-Stadt in der Wüste Im Emirat Abu Dhabi entsteht Masdar City, die erste Stadt der Welt ohne Kohlendioxid-Emissionen, ohne Abfall, ohne Autos. Sie soll sich zum Silicon Valley im Zeitalter der sauberen Technologien entwickeln, schreibt Dr. Sultan Al Jaber. Im Januar 2008 gab die Regierung von Abu Dhabi Investitionen von 15 Milliarden Dollar in alternative Energien im Rahmen der so genannten Masdar-Initiative bekannt. Warum sollte ein OPEC-Staat mit riesigen Ölreserven seine Ressourcen in Kraftstoffbranchen investieren, die an der Vorherrschaft des Öls rütteln? Diese Frage höre ich als Vorsitzender von Masdar häufig. Mittlerweile haben wir alle die Notwendigkeit der Erschliessung alternativer Energiequellen erkannt. Die weltweite Nachfrage nach Energie wächst wesentlich schneller als der Nachschub an herkömmlichen Energien, und unsere Wirtschaft gilt mit der einzigen Säule Wasserkohlenstoff allgemein als nicht nachhaltig. Der Klimawandel wird weltweit noch viele Jahrzehnte auf allen Ebenen von Regierungen und Unternehmen auf der Tagesordnung stehen. Im April 2008 prognostizierte die Internationale Energie-Agentur, dass bis zum Jahr 2030 Investitionen in Höhe von 22 Billionen Dollar zur Erfüllung der weltweit schnell wachsenden Nachfrage nach Energie benötigt werden. Zwar gibt es einige ermutigende Beispiele bei der Förderung alternativer Energien auf der ganzen Welt, diese sind jedoch häufig unterfinanziert, haben nicht genug Unterstützung bei den Behörden und finden auch noch nicht genug Anerkennung. Der moralische Imperativ in Bezug auf Investitionen in erneuerbare Energien ist gross, aber die Regierungen sollten bei der Förderung alternativer Energieformen nicht die wirtschaftlichen Anreize vergessen. Der gesamte globale Markt der Kraftstoffzellen, Solar- und Windkraftanlagen so-

wie beim Biokraftstoff wird Prognosen zufolge von 39,2 Milliarden Dollar im Jahr 2005 auf 167 Milliarden im Jahr 2015 anwachsen. Das sind beeindruckende Zahlen. Gleiches gilt für die zu erwartenden Gewinne. Wir stehen an der Schwelle zu einer Zeit grosser Veränderungen. In dieser Epoche werden nur die ehrgeizigsten Projekte erfolgreich sein. Ray Andersen, Vorstandsvorsitzender von Interface Inc., hat dies wie folgt zusammengefasst: «Hier haben wir es mit einem Paradigmenwechsel zu tun, und bei einem Paradigmenwechsel gewinnen die Frühstarter, und die Frühstarter werden auch hier grosse Gewinne machen. Neue Technologien müssen noch erfunden werden, neue Vermögen warten darauf, verdient zu werden.» Wir leben also in spannenden Zeiten voller Visionen. Neue, innovative Energieformen sind Bestandteil umwälzender Veränderungen hin zu ökologischeren, belastbaren Wirtschaftsformen und spiegeln das Beste wider, was unsere Köpfe mit Kreativität erreichen können. Die vor uns liegende Aufgabe übersteigt jedoch die Möglichkeiten eines einzigen Unternehmens oder einer einzigen Regierung. Die Suche nach nachhaltigen Lösungen zur Erfüllung der zukünftigen Energie­ nachfrage ist eine globale Herausforderung, der nur global begegnet werden kann. In Abu Dhabi arbeiten wir über Masdar an einer globalen, kooperativen Plattform, auf der wir diese neue Energie für die ganze Welt entwickeln werden. Masdar ist auf dem Nährboden der Führungsrolle entstanden, die Abu Dhabi über ein halbes Jahrhundert hinweg im Bereich der EnerResponsible Wealth Review – Vol. 2

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gie innegehabt hat. Das Projekt ist die natürliche Umsetzung des Beitrags der Emirate zum globalen Energiewachstum, zu Entwicklung und Sicherheit. Grundsätzlich sieht sich Masdar in der Verpflichtung, die Entwicklung und Umsetzung neuer Energielösungen zu beschleunigen. Masdar versteht sich als eine Art Katalysator, der dafür zu sorgen hat, dass saubere Energie bezahlbar, skalierbar und nachhaltig wird. Am Ende steht eine Welt, in der Energie eine umsetzende Rolle spielt, also eine vereinende und keine trennende Kraft darstellt. Diese Welt kann nicht erpresst oder durch Energiefragen an der Entwicklung gehindert werden. An ihr kann sich jeder Akademiker, jedes Unternehmen und jede einzelne Person beteiligen und sich in ihr wohl fühlen.

Von der Vision zur Wirklichkeit

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Ich bin stolz darauf, dass Masdar heute in jedem Bereich der sauberen Energien vertreten ist, von den vielfältigen Solartechnologien über Wind und Geothermik bis hin zur Kohlenstoffregelung. Mit Ordnung und Kapital versuchen wir, die Kosten der erneuerbaren Energien zu senken, weil nur so sichergestellt werden kann, dass saubere Energie und nachhaltige Technologien schon in naher Zukunft Wirklichkeit werden können. Eines unserer ehrgeizigsten und das mit Sicherheit am meisten diskutierte Projekt bisher ist Masdar City, die weltweit erste abfallfreie Stadt mit ausgeglichener Kohlenstoffbilanz. Masdar ­City wird ausschliesslich durch nachhaltige Energiequellen versorgt: Das Wasser wird von einer mit Solarstrom arbeitenden Entsalzungsanlage geliefert, und die Grünanlagen innerhalb der Stadt sowie die Landwirtschaft vor den Toren der Stadt werden mit Grauwasser und behandeltem Abwasser bewässert, das aus der Kläranlage der Stadt stammt. Nach Ende der Bauarbeiten im Jahr 2016 werden 1 500 Firmen und 50 000 Einwohner in dieser Stadt zu Hause sein.

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Die Stadt ist die physikalische Verkörperung der Vision von Abu Dhabi. Sie vereint die gegenwärtige Denkweise im Bereich der nachhaltigen städtischen Umfelder mit einer progressiven Philosophie, die zukünftige technologische Entwicklungen umfasst und ermöglicht. In Masdar City wird es keine Autos geben. Die Stadt zeichnet sich durch ihre fussgängerfreundliche, sorgfältig geplante Gestaltung aus, in der die Bewohner in jeder Richtung nach maximal 200 Metern ihre wesentlichen Bedürfnisse decken können. Wenn einmal das andere Ende der Stadt besucht werden muss, bietet das revolutionäre Transportnetz mit der Bezeichnung Personal Rapid Transit (PRT) eine nachhaltige und effiziente Lösung. Das PRT wird über erneuerbare Energien betrieben und kann täglich 150 000 Fahrten durch Masdar City bewältigen. Zur Umsetzung einer ausgeglichenen Kohlenstoffbilanz werden in Masdar City nur erneuerbare Energiequellen verwendet. Ein Photovoltaik-Kraftwerk wird den Grossteil des in der Stadt benötigten Stroms produzieren. Die Kühlung erfolgt über konzentrierten Solarstrom, und Wasser wird aus einer Entsalzungsanlage mit Solarstrom gewonnen. Das Nullziel beim Abfall wird in Masdar City durch eine Kombination aus Recycling, Wiederverwendung und einigen hochmodernen Technologien zur Umwandlung von Abfall in Energie erreicht. In den Grünanlagen der Stadt und beim landwirtschaftlichen Anbau in ihrem Umfeld kommt Grauwasser und behandeltes Abwasser aus der Kläranlage der Stadt zum Einsatz. Dank dieses innovativen Ansatzes werden die Bewohner von Masdar City tatsächlich weitaus weniger Energie verbrauchen als die Bewohner irgendeiner anderen Stadt der Welt. Masdar City benötigt lediglich 200 Megawatt statt der 800 Megawatt, die von einer herkömmlichen Stadt derselben Grösse verbraucht werden. Der Verbrauch


Bild: Foster + Partners

des entsalzten Wassers wird von 20 000 Kubikmetern pro Tag auf lediglich 8 000 sinken. In Masdar City werden Deponien keine Millionen von Quadratmetern grossen Flächen in Anspruch nehmen. Im Anschluss an die offizielle Grundsteinlegung im Februar 2008 haben wir bereits die Arbeiten an dieser Stadt aufgenommen. Die erste Phase im Siebenstufenplan des Stadtbaus besteht aus dem Aufbau des Masdar Institute, der weltweit einzigen Hochschule für alternative Energien, die in Zusammenarbeit mit dem MIT entwickelt wurde und im September dieses Jahres eröffnet werden soll.

Aber Masdar City ist mehr als nur ein Bauprojekt. Masdar City will sich zum Silicon Valley im Zeitalter der sauberen Technologien entwickeln. Innerhalb der Stadtgrenzen werden sich führende Unternehmen, Forscher und Bauunternehmer am Aufbau von Gesellschaft und Wirtschaft beteiligen, die nachhaltige Lösungen im Bereich der globalen Energie- und Umweltfragen vorlegen wollen. Wir setzen eine globale Welle in Bewegung, mit der wir die innovativsten Firmen im Bereich der sauberen Technologien davon überzeugen wollen, sich in Masdar City niederzulassen.

Masdar City – das neue Silicon Valley der sauberen Technologien.

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Die geschätzten Entwicklungskosten für den Aufbau von Masdar City liegen bei etwa 20 Milliarden Dollar, und Masdar wird davon 4 Milliarden zur Entwicklung der städtischen Infrastruktur aufwenden. Der Rest wird über direkte Investitionen und die Einrichtung verschiedener finanzieller Instrumente zur Beschaffung des benötigten Kapitals aufgebracht. Eine wesentliche Antriebskraft für die Entwicklung der Stadt wird die Finanzierung über den Kohlenstoff sein. Die Kohlenstoffregulierungsbehörde von Masdar wird die Reduzierung der Kohlendioxidemissionen in Masdar City gemäss dem Kyoto-Protokoll über die Mechanismen einer sauberen Entwicklung in Geld umsetzen. Obwohl die Kosten auf den ersten Blick hoch zu sein scheinen, wird der durch Masdar City erwirtschaftete Gewinn die Anfangsaufwendungen weitaus übertreffen. In der Stadt werden mehr als 70 000 Arbeitsplätze geschaffen, die ein wichtiger Beitrag zur Wirtschaftlichkeit vor Ort sein werden. In erster Linie wird Masdar City meiner Meinung nach jedoch ein Wandelfaktor sein. Diese Stadt wird zu einem globalen Testprojekt, das sich auf alle zukünftigen Entwicklungen auswirken wird. Masdar City ist ausserdem für jedermann gedacht, die Stadt soll ein Vorbild für alle Entwicklungsprojekte der Zukunft werden. In zwei Jahren haben wir bereits sehr viel erreicht. Aber noch viel mehr liegt vor uns. Keine dieser Initiativen wird sich lohnen, sofern wir nicht beweisen können, dass das Mögliche auch praktikabel – und rentabel – werden kann. Unsere Welt hat sich durch die industrielle und die technologische Revolution weiter entwickelt und steht heute an der Schwelle zu einer EnergieEvolution. Wir in Masdar wollen an der Spitze dieser Evolution stehen.

Dr. Sultan Al Jaber ist CEO der Masdar Abu Dhabi’s Future Energy Initiative.

Bild: EPA/Keystone

Neben der Besiedlung mit Daueranwohnern wollen wir auch eine Kooperation von Experten anstossen in den Bereichen nachhaltiger Transport; Abfallwirtschaft; Wasser- und Abwasser­ einsparung; umweltfreundliche Bauformen, Gebäude- und Industriematerialien, Recycling; Artenvielfalt, Klimawandel, erneuerbare Energien und umweltfreundliche Finanzinstitute. Einige der führenden Unternehmen, Regierungen und Organisationen auf der ganzen Welt haben uns bereits ihr grosses Interesse signalisiert, sich an Masdar City zu beteiligen. Wir haben bereits mehrere Reisen nach Europa, in die USA und zuletzt auch nach Australien unternommen, um Interesse an Masdar zu wecken. Für Firmen auf dem Gebiet der sauberen Technologien, die auf der Suche nach einem neuen Hauptsitz sind, hält Masdar City ein attraktives Paket bereit. Die Stadt wird eine spezielle wirtschaftliche Freizone sein, die örtlichen, regionalen und internationalen Unternehmen ein ausgesprochen wettbewerbsfähiges Umfeld bietet. So können ausländische Unternehmen ihre Gewinne zu 100 Prozent in ihre Ursprungsländer mitnehmen. Aber der Mehrwert von Masdar City geht darüber weit hinaus. Jedes Unternehmen aus der Branche der sauberen Technologien kann mit uns auf einer Vielzahl von Ebenen Partnerschaften eingehen. Wir gewähren aber nicht jedem beliebigen Unternehmen Zutritt zu Masdar City – wir wollen mit Firmen zusammenarbeiten, die Lösungen und Dienstleistungen in den Bereichen Energie und Nachhaltigkeit entwickeln. Diese Stadt eignet sich nicht für Unternehmen, die lediglich ein Kästchen für Umweltschutz ankreuzen wollen. Die von uns gesuchten Unternehmen müssen mit Leidenschaft und Willenskraft mit anderen Akteuren bei der Bewältigung der vor uns stehenden Herausforderungen im Bereich einer sauberen, umweltfreundlichen und nachhaltigen Zukunft zusammenarbeiten.


Prävention für Kinder Der Kampf gegen Drogenmissbrauch bei Kindern und Jugendlichen, dem sich die Mentor-Stiftung verschrieben hat, ist global. Eine gemeinnützige Initiative , die eine wichtige Investition in unser aller Zukunft ist, schreibt Königin Silvia von Schweden. Es ist eine Vision, an der arbeiten wir, seit es die Mentor-Stiftung gibt: eine Welt, die Kindern und Jugendlichen eine Entwicklung ermöglicht frei von Krankheiten, welche durch Drogenmissbrauch ausgelöst werden. Eine Welt, in der junge Menschen lernen, Nein zu sagen, wenn ihnen auf dem Pausenplatz, in der Diskothek Drogen angeboten werden. Weil sie Bescheid wissen um die Suchtgefahren von Tabak, Alkohol, aber vor allem auch von Opium oder Heroin. Weil sie selbstbewusst genug sind, um nicht in Versuchung zu geraten. Wir wollen aber nicht naiv sein. Die Macht der Versuchung ist gross, die Interessen von Drogenbaronen und Dealern sind eindeutig. Wird ein junger Mensch süchtig, ist die Gefahr gross, dass er ein Leben lang konsumiert. Damit es nicht so weit kommen kann, braucht es Prävention. Es braucht das Wissen um die Wirkung von Drogen bei Kindern und Jugendlichen. Wir dürfen die jungen Menschen in dieser Frage nicht alleine lassen. Es ist eine Investition in die nächste Generation. Eine Investition für eine bessere Welt. Eine im besten Sinne verantwortungsbewusste Investition in unser aller Zukunft. Es begann im Jahre 1993. J. Christer Elfverson und Hans Emblad, zwei hohe Funktionäre der Weltgesundheitsorganisation (WHO), einer Spezialorganisation der Vereinten Nationen, präsentierten im Stockholmer Schloss die Idee, eine Stiftung zu gründen. Sie sollte einem einzigen Zweck dienen: der Prävention vor Drogenmissbrauch. Schon ein Jahr später gründeten wir die Mentor Foundation in Genf als unabhängige,

politisch neutrale Non-Profit-Organisation und NGO. Zu den Vereinten Nationen blieb die gute Beziehung immer bestehen. Bereits zur Gründerzeit hatte die Mentor Foundation einen globalen Fokus, denn Drogenmissbrauch ist ein globales Phänomen, Drogenprävention folglich eine ebenso weltumspannende Aufgabe. Die konkrete Hilfe ist jedoch immer die Prävention vor Ort, dort, wo der Alltag der jungen Menschen stattfindet. Will die Mentor Foundation ihre Ziele erreichen, muss sie dort, im persönlichen Umfeld von Kindern und Jugendlichen, ihre Wirkung entfalten. Deshalb hat unsere Stiftung schon früh begonnen, so genannte «Mentor Nationals» zu gründen, nationale und regionale Mentor-Organisationen, welche Teil sind des globalen Mentor-Netzwerks und dessen Mission verpflichtet sind. Heute existieren Mentor Nationals in Kolumbien, Deutschland, Litauen, Schweden, Grossbritannien und in den USA. Und Mentor Arabia umfasst alle 22 Nationen arabischer Zunge von Algerien bis Yemen. All diese regionalen Mentor-Niederlassungen fördern und organisieren eigene, kleine und grosse, aber immer wichtige Projekte zur Drogenprävention vor Ort. Mentor Arabia veranstaltete Anfang Jahr einen Workshop für kuwaitische Lehrer zum Thema «Life Skills für Jugendliche»; in Kairo wollen NGOs Drogenprobleme in der arabischen Welt diskutieren. Mentor Kolumbien koordiniert seit 2005 im Auftrag des «Global Youth Network» der UNODC ein ebensolches Netzwerk der Jugend für Südamerika («Red ­Suramericana de Jovenes»). Bei der UNODC Responsible Wealth Review – Vol. 2

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handelt es sich um das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung, eine weltweit führende Organisation im Kampf gegen illegale Drogen. Diese nationale MentorOrganisation betreibt auch das Projekt «Speak and learn» («Habla y aprende»), bei dem Polizei-Offiziere im Dialog mit der Jugend ausgebildet werden. Auch hier geht es um die Prävention junger Menschen vor dem Konsum von Drogen, Alkohol und Tabak. In Europa liegt ein Schwerpunkt von Mentor Deutschland in der Erziehung von Jugendlichen zu Selbstreflexion und Selbstbestimmung. Das Mentor-Programm unterstützt Schülerinnen und Schüler beim Erlernen von Strategien zur individuellen Problemlösung und Stressbewältigung. Dabei geht es darum, die Jugendlichen in die Lage zu versetzen, dem verführerischen Gruppendruck zu widerstehen und bei Angeboten zum Drogenkonsum Nein zu sagen. Dieses Projekt ist derart erfolgreich, dass es im Jahre 2004 mit dem 1. Deutschen Präventionspreis der Bertelsmann Stiftung ausgezeichnet worden ist. In Schweden betreibt Mentor ein Programm, welches Teenagern aus unteren Gesellschaftsschichten im wörtlichen Sinne einen Mentor zur Seite stellt, der im Dialog mit einem Jugendlichen Hilfestellung leistet, persönliche und berufliche Erfahrungen einbringt und im Gegenzug Einblick erhält in die Lebens- und Schulrealität von Jugendlichen. Ein ähnliches Projekt wie in Schweden verfolgt auch Mentor Litauen, die erste in den baltischen Staaten im Jahre 2004 gegründete Niederlassung. Die erfolgreichsten Projekte gegen Alkoholmissbrauch des Landes werden in Grossbritannien von Mentor UK ausgezeichnet. Die Gewinner erhalten einen substanziellen finanziellen Beitrag für ihren Einsatz, der es ihnen erlaubt, diese Arbeit in der Prävention nachhaltig weiterzuführen. In den Vereinigten Staaten entwickelt Mentor USA das Pilotprojekt «Prevention Online», welches schrittweise ausgebaut wird und über die Mentor-Website weltweit aufgeschaltet werden soll. Diese Auswahl von Programmen und Aktionen dokumentiert die Vielfalt der Welt von Mentor, den Einsatzwillen von Supportern und Responsible Wealth Review – Vol. 2

Aktivisten und zeigt nicht zuletzt auch ein eindrückliches Bild davon, wie stark lokaler Gestaltungswille zusammenwächst mit einer globalen Mission im Kampf gegen den Drogenmissbrauch von jungen Menschen. Zwei Leitgedanken führen uns bei unserer Arbeit, die sich zusammenfügen zu einer starken Kraft. Seit der Gründung hat die Mentor-Stiftung das Konzept «Helping the Helpers», Hilfe für die Helfer, verfolgt. Das tun wir, indem Mentor weltweit die «Best practices» in der Prävention vor Drogenmissbrauch bei Kindern und Jugendlichen identifiziert, die erfolgreichsten und nachhaltigsten mit einem Mentor Award auszeichnet und ihre Erfahrungen und Erkenntnisse weltweit zugänglich macht. Beispielsweise das interaktive Online-Programm «SmokingZine», entwickelt in Kanada, das Jugendlichen auf eine spielerische Art Einsichten näher bringt, welche zu der persönlichen Entscheidung führen können, nicht zu rauchen. Das Projekt «Colombianitos» spricht Kinder und Jugendliche dort an, wo sie empfänglich sind: beim Nationalsport Fussball. Wer Fussball spielt, nimmt keine Drogen. Oder eine Initiative in England, welche in einem kulturell sensitiven Bereich tätig ist. «Islamic Choices», welche junge Muslime in ihrem religiösen Umfeld für die Gefahren des Drogenmissbrauchs zu sensibilisieren sucht und auch deren religiösen Vorbildern, den Imams, in diesen Fragen fachliche Schützenhilfe bietet. Oder auch das Projekt «Grandparents» aus England, welches Grosseltern Hilfestellung leistet, wenn Enkelkinder besonders gefährdet sind, weil deren Eltern drogenabhängig sind. Auch diese kleine Auswahl zeigt: Die Problemstellungen sind vielfältig und der Kreativität in der Prävention kaum Grenzen gesetzt. Die Vielfalt der Möglichkeiten bedingt ein grosses Mass an Expertenwissen. Aus diesem Grund unterhält die Mentor-Stiftung ein internationales Netzwerk von wissenschaftlichen Beiräten, das «Scientific Advisory Board», welches unsere Arbeit mit fachlicher Expertise unterstützt. So weist beispielsweise Ken Winters, Director des Center für Adolescent Substance Abuse Research der University of Minnesota und Chairman des Scientific Advisory Network


1. Eltern müssen ihre stärker entwickelte Urteilsfähigkeit nutzen, um ihre Kinder zu schützen, sie müssen vorausschauend handeln, denn Kinder brauchen Hilfe auf diesem Feld. 2. Drogen, insbesondere Alkohol, zeigen bei Jugendlichen eine grössere und schädlichere Wirkung als bei Erwachsenen. Dass sie mit Drogen experimentieren, ist gefährlich. Drogenmissbrauch ist ein globales Phänomen. Nach jüngeren Zahlen aus dem Jahre 2002 sollen auf dem Globus rund 185 Millionen Menschen über fünfzehn Jahre Drogen konsumieren, über vier Prozent der Weltbevölkerung. Allein bei den illegalen Drogen konsumierten davon 3,5 Prozent Cannabis, 0,8 Prozent Amphetamine, 0,2 Prozent Ecstasy, 0,3 Prozent Kokain, 0,3 Prozent Opiate, insbesondere Heroin. Das sind beängstigende Zahlen. Im jüngsten World Drug

Bild: PD

von Mentor, darauf hin, dass jüngere wissenschaftliche Studien über das menschliche Gehirn ergeben haben, dass dieses sich bei jungen Menschen bis über das zwanzigste Lebensjahr hinaus noch in einem Entwicklungsprozess befindet. Dies führt dazu, dass sich Teenager gegenüber Erwachsenen impulsiver, aggressiver, emotional unausgeglichener verhalten. Die Risikoabwägung ist noch nicht auf dem Stand eines Erwachsenen, und das macht Jugendliche verletzlicher gegenüber Gruppendruck und fördert die Kurzfristigkeit im Denken und Handeln, während eine langfristige Optik und das Abwägen von Handlungsalternativen noch weniger im Bewusstsein sind. Das Gehirn des Teenagers ist buchstäblich noch «under construction», und das ist der Nährboden, auf dem Drogenmissbrauch gedeihen kann. Das führt Ken Winters zu zwei Schlussfolgerungen, die auch für das Handeln von Mentor Richtschnur sind: Report 2007 schreibt Antonio Maria Costa, Direktor des Office on Drugs and Crime der Vereinten Nationen (UNODC), dass es zarte Anzeichen gebe, dass zumindest bei den illegalen Drogen erstmals eine gewisse Stabilität beim Anbau, bei der Produktion und beim Konsum von Kokain, Heroin, Cannabis und Amphetaminen eingetreten sei. Es scheint, dass der Appell der UN-Generalversammlung aus dem Jahre 1998, innert zehn Jahren die Versorgung und die Nachfrage nach illegalen Drogen zu reduzieren, zumindest keine Utopie mehr zu sein scheint. Antonio Maria Costa schreibt in seinem Vorwort zum World Drug Report aber auch: «Die Situation ist zwar stabil, aber sie bleibt auch labil.» Deshalb wollen und müssen wir den Kampf gegen Drogenmissbrauch weiterführen. Die Mentor-Stiftung hilft den Jugendlichen. Weil diese am meisten gefährdet sind und deshalb auch den stärksten Schutz brauchen.

Mentor-Schirmherrin: Königin Silvia von Schweden.

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Messung von Nachhaltigkeit Das Konzept einer ökologischen und sozialen Rechenschaftspflicht von Unternehmen entstand vor rund vier Jahrzehnten und ist immer weiter verfeinert worden, schreibt Ernst Ligteringen. Als Entscheidungshilfe für den Anleger braucht es nun aber zukunftsgerichtete Nachhaltigkeitsdaten. Entwicklung der Hilfsmittel zur Messung von Nachhaltigkeit

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Das amerikanische Financial Accounting Standards Board wurde im Zuge des Börsenzusammenbruchs von 1929 und der nachfolgenden Depression ins Leben gerufen. Um nach dem Crash das Vertrauen wiederherzustellen, sollte für grössere Transparenz bei der Bereitstellung robusterer Daten gesorgt werden. Obwohl es heute seltsam anmutet, war die Offenlegung der Unternehmensfinanzen vor diesem denkwürdigen Ereignis nicht alltäglich. Es können Parallelen gezogen werden zur Entwicklung der so genannten nicht finanziellen Berichterstattung der Unternehmen – heute gemeinhin als Nachhaltigkeitsberichterstattung bezeichnet. Verschiedene Umweltkrisen verstärkten in den letzten Jahrzehnten die Forderung nach transparenten Daten zu Verschmutzung und Ressourcenverbrauch. Das Konzept der ökologischen und sozialen Rechenschaftspflicht entstand in den 1970er und 1980er Jahren. Saurer Regen und Löcher in der Ozonschicht riefen frühe Umweltorganisationen auf den Plan und führten zu den ersten internationalen Umweltabkommen. Die weltweite Armut rückte ins Rampenlicht, was zum Teil mit der Emanzipationsbewegung in vielen neuen unabhängigen Entwicklungsländern zusammenhing. Während der Apartheid in Südafrika inspirierte Nelson Mandela viele dazu, über die Bedeutung von Menschenrechten als globales Thema nachzudenken. Das Bewusstsein für die Rolle der Unternehmen in der Umweltzerstörung, der verbreite-

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ten Armut und der Verletzung von grundlegenden Menschenrechten führte in den 1980er und 1990er Jahren zum Ansatz der sozial verantwortlichen Geldanlagen (Socially Responsible Investment, SRI). Der Wert der privat wie auch institutionell auf dieser Basis verwalteten Vermögen hat seither stetig zugenommen und macht heute Billionen von weltweit angelegten Dollar aus. Mitte der 1990er Jahre begann eine Gruppe von SRI-Firmen in den USA darüber zu diskutieren, wie man zu besseren Daten von Unternehmen gelangen konnte, um den Dialog mit diesen und letztlich auch die eigenen Anlageentscheidungen zu begünstigen. Angetrieben von den Interessen dieser Gruppe, entwickelten Bob Massie von Ceres und Allen White vom Tellus Institute, beide in Boston ansässig, die Idee eines globalen Rahmenwerks, das als Plattform für eine transparente Nachhaltigkeitsberichterstattung dienen sollte. Ihre Arbeit führte zur Gründung der Global Reporting Initiative (GRI). Obwohl erst elf Jahre alt, konnte die GRI bei der Entwicklung eines solchen allgemeinen Rahmenwerks bereits beträchtliche Fortschritte erzielen. Als global vernetzte Organisation vereint sie Unternehmensführer, Anleger, zivilgesellschaftliche Organisationen, Gewerkschaften, Buchführungsorganisationen und Wissenschaftler, um Richtlinien zur Offenlegung der wirtschaftlichen,

Transparenz: Teleskop im kalifornischen Owens Valley, USA.


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Bild: David Nunuk/Sience Photo Library SPL/Keystone


sozialen und ökologischen Unternehmensleistung zu erarbeiten. Arbeitsgruppen aus Vertretern dieser Anspruchsgruppen skizzieren gemeinsam, wie diese Richtlinien aussehen sollen. Ihre Vorschläge werden danach zur weltweiten Vernehmlassung aufgelegt. In diesem Sinn repräsentiert das GRIRahmenwerk die besten heutigen Denkansätze zu entscheidenden Nachhaltigkeitsfragen für Menschen, Planet und Wohlstand. Die G3-Richtlinien, die neueste Version der GRI-Richtlinien für die Nachhaltigkeitsberichterstattung, enthalten eine Anleitung für Unternehmen und Organisationen hinsichtlich der Berichterstattungsgrundsätze sowie Schlüsselindikatoren zur Messung und Offenlegung der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Leistung. Indem sie die transparente Offenlegung von Nachhaltigkeitsinformationen ermöglichen, liefern die Richtlinien eine Grundlage für den Vergleich zwischen Unternehmen und – ebenso wichtig – sorgen dafür, dass Wandel und Veränderung innerhalb der Unternehmen bewältigt werden können. Die Richtlinien sind als öffentliches Gut für Unternehmen und andere Organisationen, unabhängig von Grösse, Sektor und Land, weltweit frei verfügbar. Heute stellen die Richtlinien das weltweit am weitesten verbreitete Rahmenwerk für die Nachhaltigkeitsberichterstattung dar. Eine im Oktober 2008 publizierte KPMG-Studie bestätigt, dass die G3-Richtlinie die globale Norm der Nachhaltigkeitsberichterstattung ist. Sie zeigt, dass fast alle der 250 grössten Unternehmen der Welt Daten über ihre Nachhaltigkeitsleistung bekannt geben, und fast 80 Prozent von ihnen nutzen das GRI-Rahmenwerk als Grundlage für die Berichterstattung. Weshalb machen sich also Unternehmen die Mühe, Nachhaltigkeitsberichte zu verfassen? Bei der Untersuchung des Nutzens der Nachhaltigkeitsberichterstattung sollte sowohl der interne als auch der externe Nutzen für die Unternehmen analysiert werden.

Anpassung an einen wachsenden Konsens

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Die zukünftige Relevanz der Geschäftsmodelle wird durch die Auswirkungen von Klima-

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wandel, wahren Energiekosten, Ressourcenzerstörung, Bevölkerungswachstum und weltweiten Ungerechtigkeiten auf die Probe gestellt werden. Die öffentliche Meinung spielt eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, was akzeptabel und verantwortlich ist. Verhält sich ein Unternehmen verantwortungsvoll, trägt es zur Erfüllung der Bedürfnisse bei, oder ist es Teil des Problems? Die Positionen der Anspruchsgruppen, die nicht statisch sind und sich im Laufe der Zeit verändern, sind ein entscheidender Faktor bei der Bewertung der Reputation eines Unternehmens und, noch wichtiger, ihrer «license to operate» (Zulassung für unternehmerisches Handeln). Vielen CEOs bescherte es schlaflose Nächte, als sie mit ansehen mussten, wie das schwindende öffentliche Vertrauen den Wert ihrer Unternehmen und damit ihre «license to operate» vernichtete. Mehrere Bekleidungshersteller gerieten aufgrund der Arbeitsbedingungen in ihren Zulieferfirmen in die öffentliche Kritik. Monsanto wollte der öffentlichen Meinung bei genetisch veränderten Organismen vorauseilen, doch schon der Name des Unternehmens wurde zur Hypothek. Mitte der 1990er Jahre nahm die Reputation von Shell Schaden, als das Unternehmen beschuldigt wurde, an der Ermordung des nigerianischen Menschenrechtsaktivisten Ken Saro-Wiwa beteiligt gewesen zu sein. Die Löhne und Arbeitsbedingungen bei Wal-Mart, die Handelsbedingungen der Kaffeebauern, die Starbucks beliefern, und der Benzinverbrauch der Fahrzeuge von General Motors (insbesondere des Hummer) sind klassische Beispiele für Unternehmensstrategien, die sich nicht mit dem vertragen, was die Öffentlichkeit, ob richtiger- oder fälschlicherweise, unter vernünftigen und verantwortungsbewussten Geschäftspraktiken versteht. Der gemeinsame Nenner der obigen Beispiele lag darin, dass sich die Kluft zwischen Unternehmensstrategie und öffentlicher Meinung, grösstenteils zur Überraschung der betroffenen Unternehmen, verbreitert hatte. Was gesetzlich zulässig war und als allgemein üblich gegolten hatte, wurde plötzlich infrage gestellt. Die Unternehmen führten für ihre Entscheidungen technische oder juristische Gründe an. Doch die öffentliche Meinung hatte sich gewandelt, und die Unternehmen


versäumten es, sich mit wichtigen Meinungsführern zu verständigen. Wichtige Ursachen für den Wandel der öffentlichen Meinung sind heute Klimawandel, Energie und Demografie. Die Realität des Klimawandels ist allgemein bekannt, obwohl nur wenige mit den Berechnungen von Sir Nicolas Stern vertraut sind, der in einem Bericht an die britische Regierung prognostizierte, dass Untätigkeit in Bezug auf den Klimawandel zu einem weltweiten BIP-Rückgang von bis zu 20 Prozent führen könnte. Viele Leute haben registriert, dass wir es mit einem systemischen Problem zu tun haben, das grundlegende Veränderungen nötig macht. Ein solches latentes Verständnis besteht auch bezüglich der Energie. Im öffentlichen Bewusstsein setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass Energie knapp ist und höchstwahrscheinlich teurer wird; Gleiches gilt für die Auffassung, dass dies durch die wachsende Weltbevölkerung und die steigenden Bedürfnisse grosser Schwellenländer wie China und Indien noch verschärft wird. Obwohl viele Leute vom Umfang des Problems überwältigt sind und sich als Einzelne hilflos fühlen, ziehen sie die Unternehmen zur Verantwortung. Die Tatsache, dass 51 der 100 grössten Wirtschaftseinheiten der Welt heute Konzerne sind, ist ebenso fest im öffentlichen Bewusstsein verankert wie die Auffassung, dass Unternehmen nicht nur auf die Märkte grossen Einfluss ausüben, sondern auch auf die Umwelt und die Gesellschaft. Doch wer soziale Verantwortung und ökologische Rechenschaftspflicht als Teile einer politischen Argumentation betrachtet, verschleiert den grundlegenden Sachverhalt, erklärt Thomas Friedman in seinem neuesten Buch, «Hot, Flat, and Crowded». In der besten Tradition liberaler Aufklärung wird davon ausgegangen, dass ein politisches Argument zwei Seiten hat. Dies wiederum lässt es vernünftig erscheinen, dass beide Seiten einer Meinungsverschiedenheit berücksichtigt werden. Umweltskeptiker und Industrielobbyisten haben auf diese Weise Platz geschaffen für die Ansichten derjenigen, die ein wirtschaftliches Interesse am Ist-Zustand und an kurzfristigen Ergebnissen haben. Dies hat nur selten zu einer zukunftsgerichteten, auf Fakten basierenden Be-

urteilung der längerfristigen Nachhaltigkeit unserer Lebensweise geführt. Selbst wissenschaftliche Erkenntnisse, wie jene des nobelpreisgekrönten Intergovernmental Panel on Climate Change, waren politischen Verhandlungen unterworfen, die zu weit zurückhaltenderen Prognosen führten, als die Wissenschaftler für angebracht hielten. Beurteilungen ohne angemessene Beweisgrundlage sind riskant, und wenn – nicht ob – wir die Folgen des Klimawandels und die damit verbundenen plötzlichen sozialen Umwälzungen erleben, wird die Einsicht zu spät kommen. Nachträgliche Einsichten zum offensichtlichen Marktversagen, das den Subprime-Skandal auslöste, und zur anschliessenden weltweiten Finanzkrise werden von den Kommentaren über die Nachhaltigkeitsrisiken, die heute schon offensichtlich sind, in den Schatten gestellt werden.

Die Notwendigkeit der Vollkostenrechnung («full-cost accounting»)

Die Art und Weise, wie wir unsere Geschäftsbücher führen, bestimmt unsere Wahrnehmung der Ergebnisse, erklärte Al Gore an der GRI-Konferenz von 2006. Bezug nehmend auf die Erkenntnis von Maslow – wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, betrachtet jedes Problem und jede Chance als Nagel –, erläuterte Gore die Konsequenzen, wenn zur Messung von Unternehmens­ ergebnissen ausschliesslich finanzielle Daten herangezogen werden. Der tatsächliche Wert von natürlichen Ressourcen und Humankapital ist in einer konventionellen Bilanz nicht ersichtlich, sodass grössere blinde Flecke zurückbleiben, die das Interesse der Unternehmen und der Öffentlichkeit beeinträchtigen. Zu allem Übel ist unsere Finanzbuchhaltung auch noch fehlerhaft, erklärt Thomas Friedman, den Umweltaktivisten Lester Brown zitierend. Als Gesellschaft «verhalten wir uns wie Enron, der in Ungnade gefallene Energieriese, auf dem Gipfel seiner Torheit». Wir ­schreiben jedes Jahr fantastische Gewinne und BIP-Zahlen, die auf dem Papier grossartig aussehen, «weil wir einen Teil der Kosten ausserhalb der Bücher verbergen», und eine Konsequenz ist der Klimawandel. Die bisherige Buchführungspraxis ist überholt. In gängigen Finanzmitteilungen werden die wahren Kosten von Produkten und DienstleisResponsible Wealth Review – Vol. 2

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tungen nicht aufgeführt. Die Informationen, die wir benötigen, um unseren Weg in eine nachhaltige Zukunft zu finden, bleiben verborgen. Was wirtschaftlich kurzfristig sinnvoll erscheint, kann uns langfristig ins Straucheln bringen – als Menschen, Unternehmen und Gesellschaft. Die enge Perspektive der konventionellen Unternehmensberichterstattung wird unweigerlich zu Marktversagen führen, wie sie sich bereits bei der Übernutzung von wichtigen erneuerbaren Ressourcen in der Fischerei und in der Waldwirtschaft abzeichnen. Wenn es uns nicht gelingt, zukunftsgerichtete Nachhaltigkeitsdaten zu formulieren, ist nicht damit zu rechnen, dass wir Geschäftsstrategien verfolgen, die uns in eine nachhaltige Zukunft führen. Die Finanzberichterstattung als solche dürfte weiterhin steigende Gewinne für Unternehmen ausweisen, die knappe Ressourcen wie Öl vermarkten. Konventionelle Formen der Unternehmensberichterstattung werden weder den Markt noch die Gesellschaft oder einzelne Unternehmen angemessen davor warnen, was uns bevorsteht, wenn diese Ressourcen zur Neige gehen. Dann wird es längst zu spät sein, um schwere Schäden zu verhindern und einen verantwortungsvollen Übergang zu alternativen Ressourcen zu vollziehen. Nur mit einer neuen Vollkostenrechnung, die eine vollständige Kosten-Nutzen-Analyse von privaten und öffentlichen Unternehmen bietet, werden wir über das Rüstzeug verfügen, um den Weg in eine nachhaltige Zukunft zu finden. Eine Änderung der Ergebnismessung in unseren Organisationen wird Konsumenten, Mitarbeitenden und Anlegern helfen, ihre Beurteilung den Bedingungen einer zukünftigen «license to operate» anzupassen. Anhand einer solchen Messung können wir beurteilen, was uns bei der Suche nach einem nachhaltigen und erfolgreichen Weg, um die Erde in wenigen Jahrzehnten mit neun Milliarden Menschen zu teilen, nützlich sein wird. Responsible Wealth Review – Vol. 2

Wertsteigerung

Die Offenlegung der Leistung aufgrund verschiedener Nachhaltigkeitsindikatoren kann den Anlegern helfen, Unternehmen zu beurteilen, und den Eigentümern, ihre Vermögenswerte zu schützen. Der Unterschied zwischen Buchwert und Marktwert eines Unternehmens ist ein wichtiger blinder Fleck in der heutigen Berichterstattungspraxis. 1978 entfielen Studien zufolge 5 Prozent der Marktkapitalisierung des FTSE 250 auf immaterielle Vermögenswerte; 2005 betrug dieser Anteil 72 Prozent. Heutige Bilanzabschlüsse weisen teilweise nicht mehr als 20 Prozent des Marktwerts eines Unternehmens aus. Ein Grossteil des Wertes ist in das Humankapital des Unternehmens eingebunden, hierzu gehören immaterielle Werte wie Wissen, Fähigkeiten und Motivation. Wert ist zudem in das Beziehungskapital eingebunden, das vom Netzwerk des Unternehmens generiert wird, in seine Fähigkeit, Partnerschaften einzugehen, und in den Zustand der Beziehungen zu den Anspruchsgruppen. Wie wir gesehen haben, ist der Wert immer enger an die Reputation und das Markenkapital gebunden, das aus der immateriellsten Eigenschaft überhaupt besteht – Vertrauen. Die konventionelle Unternehmensberichterstattung ist nicht geeignet, viele dieser immateriellen Werte zu erfassen. Angesichts des zunehmenden Interesses der Öffentlichkeit an ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit wird das Vertrauen von der öffentlichen Wahrnehmung des Unternehmensverhaltens hinsichtlich wichtiger Probleme beeinflusst. Unternehmen, die Lösungen für die Bedürfnisse unserer Zeit bieten und beispielsweise der Forderung nach sauberer Energie nachkommen, dürften mit erhöhtem Vertrauen belohnt werden. Der Berichterstattungsprozess kann in der täglichen Führung und Beaufsichtigung einer Organisation eine wichtige neue Dimension er-


Bild: Photopress-Archiv/Keystone

öffnen. Für den Verwaltungsrat kann er wesentliche Informationen liefern, die erforderlich sind, um den Wert des Unternehmens zu schützen. Das Management kann sich Kennzahlen zu Energie- und Ressourceneffizienz, HR-Management, Beziehungen zu den Anspruchsgruppen und Produktinnovationen in Schwellenländern mit weniger strikten Regulierungssystemen zunutze machen. Diese Informationen können dem Management und dem Unternehmen helfen, internationale Standards zu erfüllen. Die Tatsache, dass ein Unternehmen seine Nachhaltigkeitsleistung systematisch kontrolliert, wird oft als erster Gradmesser für eine Qualitätsbewertung der Beaufsichtigung und Führung eines Unternehmens genommen. Die Nachhaltigkeitsberichterstattung ist noch immer eine relativ neue Praktik. Die G3Richtlinien der GRI für die Nachhaltigkeitsberichterstattung werden regelmässig aktualisiert, um Fortschritte aus dem Erfahrungsschatz der Ausübenden zu integrieren. Dennoch muss diese Entwicklung ausgedehnt werden; eine bedeutende Herausforderung für Unternehmensführer und Anleger besteht darin, verlässliche Methoden zu finden, mit denen die Auswirkungen der Nachhaltigkeitsleistung auf die Abschlüsse des Unternehmens sowie den Aktienkurs oder den Marktwert beurteilt werden können. Unser sich entwickelndes kollektives Verständnis der Nachhaltigkeitsrisiken sowie die Volatilität der Marktdynamik machen die Korrelation zwischen Nachhaltigkeitsleistung und Börsenkurs zu einer komplexen Angelegenheit. Doch mittlerweile liegen einige interessante Studien vor. Am bedeutendsten ist die längerfristige Untersuchung der Korrelation zwischen der Nachhaltigkeitsleistung eines Unternehmens und dem Aktienkurs. Ein Beispiel bietet die vor kurzem publizierte Studie von Robeco und SAM Group, Analyseunternehmen für den Dow Jones

Sustainability Index, welche siebenjährige Datenserien zur Nachhaltigkeitsleistung von Unternehmen auswerteten. Laut SAM Group hätte der Kauf der besten «Sustainability Performer» und der Verkauf der schlechtesten «Sustainability Performer» in diesem Zeitraum eine vernünftige Anlagestrategie ergeben. Die besten 20 Prozent übertrafen das Universum, während die untersten 20 Prozent deutlich zurückblieben. Obwohl keine Rückschlüsse auf eine Ursache-WirkungBeziehung gezogen werden können, stimmen ihre Ergebnisse mit anderen Untersuchungen auf diesem Gebiet überein. Angesichts des immer breiteren Datenpools ist mit weiteren Untersuchungen der Beziehung zwischen Nachhaltigkeitsleistung und Marktwert eines Unternehmens zu rechnen, und der Erste, der eine zuverlässige Methode zur Bewertung dieser Verbindung formuliert, könnte durchaus zum Kandidaten für den nächsten Nobelpreis in Ökonomie werden.

Information: Schweizer Filmwochenschau 1940.

Blick in die Kristallkugel

Die heutige Volatilität der Märkte macht Prognosen zu einer riskanten Angelegenheit. Nur wenige hatten die jüngste Finanzkrise vorhergesagt. Jetzt üben sich Kommentatoren in der Tages- und Responsible Wealth Review – Vol. 2

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Wirtschaftspresse in nachträglichen Einsichten. Anscheinend waren die Mängel und Risiken des Marktes bekannt, ohne artikuliert zu werden, solange das Marktwachstum noch Gewinne abwarf. Nur wenige wagten oder schafften es, sich zu äus­ sern, bevor die aktuelle Finanzkrise losbrach. Wird dasselbe geschehen, wenn die Folgen von Klimawandel, Ölfördermaximum («peak oil»), Wasserknappheit, Bevölkerungswachstum und verbreiteter Armut eintreten? Wenn ihre Auswirkungen nicht mehr nur in langatmigen Artikeln abgehandelt werden, sondern zur schmerzhaften Realität geworden sind, die sowohl den Markt als auch unseren Alltag betrifft? Werden wir uns wieder mit später Einsicht begnügen, und wird uns dennoch Zeit bleiben, das Problem zu lösen? Das Ermutigende an der Reaktion der Welt auf die Finanzkrise ist das Ausmass der kollektiven Massnahmen, die von Regierungen und Unternehmen ergriffen wurden, um das Problem zu beheben. Lässt sich daraus Hoffnung für die bevorstehende Nachhaltigkeitskrise ableiten? Werden wir ähnlich konzertierte Handlungen erleben, mit denen menschliche Katastrophen und grösseres Marktversagen verhindert werden? Eine Garantie gibt es nicht. Die Finanzkrise hat die Welt zu Taten aufgerüttelt. Dennoch vermochten die anscheinend bekannten Funktionsfehler Anleger und Vermögensverwalter nicht zum Handeln zu bewegen, bevor sich die Krise ereignete. Die Auswirkungen der sozialen und ökologischen Defizite, die wir heute anhäufen, machen sich nur langsam bemerkbar. Ein plötzlicher Schock – ein Weckruf zur Nachhaltigkeit – dürfte kaum rechtzeitig stattfinden. Die Folgen unserer wachsenden Defizite für die globale Klima-, Energie- und Entwicklungsrechnung werden in den nächsten Jahrzehnten eintreten. Wir lassen es uns mit den Kreditkarten unserer Kinder immer noch relativ gutgehen, wie es Thomas Friedman ausdrückt. Sie sind diejenigen, die mit den Folgen unseres Handelns konfrontiert sein werden, und sie werden sich womöglich wundern, weshalb die vorherigen Generationen die Zeichen der Zeit nicht erkannten. Die Zeichen der Zeit sind unter anderem am Pool der Nachhaltigkeitsberichte erkennbar,

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die von einer wachsenden Zahl Unternehmen auf der ganzen Welt erstellt werden. Die Qualität ihrer Daten ist noch nicht optimal, denn nur Übung macht den Meister; dennoch lassen sich viele der Informationen in den heutigen Nachhaltigkeitsberichten mit einer Dosis gesundem Menschenverstand begreifen und interpretieren. Die künftigen Herausforderungen der Nachhaltigkeit gefährden nicht nur den Marktwert weit über das Ausmass der aktuellen Finanzkrise hinaus, sondern stellen auch ein ethisches Dilemma dar: Wie sollen die Interessen der zukünftigen Generationen, die in den heutigen Diskussionen nicht vertreten sind, einbezogen werden? Private Kapitalbesitzer sind oftmals eher geneigt, eine langfristige Perspektive einzunehmen und an die zukünftigen Generationen zu denken. Welches Erbe hinterlassen sie, wenn sie ihre Vermögen weitergeben – Vermögen, die oft durch die Arbeit früherer Generationen aufgebaut wurden? Private Eigentümer («asset owners») können sicherstellen, dass die Unternehmen in ihrem Besitz sowie deren Lieferanten ihre Nachhaltigkeitsleistung kontrollieren, während sie den langfristigen Wert der Unternehmen sichern. Sie können dafür sorgen, dass die Daten zur Nachhaltigkeitsleistung regelmässig auf Geschäftsleitungsebene ausgewiesen und geprüft werden. Die Anleger können Daten zur Nachhaltigkeitsleistung von potenziellen Anlagezielen verlangen und somit klarstellen, das sie eine transparente und zuverlässige Nachhaltigkeitsberichterstattung erwarten. Die Beantwortung der Anfrage betreffend Nachhaltigkeitsdaten liefert den Anlegern einen frühzeitigen Hinweis, inwieweit das Unternehmen versucht, wichtige Faktoren zu kontrollieren, die seinen Wert und seine zukünftige Einstellung gegenüber den sich ändernden Erwartungen beeinflussen. Hat das Unternehmen sein Nachhaltigkeitsradar eingeschaltet, oder navigiert es blind? Weitere Informationen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung und zur Global Reporting Initiative finden Sie unter www.globalreporting. org.

Ernst Ligteringen ist Chief Executive der Global Reporting Initiative (GRI) in Amsterdam.


Chefredaktor: René Lüchinger, Lüchinger Publishing, Zürich Design und Umsetzung: BBF, Basel Fotografie: Roland Korner, Close Up AG, Triesen Übersetzungen: CoText, Zürich / BBF, Basel Druck: Werner Druck, Basel Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier März 2009


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