Interview
© Privat (1), Carlsen Verlag (1)
Leben und wir
Sabine Nenning, Nicole Veratschnig und Katharina Dornetshuber-Roth sind Psychologinnen der Praxisgemeinschaft Grashalm in Linz (www. praxis-grashalm.at). Für Tipi stehen sie zum Thema imaginäre Freunde Rede und Antwort.
einer Wohngegend, in der es nur wenige gleichaltrige Kinder gibt. Sie hat drei imaginäre Geschwister, die sie im Alltag begleiten, mit ihr spielen und ihr so ein buntes, abwechslungsreiches Großfamilienleben ermöglichen. „Lisa hat so nicht nur ein Mittel gegen Langeweile, sondern kann auch ihr Sozialverhalten trainieren“, erläutert die Psychologin. Imaginäre Freunde geben Kindern Raum für neue Ideen und Aktivitäten und sind für jeden Spaß zu haben. Sabine Nenning von der Praxisgemeinschaft Grashalm erklärt, dass ein erfundener Freund einem Kind hilft, im Spiel Verschiedenes auszuprobieren und zu erleben: „Man weiß beispielsweise, dass Mädchen die Freunde eher bemuttern und ihnen helfen und Buben sich eher Helden vorstellen, denen sie nacheifern können.“ Imaginäre Freunde in der Literatur Der weltbekannte Comic Calvin und Hobbes von Bill Waterson ist ein Beispiel dafür, wie ein imaginärer Freund willkommener Spielgefährte und Wegbereiter sein kann. Calvin hat keine Geschwister, und es ist sehr unterhaltsam, ihn dabei zu beobachten, wie er die wildesten Abenteuer mit seinem zum Leben erwachten Stoff tiger Hobbes erlebt. Dieser ist für ihn Inspirationsquelle für allerlei Sinnvolles, aber auch für jede Menge Unfug. Für den Leser ist das zwar recht amüsant, den Eltern, der Lehrerin und auch der Klassenkameradin Susy macht das Dreamteam Calvin und Hobbes aber oft das Leben schwer. Immer wieder geraten die beiden in schwierige Situationen, und Calvin kann jederzeit schwindeln und Hobbes die Schuld in die Schuhe schieben. Wenn Kinder scheinbar lügen und den imaginären Freund für ihr Fehlverhalten verantwortlich machen, so ist das nicht mit einer Lüge von älteren Kindern oder Erwachsenen gleichzusetzen. „Das Kind probiert auf diese Weise Lösungsmöglichkeiten und lernt dabei den Unterschied zwischen Richtig und Falsch“, erklärt die Psychologin Sabine Nenning.
Warum haben gerade Kinder im Alter zwischen drei und sieben Jahren imaginäre Freunde? Wie lässt sich das entwicklungspsychologisch begründen? Kinder im Alter von ca. drei bis sieben Jahren befinden sich in der magischen Phase. Das bedeutet, dass Kinder ihren Erlebnissen, Erfahrungen und Gefühlen mittels ihrer Fantasiewelt Ausdruck verleihen und verarbeiten. Eltern kennen ja die Faszination, die Hexen, Fabelwesen, Drachen, Magier und Märchenfiguren in dieser Zeit auf ihre Kinder ausüben. Das Kind ist in diesem Alter nur teilweise in der Lage, Konflikte so zu lösen oder so zu verstehen, wie wir Erwachsene das gewöhnt sind. Das heißt, sie sind noch nicht vollständig in der Lage, logische Zusammenhänge herzustellen. Sie erklären sich, wie die Welt funktioniert, oftmals über Magie. Darum kommen gerade in dieser Phase erfundene Freunde häufiger vor. Aber auch im späteren Alter können Fantasiefreunde weiterbestehen; ältere Kinder und Jugendliche sprechen aber meist nicht mehr darüber. Welche weiteren Gründe für imaginäre Freunde bei Kindern sind zu nennen? Es ist möglich, dass Kinder damit Einsamkeitsgefühle bewältigen und dabei fehlende Spielpartner erfinden. Einzelkinder haben häufiger Fantasiefreunde. Generell dienen diese Freunde oft dazu, belastende aber auch freudige Erlebnisse und die
Jugendliche nutzen die Fantasiewelt deutlich weniger, beziehungsweise sprechen sie nicht darüber. Für sie sind imaginäre Freunde keine Spielgefährten, sondern vielmehr vertrauenswürdige Ansprechpartner. Ein berühmtes Beispiel ist das Tagebuch der Anne Frank. Das jüdische Mädchen wendet sich in ihrem Tagebuch,
dazugehörigen Gefühle zu bewältigen. Diese werden im Spiel mit dem imaginären Gefährten wiederholt und dadurch verarbeitet. Gerade im Vorschulalter lernen sie über die imaginären Freunde Sozialverhalten. Dazu gehört z.B., sich Regeln auszumachen, eine Moral zu entwickeln und seine Grenzen kennenzulernen. Ein imaginärer Freund kann auch dazu benutzt werden, um eigene Gefühle mit jemandem zu besprechen. Würden Sie einem Kind, das imaginäre Freunde hat, besondere Charaktereigenschaften zusprechen? Meist handelt es sich dabei um fantasievolle Kinder. Es gibt aber sehr viele, individuelle Gründe für imaginäre Gefährten, man kann es nicht verallgemeinern. Nicht jedes Kind mit einem Fantasiefreund ist einsam. Was raten Sie Eltern, wenn Sie aufgrund von imaginären Freunden bei ihrem Kind beunruhigt sind? Die Tatsache, dass das Kind einen imaginären Gefährten hat, ist an sich kein Grund zur Beunruhigung. Es ist ein völlig normaler Entwicklungsschritt. Es gibt sogar Eltern, die beunruhigt sind, weil ihr Kind keinen imaginären Freund hat. In unserer Praxisgemeinschaft war dieses Thema aber bisher noch nie Hauptgrund, um sich an uns zu wenden. Es ist eher so, dass sich diese Fragestellung als Nebenschauplatz auftut und sich meist als nützliche Strategie des Kindes erweist.
das sie versteckt vor den Nazis in den Wirren des Zweiten Weltkrieges schreibt, an ihre imaginäre Freundin Kitty. Egal, ob im Kindes- oder Jugendalter: Imaginäre Freunde sind eine positive, entwicklungsfördernde Bereicherung. Und wenn sie nicht mehr benötigt werden, verschwinden sie einfach wieder.
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