Powision Ausgabe 11

Page 20

Janne A. Kieselbach Spinnen die Finnen? – Eine Vorzeigedemokratie wird zum Problemfall Nachrichten aus dem abgelegenen Nordosten Europas schaffen es nur selten in unsere Medien. Wenn sie es tun, dann sind sie meist gut: Finnland als PISA-Sieger, Finnland als Vorreiter in Gleichstellungsfragen, Finnland als vorbildlich wirtschaftender EU-Staat. Seit dem Abend des 17. April 2011 ist jedoch eine weitere Facette hinzugetreten, die nicht in die Erfolgsbilanz passen mag und die das Bild einer europäischen Vorzeigedemokratie ins Wanken bringt: Finnland als Heimat von Populisten und Nationalisten. Schon als die ersten Ergebnisse der Wahl zum finnischen Parlament (eduskunta) veröffentlicht wurden, stand fest, dass Europa künftig mit Sorge auf Finnland blicken würde. Die nationalistische Partei Perussuomalaiset (Basisfinnen) schaffte mit 19,1% der Stimmen (15% Zuwachs) den Sprung in die Gruppe der größten Parteien, vor ihr lagen nur die konservative Versammlungspartei (20,4%) und die Sozialdemokraten (19,1%). Die bislang regierende Zentrumspartei wurde mit einem historischen Tiefstwert von 15,8% verdrängt (YLE, 2011a). Die Reaktionen in Europa reichten von Bestürzung bis Schock, hatten die Perussuomalaiset mit ihrem Spitzenkandidaten Timo Soini doch aktiv gegen die europäische Integration im Allgemeinen und die Beteiligung an Euro-Rettungspaketen im Speziellen gewettert. Die ersten Reaktionen im Ausland waren deutlich: Finnland müsse als verlässlicher Partner abgeschrieben werden, eine halbe Millionen Wähler der Nationalisten könnten Europa nachhaltig schaden. Doch wie konnte es zu diesem Umbruch kommen? Welche Entwicklungen tragen dazu bei, dass aus der nördlichen Vorzeigedemokratie ein Problemfall für die EU zu werden droht? Drei miteinander verwobene Ursachenfelder sollen hier angeführt werden: 1. Mangelnde Solidaritätsbereitschaft in der Euro-Krise Zu einem entscheidenden Wahlthema wurde die Frage der Beteiligung an einer möglichen Portugalhilfe. Die Perussuomalaiset lehnen bis heute jede Form der Unterstützung für Staaten ab, die ihrer Meinung nach selbstverschuldet in eine fi-

nanzielle Notsituation geraten sind. Wie eine repräsentative Umfrage der renommierten Zeitung Helsingin Sanomat vom Mai 2011 zeigt, ist die finnische Bevölkerung in der Frage der Beteiligung an Rettungspaketen gespalten: 38% votierten für, 36% gegen eine Hilfe für Portugal, ein Viertel wollte keine Meinung abgeben (Helsingin Sanomat, 2011). Ein häufig genanntes Argument der Gegner liefert die finnische Geschichte: Anfang der Neunziger Jahre geriet das Land in eine heftige Rezession; die Arbeitslosenquote lag zeitweise bei 20%, die Verschuldung des Staates wuchs (Tilastokeskus, 2011b). Diese Phase, von den Finnen als lama bezeichnet, wurde ohne ausländische Hilfe und letztlich dank der Innovationen in der Informations- und Kommunikationstechnologie bewältigt. Die Perussuomalaiset sehen in dieser Erfahrung eine Legitimation für die Verweigerung finnischer Solidarität. Dass der historische Vergleich angesichts der heutigen Existenz einer gemeinsamen Währungsunion hinkt, wird vernachlässigt. 2. Wahrnehmung einer (nicht vorhandenen) wirtschaftlichen Schwäche Die Diskussion über die Beteiligung an EuroRettungspaketen erhält zusätzliche Brisanz durch die Wahrnehmung einer eigenen wirtschaftlichen Schwäche oder zumindest durch die Wahrnehmung des Risikos einer solchen Schwäche. Diese Stimmung mag zunächst verwundern, widersprechen die Kennzahlen doch deutlich: Nachdem das BIP im Jahr 2009 wie in den meisten EU-Mitgliedsstaaten drastisch gesunken war, konnte 2010 wieder ein Wachstum von 3,6% verzeichnet werden (Destatis, 2011; Tilastokeskus, 2011a). Die Arbeitslosenquote stieg zwar im Jahr 2009 auf etwa 8,5% an, seither sinkt sie jedoch ab, im Juli 2011 betrug sie nur noch 6,8% (Tilastokeskus, 2011b). Die Risikowahrnehmung muss also weniger rational als vielmehr emotional begründet werden. Eine der wesentlichen Ursachen dürfte in jenem beklemmenden Schock liegen, den das jüngste Schicksal eines einzigen Unternehmens verursacht: Nokia. Der Telekommunikationskonzern wurde in den Neunziger Jahren zur Basis eines erfolgreichen nationalen Innovationssystems und bestimmte Finnlands Wirtschaftswachstum zeitweise maßgeblich (Ali-Yrkkö &Hermans, 2002). Seit wenigen Jahren befindet sich Nokia jedoch in einer tiefen Krise, weil das Geschäft mit sogenannten Smartphones und Software-Applikationen misslingt. Noch heute wird die Entwicklung des Unternehmens von vielen Finnen eng mit dem wirtschaftlichen Wohlergehen des Landes verknüpft, obwohl dies der wirtschaftlichen Re-


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.