terra cognita 37 | 2021

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angelastet werden. Die finanzielle Notlage sei, sofern nicht selbst verschuldet, auch bei Einbürgerungswilligen – unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit – zu beurteilen. Der Gesetzgeber habe im Bürgerrechtsgesetz explizit vorgesehen, dass «der Situation von Personen, welche die Integrationskriterien infolge gewichtiger persönlicher Umstände nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen erfüllen können, angemessen Rechnung zu tragen» sei. Bundesrätin Keller-Sutter schloss mit den Worten, dass der Bundesrat «die Entwicklung im Ausländerbereich aufmerksam verfolgen und dabei der Situation der von der Coronakrise speziell betroffenen Bevölkerungsgruppe [der Ausländerinnen und Ausländer] angemessen Rechnung tragen» werde.

Weisungen des Bundes Mit Blick auf die aktuelle Situation erliess das Staatssekretariat für Migration SEM im Februar 2021 eine Weisung, welche für die Vollzugsbehörden handlungsleitend ist. Diese enthält unter anderem Vorgaben an die Adresse der Einbürgerungsbehörden. Diese werden angewiesen, den Ermessensspielraum, der ihnen zur ­Verfügung steht, bei der Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse zu nutzen. «Von den Integrationskriterien […] kann immer dann abgewichen werden, wenn die betreffende Person diese aus gewichtigen persönlichen Umständen nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen erfüllen kann. Darunter fällt u. a. eine Sozialhilfeabhängigkeit […]». Gemäss der Weisung stellt ein unverschuldetes Unvermögen zur Integration nicht per se ein Einbürgerungshindernis dar. Die Einbürgerungsbehörden, welche die vorherige finanzielle Situation der einbürgerungswilligen Person abklären, sollen, wo nötig, die konkreten Auswirkungen der Pandemie auf die persönliche wirtschaftliche Situation erheben. Von grosser Bedeutung seien dabei Informationen über den Zeitpunkt des Antrags auf Sozial- und Nothilfe und Nachweise über getätigte Bemühungen zur Vermeidung der Notlage bzw. zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.

Die Teilnahme am Wirtschaftsleben oder an Bildung Im Fokus des bundesrätlichen Aufrufs und der Weisung steht «das Kriterium der Teilnahme am Wirtschaftsleben, bei dem es ebenfalls um Sozialhilfe» geht. Im Einbürgerungsverfahren suchen die Behörden unter anderem nach Antworten auf die Frage, ob Gesuchstellende ihren Lebensunterhalt mit einem Erwerbseinkommen

bestreiten können und ob sie auf absehbare Zeit in der Lage sind, für sich und ihre Familien aufzukommen. Eine Person gilt auch dann als wirtschaftlich unabhängig, wenn ihre Lebenskosten durch Leistungen der Sozialversicherungen oder durch familien- oder scheidungsrechtliche Unterhaltsbeiträge gedeckt werden. Ebenfalls erfüllt ist das Kriterium der «Teilnahme am Wirtschaftsleben», wenn sich Personen zum Zeitpunkt der Gesuchstellung oder der Einbürgerung aus- oder weiterbilden, selbst wenn sie ihre Lebenskosten während dieser Zeit mithilfe von kantonalen Ausbildungszulagen decken. Die «Teilnahme am Wirtschaftsleben» muss sowohl zum Zeitpunkt der Gesuchstellung als auch zum Zeitpunkt der Einbürgerung gegeben sein. Eine Person, die während der Pandemie Kurzarbeitsentschädigungen oder Sozialversicherungsleistungen erhalten hat, muss im Hinblick auf ihr Einbürgerungsgesuch nicht mit negativen Konsequenzen rechnen. Die Einbürgerungsbehörden verfügen über den nötigen Ermes­ senspielraum, um der Situation, die sich aus der Pandemie ergibt, Rechnung zu tragen. Betroffene werden jedoch nachweisen müssen, dass der Bezug von Sozialleistungen nicht selbstverschuldet war und dass sie sich während dieser Zeit bemüht haben, ihre Arbeitsmarktfähigkeit zu erhalten.

Stolperstein «Sozialhilfe» Die Integrationskriterien des Bundes erfüllt jedoch nicht, wer «in den drei Jahren unmittelbar vor der Gesuch­ stellung oder während des Einbürgerungsverfahrens Sozialhilfe» bezogen hat. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass Sozialhilfe als letztes Mittel ausgerichtet wird. Sie kommt erst dann zum Einsatz, wenn die vorgelagerten Sozialleistungen der Invalidenversicherung, der Altersund Hinterbliebenenversicherung und der Arbeitslosenversicherung nicht mehr tragen. Falls in den letzten drei Jahren Leistungen bezogen wurden, müssen die Bezüge vollständig zurückerstattet sein. Der Bezug von Sozialhilfeleistungen ist also grundsätzlich ein Einbürgerungshindernis. Aufgrund der Weisung sind die Behörden jedoch aufgefordert, Ausnahmen zu machen, wenn der Bezug von Sozialhilfe auf die Corona­ krise zurückzuführen ist. Diese Anweisung richtet sich an die Vollzugsbehörden, sprich an die Bundes- und kantonalen Behörden, welche im Auftrag des Bundes Erhebungsberichte erstellen. Diese Berichte stellen für die Bundesbehörden die Grundlage für die Beurteilung der Integration dar. Werden die Bundesbehörden von den kantonalen Behörden in Kenntnis gesetzt, dass der Bezug von Sozialhilfe Corona-bedingt und nicht selbst


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