terra cognita 37 | 2021

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Medizingeschichte

Sündenböcke und Seuchen: Über die Verteufelung des «Fremden» in Zeiten von Pandemien. Flurin Condrau

Pandemien und ansteckende Krankheiten beschäftigen die Menschheit seit Langem. Sie stellen besondere gesundheitliche Herausforderungen dar und waren spätestens seit 1800 wichtige Treiber der staatlichen Gesundheitspolitik. Daneben haben sich Ausbrüche von Infektionskrankheiten aber immer wieder auch als umfassende Gesellschaftskrisen manifestiert. Die wirtschaftlichen Folgen ergaben sich meist kurzfristig und spielten wohl keine entscheidende Rolle. Wichtiger blieb die soziale Dynamik, also die Frage, wie soziale Gruppen und Gesellschaften mit den Krankheitsausbrüchen umgegangen sind.

Pandemien und Epidemien wiesen immer schon Gewinner und Verlierer auf: In einer Gesellschaftskrise verändern sich eben auch die gesellschaftlichen Hierarchien. Aber die Seuchen forderten auch immer wieder Opfer, und zwar sowohl in Bezug auf die Krankheit selbst als auch auf ihre soziale Dynamik.

Religiös motivierte Schuldzuweisungen Die Suche nach Schuldigen ist ein historisch oft zu beobachtender Begleiter von Seuchen und Epidemien. Susan Sontag hat in ihrem bekannten Essay «Krankheit als Metapher» beschrieben, wie im Fall von Krebs die Schuldvorwürfe typischerweise gegen den einzelnen Kranken gehen. Das ist bei Epidemien anders. Hier zielen die Vorwürfe fast immer auf Gruppen, denen eine Verantwortung für den Ausbruch der Epidemie zugeschoben wird. Bereits die Pestausbrüche in der Antike waren begleitet von Gewalt und Angriffen auf Minderheiten. Aber richtig bekannt wurde das Muster im Zusammenhang mit dem Schwarzen Tod ab 1347. Die Pestwellen des Spätmittelalters waren enorme Bevölkerungskrisen mit einer Sterblichkeit von rund 30 Prozent der Bevölkerung. Damit verbunden war eine breite Wirtschafts- und Gesellschaftskrise, die in den Städten vor allem durch Zuwan-

derung aus ländlichen Regionen überwunden werden konnte. Dabei wurden solche Pestepidemien zu mehr oder weniger regelmässigen Begleitern des Lebens. So erlebte etwa der Basler Stadtarzt Felix Platter (1536– 1614) im Laufe seines Lebens sieben solche Ausbrüche. Natürlich lag es nahe, dass eine stark religiös dominierte Welt einen solchen Ausbruch auch religiös interpretierte. Religiöse Phänomene wie die auf Schweizer Gebiet nachweisbaren «Geisslerzüge», bei denen sich Männer zur Abgeltung einer göttlichen Strafe öffentlich geisselten und die von der Kirche bald zur Ketzerei erklärt wurden, verdeutlichen die damalige Welt­ ­ anschauung. An der Schnittstelle von Religions- und Gesellschaftskrise waren die Verfolgungen jüdischer Gemeinden ein direkter Begleiter der lokalen Pestausbrüche. Im Alten Testament hatte die Bibel eine Erklärung für die Krise parat, galt dort doch eine Pestilenz als Gottesstrafe für die sündigen Städte. Das öffnete Gerüchten, dass die jüdischen Gemeinden durch Brunnenvergiftungen oder andere Schandtaten direkt für die Pestausbrüche verantwortlich seien, Tür und Tor. Es ist bemerkenswert, wie flächendeckend die jüdischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum verfolgt wurden: Ab 1347 lassen sich über 200 solcher Angriffe wegen des Schwarzen Tods dokumentieren. Alleine auf dem Gebiet der heutigen Schweiz wurden in dieser Phase 28 jüdische Gemeinden durch Morde und Vertreibungen zerstört. Offenbar tolerierte der Zürcher Bürger-


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