Komitologie - Europas Macht in unbekannten Händen - von Daniel Guéguen

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KOMITOLOGIE Europas Macht in unbekannten Händen Wie der kleinste EU-Beamte zum Herren des Verfahrens wird

von Daniel Guéguen

Herausgeber: Christian Wenning


© Wenning Services Alle Rechte vorbehalten Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Guéguen, Daniel: „Komitologie: Europas Macht in unbekannten Händen – Wie der kleinste EU-Beamte zum Herren des Verfahrens wird –“ Herausgeber: Christian Wenning, Wenning Services Berlin/Brüssel 2013. Erschienen erstmals 2010 im französischsprachigen Original unter dem Titel „Comitologie: Le Pouvoir Européen Confisqué“ Deutsche Übersetzung: Dominika Tondera in Zusammenarbeit mit Hendrik Meerkamp Lektorat: Karen Matzke Gestaltung und Satz: Lena Lamp, Wenning Services Herstellung: polisphere e.V.

ISBN 978-3-9-3845658-3


Vorwort des Herausgebers

„Wer regiert wen?“ wird eine Frage der Vergangenheit sein. Weder die im Internet recherchierenden Bürgerinnen und Bürger noch der riesige Mittelbau jener, die Politik machen oder beeinflussen wollen, werden die Geheimniskrämerei in der Entscheidungsfindung weiter zulassen. Die Fraktionen im Deutschen Bundestag werden nicht lange dem Druck standhalten können zu registrieren und zu veröffentlichen, wer im Hohen Hause ein und aus geht. Regierende Politiker und Beamte werden es schwer haben, Gesetzgebungsprozesse vor dem Auge der Öffentlichkeit zu verbergen. Es findet zurzeit ein Übergang statt von der alten Welt der Entscheidungsfindung als „Black-Box“ zu einer transparenteren Demokratie. Die Schwierigkeit an diesem Übergang liegt in der Informationsverarbeitung. Auf der einen Seite werden die sich öffnenden Beamten von unermüdlichen Lobbyisten mit Input überfordert – in Ermangelung einer ausgereiften Kontakt- und Filterkultur. Auf der anderen Seite kann sich die breite Öffentlichkeit höchstens punktuell in die immer komplexeren Verfahren –3–


einbringen. In Anbetracht von oft jahrelangen Gesetzgebungs­prozessen nimmt sich eine einzelne Onlinebefragung doch recht bescheiden aus, wenn sie überhaupt gemacht wird. Politiker und Beamte berichten zugleich über zahllose Gespräche und Anfragen und entscheiden selbst, wann und bei wem sie aufnahmefähig sind und wann nicht. Ein launisches politisches System, das seine Bürger, Unternehmen und den Politikapparat mit der Bitte um Anstand alleine lässt. Wer positive Themen, gute Presse, Stiftungsgelder, wissenschaftliche Studien, Redeforen oder sonstigen Mehrwert zu bringen vermag, hat eben Glück gehabt. Demokratisch ist das nicht. Die EU hat aber den Anspruch, eine Demokratie zu sein. Ihre Weiterentwicklung wird aus Angst vor Volksabstimmungen und Populismus oft verschoben und ihr Budget von den nationalen Regierungen zu klein gehalten. Man kann so viel ja auch ohne Vertragsänderungen regeln. Korrekt – aber richtig? Statt offen mit den europaweiten Herausforderungen umzugehen, ziehen es nationale Politiker allzu oft vor, die Verantwortung an die Hinterzimmer zu delegieren. Einzelne Beamte bekommen dabei so viel Verantwortung, dass aufmerksamen Betrachtern unwohl wird. Eine der hoch organisierten Formen des Delegierens weg von der Politik ist die Komitologie. Dieses Buch analysiert nicht die Tatsache, dass wenige in der Politik viel entscheiden, sondern was passiert, wenn Politiker die Entscheidung an die Verwaltung abgeben. Es ist ein provokanter und lehrreicher Beitrag zu einer hoffentlich weiterhin lebendigen Debatte, den man dankend annehmen sollte. Christian Wenning Berlin, im Mai 2013

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Vorwort des Autors

„Komitologie“ ist seit einigen Jahren Schlagwort der Stunde in Brüssel. Sowohl dort als auch in den europäischen Hauptstädten steht sie für eine höhere, mysteriöse und undurchsichtige Macht. Ohne sie käme die Europäische Union zum Stillstand, doch mit der Zeit sind im System Probleme aufgetreten. Insbesondere hinsichtlich Transparenz, Governance, und Machtgleichgewicht zwischen Kommission, Parlament und Rat müssen Lösungen gefunden werden. Beim heutigen, post-Lissabonner System kann man eigentlich kaum mehr von „Komitologie“ sprechen, denn in der Rechtsetzung durch delegierte Rechtsakte gibt es keine Komitees mehr! Auch wenn sich der Titel des Buches aus Wahrnehmungsgründen weiterhin auf „Komitologie“ bezieht, werde ich im Buch meist von „sekundärer Rechtsetzung“ schreiben, wenn ich mich auf das Komitologiesystem nach Lissabon beziehe. Bei der Vorbereitung dieses Buches traf ich 30 außerordentlich kompetente Experten zum Ideenaustausch: Beamte der Kommission, des Parlaments und des Rats, Parlamentsabgeordnete, Rechtsprofessoren, und Leiter großer europäischer Lobby-Unternehmen. Ihnen möchte ich an dieser Stelle ganz besonders für ihre Meinungen und Stellungnahmen danken. –5–


Bei der Ausarbeitung und Aktualisierung dieses Buches waren mir Vicky Marissen, Dominika Tondera und Hendrik Meerkamp eine große fachliche Stütze. Nach dem Vertrag von Lissabon ist die Komitologie so komplex geworden, dass die Argumentation dieses Buches ohne ihr Gegenlesen und ihre Korrekturen weit weniger schlüssig geworden wäre. Mein besonderer Dank gilt schließlich Christian Wenning und seinem Team, die an der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe maßgeblich beteiligt waren. Die französischsprachige Erstausgabe „Comitologie – Le Pouvoir Européen Confisqué“ wurde 2010 zum Buch, das die Mitgliedstaaten und die Zivilgesellschaft auf die Gefahren der post-Lissabonner Komitologie aufmerksam machte. Drei Jahre nach der Erstveröffentlichung bringt diese Ausgabe nun die Erfahrungen der ersten Jahre unter dem neuen Komitologiesystem zusammen und bestätigt meine pessimistische Prognose aus dem Jahr 2010, dass Interessenvertreter im neuen System zunehmend desillusioniert und frustriert sein würden. So ist es nicht verwunderlich, dass in einigen Fällen bereits der Gerichtshof der EU eingeschaltet worden ist. Dies hat mich im September 2012 – zusammen mit Vertretern einiger Berufsverbände und NGOs – dazu bewogen, ein Manifest zur Reform der europäischen sekundären Rechtsetzung zu verfassen, das Sie am Ende dieses Buches finden und unterstützen können. Daniel Guéguen Brüssel, im Mai 2013

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Inhalt Vorwort des Herausgebers....................................................................................................................................... 3 Vorwort des Autors........................................................................................................................................................... 5 Geleitwort..................................................................................................................................................................................... 9

Teil 1 Das institutionelle Machtgefüge der EU: Über Drahtzieher und Mitläufer................................................................................................................. 11 01 Der kleinste Verwaltungsbeamte als Herr der EU................................................. 13 02 Das Parlament ist kein „echtes“ Parlament, die Kommission keine „echte“ Regierung........................................................................ 21 03 Die Komitologie von der Geburt bis zum unabdingbaren Bestandteil der Brüsseler Politik..................................................... 31 04 1987: Die erste Reform, eine Wiederbelegung des europäischen Integrationsprozesses................................................................................ 43 05 1999: Die zweite Reform, ein Kompromiss, der das Parlament frustriert.................................................................................................................. 47 06 2006: Die dritte Reform, ein Meilenstein für das Parlament – mit Abstrichen!......................................................................................... 51

Teil 2 Der Vertrag von Lissabon: Auf in ein organisiertes Chaos!...................................... 61 07 Sekundäre Rechtsetzung nach Lissabon: Drei Achsen, drei Verfahren................................................................................................................ 63 08 Das (erneute) Kopfzerbrechen um das Screening des EU-Besitzstandes.................................................................................................................................... 83

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Teil 3 Sekundäre Rechtsetzung in der Praxis: Ein Wechselspiel der Kräfte................................................................................................................................ 85 09 Sekundäre Rechtsetzung als „intransparenter Eisberg“................................... 87 10 Die Kommission als Klassenbeste: Die Fachkenntnis der Institutionen und Lobbyisten in der sekundären Rechtsetzung................................................... 91 11 Abgeordnete, Beamte und Lobbyisten im Komitologie-Alltag................................................................................................................................ 95 12 Die sekundäre Rechtsetzung als Hürdenlauf für Lobbyisten..................................................................................................... 107

Teil 4 Lektionen aus Vergangenheit und Gegenwart....................................................................... 111 13 Es gibt viel zu tun: Denkanstöße für eine Optimierung des europäischen Entscheidungsprozesses........................... 113 14 Ein Manifest zur Reform der europäischen sekundären Rechtsetzung............................................................... 123 Über den Autor...............................................................................................................................................................129

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geleitwort

Dies ist keine juristische Abhandlung!

Dieses Buch behandelt ein sehr aktuelles und in Brüssel kontrovers diskutiertes Thema. Fachkundige Leserinnen und Leser werden feststellen, dass die eine oder andere Schilderung vereinfacht dargestellt ist. Das ist beabsichtigt. Es werden sich hier und da zudem einige technische Verallgemeinerungen und karikierte oder verzerrte Darstellungen der Realität finden. Diese sind ebenso gewollt. Würde ich die europäische sekundäre Rechtsetzung – wie ich die im Zuge des Vertrags von Lissabon reformierte Komitologie heute nenne – aus einem rein juristischen Blickwinkel analysieren, würde sich die Leserschaft dieses Buches automatisch auf einen kleinen Kreis Experten reduzieren. Das ist nicht mein Ziel. Es geht mir in diesem Buch vielmehr darum, die europäische sekundäre Rechtsetzung von einem politischen Standpunkt aus zu analysieren: Wie gestalten sich die Machtverhältnisse zwischen Politik und Verwaltung? Wer setzt sich letztlich durch, die Gesetzgeber oder die europäischen Verwaltungsbeamten?

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Das heutige System der sekundären Rechtsetzung hat in den letzten drei Jahren so sehr an Bedeutung gewonnen, dass es unerlässlich ist, es genau zu verstehen, bevor weitere Debatten geführt werden: Wodurch ist die sekundäre Rechtsetzung gekennzeichnet? Was versteht man unter Durchführungsbestimmungen? Wer entscheidet was und wann? Inwiefern generiert das System undurchschaubare Machtstrukturen innerhalb der Europäischen Union? Wer profitiert von der Komitologiereform nach Lissabon? Und gelingt es der Kommission wirklich, ihre quasi-legislativen Befugnisse noch weiter auszubauen? Es handelt sich bei diesem Buch – wie in der Überschrift bemerkt – nicht um eine juristische Abhandlung, zumindest nicht ausschließlich. Vielmehr geht es um Transparenz, Governance und Demokratie. In diesem Sinn richtet sich das Buch an die größtmögliche Leserschaft – es soll zu einer objektiven und rationalen Debatte beitragen, die eine Voraussetzung jeglicher politischer Entscheidung ist. So ist das Ziel dieses Buches, eine öffentliche Auseinandersetzung zu diesem oft mühsamen, aber bedeutenden Thema anzustoßen, die Ergebnisse der letzten Reform im Jahr 2009 zu bewerten und Denkanstöße für eine Optimierung der heutigen Rechtsetzungsverfahren vorzulegen. Denn bei aller Dramatik der europäischen Schuldenkrise bietet sich aktuell doch eine Gelegenheit, die Entscheidungsprozesse und die Institutionen der EU endlich einfacher, transparenter und ausgeglichener zu gestalten. Dies ist gerade vor dem Hintergrund wichtig, dass die Mitgliedstaaten momentan wieder verstärkt ihren nationalen Interessen statt der europäischen Einigungsidee Vorrang zu geben scheinen.

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Teil 1 Das institutionelle Machtgefüge der EU: Über Drahtzieher und Mitläufer

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01 Der kleinste Verwaltungsbeamte als Herr der EU

Innen wie außen: Die Brüsseler Machtarchitektur

Die Architektur der Macht ist in Raum und Zeit universell – von Ägypten bis Babylon, vom Mogulreich bis zum Schloss von Versailles. Auch im heutigen Paris. All die Säle, Säulen und Skulpturen in der französischen Nationalversammlung, im Senat und im Élysée-Palast – sie alle sind Ausdruck von Macht. Oder in Washington. Es gibt wohl nichts, was den visuellen Ausdruck von Macht so vollendet darstellt wie das Kapitol: Der Gesetzgeber, auf einer Anhöhe aus allen Himmelsrichtungen sichtbar, verkörpert exemplarisch die Vorrangstellung und die Vorherrschaft des Volkes gegenüber der Exekutive, die vom niedriger gelegenen und bescheidener wirkenden Weißen Haus verkörpert wird. Dazwischen liegt die Mall – ein großzügig angelegter Park für die Bürgerinnen und Bürger – die durch die allgegenwärtige Sicht des Kapitols und des Washington Monument das Symbol der US-amerikanischen Nation ist. Anders als Raum und Zeit spielt Größe in der Architektur der Macht keine wesentliche Rolle: Die Downing Street Nr. 10 ist ein kleines Haus in einer kleinen Gasse – trotzdem ist der Ort zu einem Mythos geworden, der aus vielerlei Gründen Macht ausstrahlt. – 13 –


Der kleinste Verwaltungsbeamte als Herr der EU

Auch Alter spielt, wie Größe, keine Rolle. Die Mitte des 20. Jahrhunderts gestaltete brasilianische Hauptstadt Brasilia ist zwar groß, kalt und weitläufig, doch die damalige Regierung versuchte zumindest, der neuen Hauptstadt auch das Aussehen einer Hauptstadt zu verleihen, indem sie mit Oscar Niemeyer einen der weltweit bedeutendsten Architekten für ihr Mammutprojekt auswählte. Der Zustand des europäischen Viertels in Brüssel ist hingegen beklagenswert – und schlimm ist, dass dies niemanden schockiert oder dass niemand ernsthaft versucht hat, den Zustand nachhaltig zu verbessern. Der Begriff „Brüsselisierung“ ist mittlerweile zum Inbegriff einer Umwandlung heruntergekommener Wohngebäude zu grauen Bürokomplexe geworden. Damit ist wohl alles gesagt. Noch vor einem Jahrhundert war Brüssel neben Wien eine der zwei schönsten Städte Europas. Die Rue de la Loi symbolisierte die industriellen und künstlerischen Erfolge Belgiens. Sie bildete die Verlängerung des königlichen Palastes und führte – von herrschaftlichen Stadtpalais gesäumt – zum durch den vom französischen Architekten Charles Girault gestalteten Jubelpark, mündete in die Avenue de Tervuren, verlief entlang der Mellaerts-Weiher, durchquerte den lichten Brüsseler Stadtwald und endete schließlich an einer grandiosen Esplanade zu Füßen des Schlosses von Tervuren. Heute ist das europäische Viertel um die Rue de la Loi nichts mehr als ein Monstrum, das den Abgasen des dichten Verkehrs Tag und Nacht so stark ausgesetzt ist, dass alle dreißig Jahre grundlegende Renovierungsarbeiten anfallen. Seit fünfzig Jahren werden im europäischen Viertel somit drei Kernkriterien der Architektur konsequent ignoriert: Es fehlt ein städteplanerisches Konzept, es gibt keine kulturelle Dimension und den Bürgerinnen und Bürgern wird durch die technokratische Atmosphäre kein Platz eingeräumt. Was im europäischen Viertel am stärksten verwundert, ist nicht die Hässlichkeit der Gebäude. Einige sind sogar gut gelungen und in letzter Zeit – 14 –


Der kleinste Verwaltungsbeamte als Herr der EU

konnte man einen Willen zur Wiederbelebung und Renovierung spüren, doch einzeln betrachtet scheinen die Gebäude von Kommission (Berlaymont und Charlemagne) und Rat (Justus Lipsius – welch ein Name!) konzeptlos und ohne Harmonie zueinander gebaut. Keines der Gebäude ist ästhetisch mit seinen Nachbarn verbunden oder stünde mit seinem Umfeld in funktionellem Einklang. Der Kreisverkehr Schuman ist das beste Beispiel für etwas, das man lieber nicht hätte bauen sollen. Bis vor kurzem noch war die Straßenkreuzung Belliard/Froissart – die im Herzen des europäischen Viertels und nur 100 Meter vom Rat, 200 Meter von der Kommission und 300 Meter vom Parlament entfernt liegt – eine 10.000 m2 große Ruine. Um das Borschette-Zentrum (eine Art düsterer Bunker, in dem eine Reihe Ausschüsse tagen), das Beaulieu-Viertel (das an die Generaldirektion Umwelt übergeben wurde) und auch um das Plateau Kirchberg in Luxemburg steht es nicht viel besser. Eine genauere Schilderung würde Sie der europäischen Sache an dieser Stelle gewiss nicht näherbringen. Nirgends gibt es ein Kunstwerk, eine Skulptur oder ein anderes greifbares Andenken an die Gründungsväter der Europäischen Union. Keine Spur eines Denkmals für Jean Monnet. Nichts, das an die glorreiche Geschichte der Union in ihren zielstrebigsten Jahren erinnern würde. Weit und breit keine Einkaufsgalerien, Festhallen oder ein anderer triftiger Grund, weshalb sich ein Brüsseler Einwohner freiwillig in das europäische Viertel begeben sollte. Nichts, das Europa den Bürgerinnen und Bürgern nahebringen könnte. Schlimm ist diese Situation vor allem deshalb, weil sie, wie eingangs erwähnt, aufgrund von Desinteresse, Trägheit und Unvermögen der Entscheidungsträger fortdauert. Vor ein paar Jahren legte der französische Architekt Portzamparc einen Plan zur Neugestaltung des europäischen Viertels vor, doch das Projekt ist so ehrgeizig, dass es wohl kaum je realisiert werden wird: Man müsste das gesamte Stadtviertel abreißen und von Grund wieder aufbauen. Da das wohl kaum möglich ist, entstehen weiter neue einzelne Gebäudeteile, und Renovierungsarbeiten gehen nach wie vor ohne Gesamtkonzept vonstatten. – 15 –


Der kleinste Verwaltungsbeamte als Herr der EU

Das Europäische Parlament in der Nähe des Place Luxembourg bildet im Europaviertel mit seiner schönen, modernen – wenn auch etwas kalten, aber der Außenwelt zugänglichen – Architektur eine Ausnahme. Lobbyisten sind willkommen und Reisebusse voller Besucher finden jeden Tag den Weg zum Besucherzentrum. Die Ausnahme bestätigt also auch im europäischen Viertel die Regel, auch wenn das Europäische Parlament natürlich immer noch kein „echtes“ Parlament ist, da es im Gegensatz zu anderen Parlamenten kein legislatives Initiativrecht hat. Auch die Mitgliedstaaten verfügen übrigens nicht über dieses Privileg. Es fällt nahezu ausschließlich in den Kompetenzbereich der Kommission. So präsentiert sich die Europäische Union äußerlich als genau das Konstrukt, das tatsächlich aus ihr geworden ist: als riesiger technokratischer Apparat, dessen Herr seine Verwaltungsbeamten sind.

Die Kommission: Das Machtzentrum der EU

Die Beamten der Kommission lassen sich auf vielerlei Weise beschreiben: Sie gelten gemeinhin als kompetent, integer, neutral gegenüber Mitgliedstaaten, pro-europäisch, vielsprachig, multikulturell, entschlossen, proaktiv, arrogant, ehrgeizig, frustriert oder als Verfechter des Allgemeinwohls – ein Portrait würde wohl all diese Eigenschaften kombinieren. Doch ein Wort fehlt in der Aufzählung noch: machtvoll. Denn die Kommission ist das Machtzentrum einer EU, aus deren Recht nicht weniger als 75 Prozent der Gesetze der Mitgliedstaaten hervorgehen. Im Umweltbereich ist dieser Prozentsatz mittlerweile sogar auf 83 Prozent angestiegen. Im Laufe der Jahre – und insbesondere seit der Vollendung des Binnenmarktprojekts am 1. Januar 1993 – hat sich Macht zunehmend von der nationalen auf die europäische Ebene verschoben. Wie viel Macht bleibt den Mitgliedstaaten noch, wenn man die an Brüssel abgetretenen – 16 –


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Entscheidungsbefugnisse und die Kompetenzen der Welthandelsorganisation in Betracht zieht? Unter dem Strich ist es nicht viel – und schließt man außerdem den Verlust der monetären Souveränität der Euro-Länder ein, bleiben im Grunde fast gar keine Gestaltungsmöglichkeiten übrig: Von den Brüsseler Bestimmungen zu Konvergenzkriterien und Verschuldungs- und Defizitobergrenzen bis zur Festlegung der Leitzinssätze durch die Europäische Zentralbank und dem damit verbundenen Verlust, ihre Währung abwerten zu können – die Mitgliedstaaten haben mittlerweile erstaunlich wenig Macht zurückbehalten. Unseren Volksvertretern mag es schwerfallen, dies einzugestehen, doch ob man nun französischer Präsident oder deutsche Bundeskanzlerin ist, der Schwerpunkt der Macht liegt mittlerweile in Brüssel. Der Rest ist Nebensache. Doch wo genau wird diese Macht ausgeübt, wenn man von „Brüssel“ und „der Kommission“ spricht? Geschieht es in den höchsten Sphären der europäischen Verwaltung (also auf Generaldirektorenebene) oder im politisch geprägten Kollegium der Kommissionsmitglieder? Oder aber wird Macht auf der unteren, operativen und technischen Ebene der einzelnen Referate ausgeübt? Eine kleine Anekdote kann darüber Aufschluss geben. Nachdem ich zunächst in der europäischen Zuckerlobby und später in der Landwirtschaftslobby in führender Position tätig gewesen war, gründete ich Anfang 1996 ein eigenes Beratungsunternehmen. Einige Monate später erhielt ich von einem Vertreter eines weltweit operierenden Herstellers von Erfrischungsgetränken den Auftrag, eine Liste mit den in der EU für seine Unternehmensgruppe zehn wichtigsten Personen aufzustellen. Das tat ich und ein Mann namens Gilbert Mignon stand ganz oben auf meiner Liste. Dieser Name sorgte bis in die Zentrale des Unternehmens in den USA für große Verwunderung. Wer denn dieser Gilbert Mignon sei und welche – 17 –


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Funktion er überhaupt innehabe? Und vor allem: warum gerade er auf der Liste an erster Stelle stehe und nicht sein Direktor, sein stellvertretender Direktor, sein Generaldirektor oder sein zuständiger Kommissar? Die Antwort war einfach. Gilbert Mignon war der Schlüsselmann im „Zuckerreferat“ (ohne dessen Leiter zu sein), einem Referat der Generaldirektion Landwirtschaft (damals: DG VI, heute: DG AGRI). Das „Zuckerreferat“ ist sowohl für alle technischen (Exporte, Importe, AKP, Erstattungen, Lagerungen, Ausschreibungen, usw.) als auch für alle politischen (Preise, Gemeinschaftspräferenzen, Produktionsquoten, usw.) Fragen der Zuckerpolitik der Europäischen Union zuständig und war somit für den Getränkekonzern von entscheidender Bedeutung. Gilbert Mignon hatte zunächst als „Desk Officer“ (Beamter der untersten Verwaltungsebene) in dieser Abteilung gearbeitet, war später zum Hauptverwaltungsrat befördert worden (Beamter der ebenfalls unteren Funktionsebene) und sollte seine Karriere schließlich als stellvertretender Referatsleiter beenden. Er hatte einen exzellenten Überblick über die Zuckerpolitik, zeichnete sich durch eine sehr strategische Denkweise und große Glaubwürdigkeit aus, arbeite überaus enthusiastisch und besaß die nötige Überzeugungskraft, um seine Meinungen gegenüber seinem Generaldirektor zu verteidigen und ihn von diesen zu überzeugen. Das machte ihn zum „Mister Zucker“ der Kommission. Das Phänomen, dass Beamte der unteren Verwaltungsebene Einfluss ausüben, der weit über ihre Position innerhalb der Verwaltungshierarchie hinausgeht, ist nicht erstaunlich. Hunderte – vielleicht Tausende – Gilbert Mignons arbeiten in der Kommission. Fachliche Kompetenz ist eines der Schlüsselkriterien, um Einfluss in Brüssel zu erlangen, und die kompetenten Kommissionsbeamten sind hierfür das beste Beispiel, weil sie für Ungenauigkeiten, Allgemeinheiten und überflüssiges Gerede nichts übrig haben. Denn auch wenn der europäische Verwaltungsapparat oft heftiger Kritik ausgesetzt ist, ist er doch vorbildlich: sehr kompakt – 18 –


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(für die Verwaltung der europäischen Landwirtschaft sind beispielsweise nur rund 1000 Beamte zuständig!), strukturiert und kompetent. Auch handeln die Kommissionsbeamten meistens neutral und unabhängig von ihrem Herkunftsland und sind bemüht, das europäische Gemeinwohl zu vertreten. Natürlich mangelt es ihnen nicht an persönlichen politischen Überzeugungen, doch im Allgemeinen folgen sie loyal den Vorgaben ihrer Vorgesetzten. Dennoch ist eine negative Entwicklung zu beobachten, denn viele Beamte neigen zunehmend dazu, ihre Sichtweise als die der Kommission darzustellen. Statt zu sagen „ich denke“ oder „die Generaldirektion denkt“ finden sie es oft bequemer – und befriedigender – zu sagen „die Kommission denkt.“ Das ist eine zwar wirkungsvolle, aber auch arrogante Strategie, die eine nicht akzeptable Vereinfachung der Umstände darstellt. Diese Arroganz vieler Kommissionsbeamter rührt von einem Gefühl der Überlegenheit her, die sie gegenüber den anderen Institutionen empfinden. Früher sandte die Kommission beispielsweise einen Direktor, um einen Entwurf zu vertreten, der gerade vom Wirtschafts- und Sozialausschuss geprüft wurde. Später schickte sie einen Abteilungsleiter, dann dessen Stellvertreter und heute oft nur noch einen Hauptverwaltungsrat. Auch gegenüber dem Parlament verhält sich die Kommission nicht anders. Zwar begegnet sie ihm mit Respekt; doch allzu oft schätzt sie es wenig und wirft ihm Kompetenzmangel, politischen Opportunismus und einen Hang vor, sich unnötig einzumischen. Dieses jüngste Auftreten der Kommissionsbeamten spiegelt sich auch im System der sekundären Rechtsetzung wider: Es ist von zunehmender Arroganz der Kommission geprägt, von ihrem Bewusstsein fachlicher Überlegenheit und von ihrer Neigung, sich stets als wohlwollende Vertreterin des Gemeinnutzes zu präsentieren.

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Der kleinste Verwaltungsbeamte als Herr der EU

Dieses Buch zeichnet die Geschichte eines Verwaltungsapparates nach, der zwar viele Tugenden aufweist, der aber durch seine zunehmende Abkapselung die von den Mitgliedstaaten an ihn delegierte Macht in Beschlag nimmt und immer mehr nach eigenem Gutdünken handelt. Es zeigt, wie die Kommission die demokratische Kontrolle durch die Gesetzgeber geringschätzt, ganz so, als ob Rat und Parlament – die zusammen die vorherrschenden Institutionen in der EU sein sollten – sich den Entscheidungen einer tonangebenden Verwaltung unterordnen müssten. Mit jeder Reform ist die demokratische Kontrolle über die Kommission geringer geworden. Diese Tendenz wird durch die Neigung der Mitgliedstaaten noch verstärkt, immer mehr auf nationale Interessen statt auf die Vertiefung der europäischen Integration zu setzen. Die europäische Union ist heute an einem Punkt angelangt, an dem unter gewissen Bedingungen (die glücklicherweise beschränkt sind) die Kommission – oder sogar ein einziger Beamter, wenn er von seinen Vorgesetzten nicht gezügelt wird – eine weitreichende Entscheidung durchsetzen kann, die nur mit Einstimmigkeit (!) der 27 Mitgliedstaaten im Ministerrat abgewendet werden kann.

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02 Das Parlament ist kein „echtes“ Parlament, die Kommission keine „echte“ Regierung

Das Initiativrecht bei der Kommission, nicht beim Parlament

Ich habe höchsten Respekt vor dem Europäischen Parlament, seine Geschichte spricht für sich. Während es lange Zeit lediglich ein einfaches beratendes Organ war, dessen Abgeordnete von den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten entsandt wurden, ist es heute eine der Achsen im institutionellen Dreieck, auf Augenhöhe mit Ministerrat und Kommission. Von der Einheitlichen Europäische Akte 1987 bis zu den Verträgen von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon gewann das Parlament mit jeder Vertragsreform an Legitimität und Befugnissen. Legitimität gewann das Parlament vor allem 1979, als die erste allgemeine und direkte Wahl der Europaabgeordneten stattfand und das Ansehen der europäischen Parlamentarier deutlich stieg. Die Zeiten, in denen sich ausschließlich die auf der nationalen Bühne verbrannten Politiker im Europäischen Parlament wiederfanden, sind längst vorbei. Heute ist das Engagement der gewählten Abgeordneten ungebrochen, ihre Kenntnisse über Vorgänge anerkannt, ihre Offenheit gegenüber der Zivilgesellschaft unbestritten und ihr Wille zum parteiübergreifenden Dialog beachtenswert. – 21 –


Das Parlament ist kein „echtes“ Parlament, die Kommission keine „echte“ Regierung

Eine ähnliche Entwicklung fand über die Jahre hinweg auch hinsichtlich seiner erworbenen Befugnisse statt. Mit den Vertragsänderungen wurde das Mitentscheidungsverfahren, bei dem Parlament und Ministerrat gleichgestellt sind, immer mehr zur Regel. Mittlerweile gilt es sogar für die Gemeinsame Agrarpolitik, die ein halbes Jahrhundert lang ausschließlicher Wirkungsbereich der Mitgliedstaaten (Ministerrat) war. Aber so wichtig diese Gesetzgebungsaktivitäten auch sind, sie verkörpern doch nur eine Facette der Macht des Parlaments. Sieht man nämlich von seinen zweitrangigen Befugnissen ab (wie beispielsweise dem Recht, schriftliche und mündliche Anfragen zu stellen, öffentliche Anhörungen einzuberufen und Empfehlungen und Entschließungen zu verabschieden), besitzt das Parlament drei weitere wesentliche Befugnisse: • Die Haushaltsbefugnis (das Recht, den Haushaltsplan zu diskutieren, ihn zu verabschieden und dessen Ausführung zu genehmigen). Lange Zeit hatte der Ministerrat eine klare Vorrangstellung bei der Verabschiedung des Haushaltsplans inne, bis der Vertrag von Lissabon dem Parlament und dem Ministerrat gleiche Rechte einräumte – mit einem leichten Vorteil für den Rat bei der Verabschiedung des siebenjährigen Finanzrahmens und einem leichten Vorteil für das Parlament beim Beschluss des jährlichen Haushaltsplans. • Befugnisse im Rahmen des Zustimmungsverfahrens. Das Zustimmungsverfahren betrifft eine der wichtigsten Gewalten des Parlaments, auch wenn das – von Juristen abgesehen – kaum Beachtung findet. Im Zustimmungsverfahren kann das Parlament beispielsweise den Beitritt eines Landes zur EU ablehnen oder gegen die Unterzeichnung einer bedeutenden internationalen Übereinkunft mit einem Drittstaat ein Veto einlegen. So könnte es sich demnach auch der Ratifizierung von Abkommen widersetzen, die von der Kommission im Rahmen der Welthandelsorganisation ausgehandelt wurden.

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Das Parlament ist kein „echtes“ Parlament, die Kommission keine „echte“ Regierung

• Die letzte zentrale Befugnis des Europäischen Parlaments – und hier ist es den nationalen Parlamenten sehr ähnlich – ist das Recht, ein Misstrauensvotum gegenüber der Kommission abzuhalten. So hat das Parlament bei einem Quorum von mindestens 50 Prozent die Möglichkeit, mit einer Zweidrittelmehrheit den Rücktritt des gesamten Kommissionskollegiums zu erzwingen. Ein für eine gesetzgebende Versammlung ausgesprochen erstaunliches Problem ist jedoch, dass das Europäische Parlament nicht die gesamte Bandbreite dieser drei Befugnisse ausnutzt oder es nur in einem minimalen Umfang tut – ganz so, als ob es vor seiner eigenen Macht zurückscheute. Betrachten wir die Befugnisse des Europäischen Parlaments nochmals genauer: • Das Recht zum Misstrauensvotum, das die Kommission besonders fürchtet: Alle Misstrauensanträge bis 1997 (1972, 1977, 1993 und 1997) blieben ohne Erfolg. Selbst der Rücktritt der Santer-Kommission im Jahr 1999 war nicht Ergebnis eines Misstrauensantrags, sondern Resultat der Befürchtung eines solchen Antrags. Ähnlich verhielt es sich bei der Wahl des Kommissionskollegiums im Jahr 2004, als es nach einer Anhörung des designierten italienischen Kommissars Buttiglione im Parlamentsausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) zu einem negativen Abstimmungsergebnis gekommen war: Der designierte Präsident der Kommission, Barroso, zog Buttiglione als Kandidaten zurück, da er befürchtete, dass das Parlament das gesamte Kollegium ablehnen könnte. • Das Haushaltsrecht: Eine minimale Anwendung seiner Rechte ist auch bei der jährlichen Verabschiedung des Haushaltsplans zu beobachten. Wo es früher oft heftige Auseinandersetzungen mit der Kommission oder dem Rat gab – insbesondere, als das Parlament 1979 und 1984 den Haushaltsplan ablehnte – kam es in den letzten zwanzig Jahren nur noch zu kleineren haushaltspolitischen Auseinandersetzungen, bei denen jede Seite nur ihr Territorium abgrenzte, ohne sich gegenseitig wirklich – 23 –


Das Parlament ist kein „echtes“ Parlament, die Kommission keine „echte“ Regierung

anzugreifen. Insgesamt übt das Parlament seine haushaltspolitischen Befugnisse genauso stümperhaft aus wie sein Recht zum Misstrauensvotum. • Das Zustimmungsrecht: Auch das Zustimmungsrecht wird vom Parlament nur sehr selten als Machtinstrument eingesetzt. Meines Wissens hat das Parlament bis auf die Ablehnung des ACTA-Abkommens noch nie seine Zustimmung verweigert. Es stimmt, dass sich dies mit den politischen Positionen des Parlaments der letzten zwanzig Jahre erklären lässt. Es war EU-Erweiterungen stets wohlgesonnen und den von der EU mit der Welthandelsorganisation abgeschlossen Freihandelsabkommen gegenüber positiv eingestellt. Trotzdem muss man schlussfolgern, dass das Parlament ein wichtiges Recht hat verkümmern lassen. Was im Übrigen die bereits erwähnte Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments anbelangt, so ist diese in Wirklichkeit lediglich eine Ko-Gesetzgebungsbefugnis: Mit Ausnahme einiger (immer seltener werdenden) Fälle, in denen der Ministerrat sogar alleiniger Gesetzgeber ist (Konsultationsverfahren), werden Gesetze im Zuge des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens stets gemeinsam von Parlament und Rat verabschiedet. Selbst dieses Ko-Gesetzgebungsrecht ist aber nicht vollkommen, denn mit wenigen Ausnahmen haben weder der Ministerrat noch das Parlament das Recht, selbst Verordnungs- oder Richtlinienentwürfe zu unterbreiten. Über dieses Initiativrecht verfügt in den allermeisten Politikbereichen exklusiv die Kommission. Das ist ein ausschlaggebender Punkt. Jede Gesetzesinitiative kommt von der Kommission, die zudem über das Redaktionsrecht („drafting power“) verfügt. Das Privileg, bei Gesetzesentwürfen die Feder zu führen, sollte nicht unterschätzt werden. Jeder weiß, wie wichtig dies sein kann, wenn man Gesetzestexte in eine bestimmte Richtung lenken möchte. Zwar werden der Kommissionspräsident, das Kollegium der Kommissare und deren Ressorts weitgehend von den Mitgliedstaaten bestimmt. – 24 –


Das Parlament ist kein „echtes“ Parlament, die Kommission keine „echte“ Regierung

Man kann daher nicht behaupten, die Mitgliedstaaten seien von der politischen Farbgebung der Kommission in einer Legislaturperiode ausgeschlossen. Dies gilt abgeschwächt auch für das Parlament, das den designierten Kommissionspräsidenten und das nominierte Kollegium der Kommissare bestätigen muss. Dennoch können während einer Legislaturperiode weder der Europäische Rat noch der Ministerrat oder das Parlament der Kommission eine Gesetzesinitiative auferlegen – weder im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren noch im Rahmen der sekundären Rechtsetzung. Diese Regel wurde in der Vergangenheit nie angefochten und auch im Vertrag von Lissabon nicht weiter in Frage gestellt, weil der Ministerrat in der Gesetzgebung traditionell der Primus inter Pares war: Die Gemeinsame Agrarpolitik – einst der einzige integrierte europäische Politikbereich – war vom Ministerrat abhängig. Das Mitentscheidungsverfahren wurde in den meisten Politikbereichen (noch) nicht angewandt und die Komitologie beschränkte sich im Wesentlichen auf die von den Mitgliedstaaten stark abhängigen Komitologieausschüsse für Landwirtschaft. Nach der Komitologiereform von 2006 und der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 änderte sich diese Situation jedoch grundlegend: Das Mitentscheidungsverfahren wurde zur Regel und offiziell in „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ umgetauft und die Komitologie durchdrang zunehmend alle Politikbereiche, einschließlich Energie, Umwelt und Finanzdienstleistungen. Das Parlament ist darüber hinaus seit der Komitologiereform im Juli 2006 formal an der Annahme von Komitologiemaßnahmen beteiligt, doch auch hier gilt die folgende Faustregel: Es hat nur derjenige Macht, der sich gut mit Abläufen und Verfahren auskennt – und dieses Kriterium wird nur von der Kommission erfüllt. So ist das einstige Gleichgewicht des institutionellen Dreiecks Kommission – Parlament – Rat ins Wanken geraten und die Machtverhältnisse sind durch ein zunehmendes Ungleichgewicht geprägt. Vorschlagsmonopol, Redaktionsrecht und Fachkenntnis in der sekundären Rechtsetzung – die – 25 –


Das Parlament ist kein „echtes“ Parlament, die Kommission keine „echte“ Regierung

Kommission ist still und leise zur dominierenden Macht in der EU geworden. Die Technokratie hat der Politik den Rang abgelaufen.

Die Kommission: Keine Regierung und auch kein Kollegium

Die Verschiebung der Macht von den Mitgliedstaaten und dem Parlament zur Kommission ist umso besorgniserregender, als die Kommission keine Regierung, sondern eine hybride, halb-politische und halb-administrative Struktur ist. Spricht man von „der Kommission“, geht es in Wirklichkeit um zwei verschiedenartige Strukturen: erstens um das hauptsächlich politisch orientierte Kollegium der Kommissare und zweitens um die vorwiegend fachspezifisch orientierten Generaldirektionen. In der Praxis hat die Verwaltung die Oberhand über die Politik gewonnen. Die Kommission ist somit keine echte Regierung. Die Kommission ist auch kein Kollegium mehr. Das hängt vor allem mit ihrer Größe zusammen. Bis 1995 (EU-15) galt die Regel: zwei Kommissare für die großen Mitgliedstaaten, einer für die übrigen Länder, zusammengenommen 19 Kommissare. Dabei waren schon 19 Kommissare zu viel. Der Vertrag von Nizza schaffte deshalb zwar den zweiten Kommissar für die großen Mitgliedstaaten ab – eine Regelung, die bis heute gilt – doch bei mittlerweile 27 Mitgliedstaaten (und somit 27 Kommissionsmitgliedern) ist das Kommissionskollegium nach den letzten Erweiterungen noch weiter aufgebläht. 27 Kommissare (mit Kroatien bald sogar 28) sind eindeutig zu viel. Bis zum Ratifizierungsreferendum in Irland sah der Vertrag von Lissabon ab 2014 eine Verkleinerung des Kollegiums auf ein Drittel seiner Mitglieder vor. Angesichts der unsicheren Zustimmung der irischen Bevölkerung einigte man sich jedoch darauf, das Prinzip „ein Kommissar pro Mitgliedstaat“ beizubehalten und somit das Referendum in die richtige Richtung zu lenken. Sobald die Europäische Union Island und die Balkanstaaten aufnähme, würde die Kommission nach heutigen Regelungen somit – 26 –


Das Parlament ist kein „echtes“ Parlament, die Kommission keine „echte“ Regierung

35 Mitglieder groß sein. Sieben Kommissare würden dabei allein von den Staaten Ex-Jugoslawiens gestellt! Die Zuerkennung eines Kommissars pro Mitgliedstaat hat die Natur des Kollegiums der Kommissare verändert, die den Verträgen nach „entnationalisiert“, neutral und dem Gemeininteresse rechenschaftspflichtig sein sollen. Blickt man zurück, war die Kommission lange Zeit in der Tat an erster Stelle stets um das europäische Interesse bemüht und es kam nur in Ausnahmefällen vor, dass Kommissionsmitglieder den Prioritäten ihrer Hauptstädte Vorrang gaben. Seit der letzten großen EU-Erweiterung im Jahre 2004 hat sich das geändert. Das ist keine positive Entwicklung, denn wie soll ein Kommissar, der dafür bekannt ist, vor allem den nationalen Interessen seines eigenen Landes zu folgen, seine Autorität gegenüber den europäischen Beamten geltend machen, die mit der Vertretung des Gemeininteresses beauftragt sind? Der große Umfang des Kommissionskollegiums hat darüber hinaus zum Verschwinden des sogenannten Kollegialitätsprinzips geführt. Die Verträge besagen, dass jeder Kommissar eine Doppelverantwortung hat: Erstens ist er für eine fachspezifische Generaldirektion zuständig (sektorale Verantwortung), zweitens trägt er eine übergreifende Verantwortung für alle Angelegenheiten, die in die Kompetenz des Kollegiums fallen (kollektive Verantwortung). Hinsichtlich der kollektiven Verantwortung kann während der wöchentlichen Kollegiumssitzungen jeder Kommissar zu jedem Thema das Wort ergreifen. Darüber hinaus sind die einzelnen Kommissarskabinette so strukturiert, dass die Arbeit der übrigen 26 Kommissare tagesaktuell mitverfolgt werden kann. Mit der letzten Erweiterungsrunde und der Vertragsreform von Lissabon sind die Themen jedoch zahlreicher, fachspezifischer und komplexer geworden. Deshalb beschränken sich die Kommissare heute fast nur auf ihre eigenen Ressorts  – auf Kosten des Kollegialitätsprinzips. Fazit: Mit dieser Entwicklung ist ein politischer Filter verloren gegangen, der zuvor ein wichtiger interner Kontrollmechanismus gewesen war. Den einzelnen Referaten der Kommission wird so das Feld überlassen. – 27 –


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Der Kommissionspräsident: Vom Krisenbewältiger zum Diplomaten

Ein zweiter politischer Filter ist ebenfalls im Begriff zu verschwinden: der des Kommissionspräsidenten. Erinnern wir uns zunächst daran, dass Barroso zwar der Vorsitzende der Kommission, seine Stimme aber nicht ausschlaggebend ist. Alle Entscheidungen werden vom Kollegium mit einfacher Mehrheit getroffen und auch bei Stimmengleichheit zählt die Stimme des Präsidenten nie doppelt. Es geht hier keinesfalls darum, Barroso mit seinen Vorgängern zu vergleichen. Aber es fällt doch auf, dass sich die Natur der Aufgaben des Kommissionspräsidenten seit 1995 – dem Ende der dritten Delors-Kommission – grundlegend geändert hat. Damals konnte sich der Präsident auf strukturelle Allianzen stützen (deutsch-französisches Duo), trug notwendige Konflikte aus, konnte auf ein solides Kabinett zählen und kontrollierte die Generaldirektionen durch die natürliche Anwendung des Kollegialitätsprinzips. 2009 und auch schon 2004 wurde der Präsident aber entsprechend der vorherrschenden politischen Grundrichtung nominiert, um eine Konsenspolitik zu verfolgen, die auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der 27 Mitgliedstaaten ruht. José Manuel Barroso ist zu einem Super-Diplomaten geworden, der vom G8- zum G20-Gipfel fliegt und ein derartiges diplomatisches Geschick an den Tag legt, dass es bei der Zuteilung der einzelnen Kommissionsressorts im Jahr 2009 keinerlei Kritik gab, weder seitens der Mitgliedstaaten noch von einer im Parlament vertretenen Fraktion. Meiner Meinung nach ist es aber die Aufgabe des Kommissionspräsidenten – der einen der Top-Jobs weltweit innehat – Konflikte zu bewältigen, statt ihnen aus dem Weg zu gehen.

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Kommissare und Generaldirektoren: Wer ist wessen Chef?

Einige Beobachter vertraten während der Legislaturperiode 2004 – 09 bisweilen den Standpunkt, die Kommissare seien lediglich die „Pressesprecher ihrer Generaldirektoren“. Das ist gewiss eine überspitzte Darstellung, die allerdings nicht ganz falsch ist. Wie bereits erwähnt, gibt es innerhalb der Kommission eine beträchtliche Zahl „Superbeamte“. Das ist schon immer so gewesen und wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Ein Problem ist jedoch, dass Kommissare in den letzten Jahren immer weniger politische Richtungsvorgaben machten, was sich mittlerweile bis in die unteren Ebenen der Kommission auswirkt. Die Kommission ist zwar, wie bereits festgestellt, keine Regierung, aber gerade deshalb sind politische Richtungsvorgaben umso nötiger. Da die Kommission mit solch weitreichenden Machtbefugnissen ausgestattet ist, muss sie ihre Tätigkeit objektiv und nicht subjektiv ausüben. Die Kommission ist zur Herrin der sekundären Rechtsetzung geworden, doch sie übt ihre Macht mit zu schwachen politischen Leitlinien aus. Daher rührt das Risiko einer schlechter Amtsführung, mangelnder Transparenz und einer überzogenen Subjektivität, unter der die Demokratie unmittelbar leidet.

Dieser kurze Überblick lässt erahnen, dass die drei großen Institutionen sowohl zusammenarbeiten, als sich auch streiten und gegenseitig fürchten: Signalisiert das Parlament Missfallen, scheint die Kommission einzulenken; erreichen die Mitgliedstaaten im Ministerrat eine Einigung, scheinen sich weder das Parlament noch die Kommission widersetzen zu können. In der Praxis sieht es jedoch so aus, dass die Mitgliedstaaten (Ministerrat) und das Parlament durch langwieriges Ringen um Konsens immer – 29 –


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wieder gebremst werden, während die Kommission sehr viel unbeschwerter agieren kann. Sie ist mit Wasser vergleichbar, das in ein Gefäß gefüllt wird: Sie nimmt den vorgegebenen Raum ein. Der europäische Entscheidungsprozess ist so vielschichtig geworden, dass allein die Kommission ihn versteht und beherrscht. Dies verschafft ihr einen besorgniserregenden Vorteil gegenüber dem Ministerrat und dem Parlament. Dieser Vorteil ist bei der sekundären Rechtsetzung besonders stark ausgeprägt.

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03 Die Komitologie von der Geburt bis zum unabdingbaren Bestandteil der Brüsseler Politik

Der europäische Entscheidungsprozess besteht aus drei Phasen, von denen vor allem die letzte die sekundäre Rechtsetzung betrifft: • Die Vorschlagsphase: Hier spielt die Kommission aufgrund ihres exklusiven Initiativrechts eine entscheidende Rolle. • Die Verabschiedungsphase: Sobald ein Gesetzgebungsvorschlag vom Kollegium der Kommissare angenommen wird, wird er entweder nur dem Ministerrat (Konsultationsverfahren) oder dem Ministerrat und dem Parlament (ordentliches Gesetzgebungsverfahren) zur Verabschiedung vorgelegt. • Die Umsetzungsphase: Die meisten Rechtsakte der EU sind lediglich Rahmengesetze, die die Verabschiedung einer Reihe fachspezifischer Maßnahmen an die Kommission delegieren, die sich unter dem Begriff „sekundäre Rechtsetzung“ zusammenfassen lassen. Sekundäre Rechtsetzung entspricht somit abgeleiteten oder delegierten Rechtsakten. Es handelt sich um „neue“ Verordnungen, die in allen 27 Mitgliedstaaten direkt anzuwenden sind. Im Übrigen sind sekundäre Rechtsakte – 31 –


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auch in nationalen politischen Systemen von wesentlicher Bedeutung. In Deutschland gibt es beispielsweise Durchführungsverordnungen und in Frankreich sogenannte „décrets d’application“. Es ist an dieser Stelle wichtig zu verstehen, dass sekundäre Rechtsetzungsakte: • keineswegs mit der Umsetzung europäischer Richtlinien auf nationaler Ebene gleichzusetzen sind, deren Anwendung zeitlich verschoben ist und die von Mitgliedstaaten je nach nationaler Rechtslage angepasst werden. • keinesfalls mit aus den ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (ehemals: Mitentscheidungsverfahren) stammenden Verordnungen vergleichbar sind. Vorschlag

Kommission im Vordergrund

Annahme

Ministerrat

Parlament

Durchführung

Kommission und Komitologieausschüsse

An dieser Stelle möchte ich einige Auszüge eines Vortrags von Paolo Ponzano zitieren, dem Chefberater der Taskforce „Institutionelle Angelegenheiten“ im Generalsekretariat der Kommission: „Seit den 1960er-Jahren hat die Kommission mehr als 80.000 Maßnahmen im Komitologieverfahren verabschiedet. 2006 waren 12.000 dieser Durchführungsmaßnahmen noch in Kraft! Die ersten Komitologieausschüsse wurden 1962 eingeführt, nachdem der Ministerrat die ersten grundlegenden Verordnungen im Agrarsektor verabschiedet hatte. Ein System sogenannter Verwaltungsausschüsse ermöglichte der Kommission, dringende administrative Durchführungsmaßnahmen rasch zu erlassen, solange die Vertreter der Mitgliedstaaten nicht mit qualifizierter Mehrheit gegen den Vorschlag der Kommission stimmten. Bei Meinungsverschiedenheiten konnte der Rat jedoch jeden Kommissionsentwurf mit qualifizierter Mehrheit ändern. – 32 –


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Das Ausschussverfahren dehnte sich später schrittweise auf andere Politikbereiche, wie beispielsweise die Verwaltung der Zollunion, die Handels- und Verkehrspolitik und den Binnenmarkt aus. Zudem wurden sogenannte Regelungsausschüsse eingeführt, in deren Rahmen die Kommission eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten von ihrem Entwurf überzeugen musste. Gelang dies nicht, so entschied im Berufungsverfahren der Ministerrat.“ Wie Ponzano andeutet, stand die Ausweitung der Komitologie in direktem Zusammenhang mit der Verwirklichung des Binnenmarkts Ende der 1980er-Jahre, die neben der Reform der europäischen Institutionen durch die Einheitliche Europäische Akte (1987) die Hauptpriorität des Kommissionspräsidenten Jacques Delors während seiner zweiten Amtszeit war. Als Delors 1985 zum Präsidenten der Kommission ernannt wurde, lag die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) brach. Durch den übertriebenen Gebrauch der Einstimmigkeitsregel waren die Institutionen gelähmt und somit fast handlungsunfähig geworden. Mit der Unterstützung Deutschlands und Frankreichs erhielt Delors deshalb ein Doppelmandat für seine Amtszeit. Erstens sollte er die Institutionen durch vier grundlegende Maßnahmen reformieren, die in der späteren Einheitlichen Europäischen Akte gebündelt wurden: • die Rückkehr zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Rat. • die Einbindung des Parlaments in die Gesetzgebungsbefugnis, die damals nur der Rat besaß. Dies sollte durch ein neues, sogenanntes Kooperationsverfahren geschehen, das später übrigens dem Mitentscheidungsverfahren den Weg ebnen sollte. • die Zuweisung des Monopols der Gesetzgebungsinitiative an die Kommission. • die Übertragung der Durchführungsbefugnisse vom Rat an die Kommission. – 33 –


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Zweitens sollte Delors den europäischen Binnenmarkt vollenden. Beide Aufgaben waren eng miteinander verknüpft, da erst die Einheitliche Europäische Akte die Vollendung des Binnenmarktes ermöglichte – also den freien Verkehr von Gütern, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der EU. Insgesamt wurden mehr als 300 Richtlinien zur Vollendung des Binnenmarktes vorgeschlagen, wovon letztendlich rund 270 angenommen wurden. Es versteht sich von selbst, dass die 300 vorgeschlagenen Richtlinien viele Themen umfassten – so zum Beispiel die zu vereinheitlichende Lebensmittelgesetzgebung, die unter den einzelnen Mitgliedstaaten stark variierte. Auch in diversen anderen Bereichen mussten Verpackungsvorschriften, Gewichtsbestimmungen, Zusammensetzungen, Kennzeichnungspflichten und Regeln zur Verwendung von Zusatzstoffen harmonisiert werden. Diese Gesetzgebungsakte mussten natürlich durch zahlreiche technische Regeln begleitet und ergänzt werden. Diese wichtige Funktion sollte die Komitologie ausfüllen. Dass die Komitologie eine zentrale Rolle spielt, ist heute offensichtlicher denn je, da in einer EU der nunmehr 27 Mitgliedstaaten neue europäische Gesetzgebungsakte weitaus weniger präzise sind als früher. So sind Richtlinien heute zumeist Rahmenrichtlinien, die lediglich allgemeine Prinzipien vorgeben und die Regelung der technischen Details den Durchführungsbestimmungen überlassen – also der sekundären Rechtsetzung. Das Wort „Detail“ ist hier allerdings unangebracht, da in der sekundären Rechtsetzung über ganz wesentliche Fragen im Hinblick auf Wirtschaft, Produktion, Konsum, Gesundheit und Preisgestaltung entschieden wird. So gilt immer, dass die Bedeutung der sekundären Rechtsetzung nur so groß ist, wie die Richtlinien unpräzise sind. Die sekundäre Rechtsetzung wurde also durch die Verwässerung der Richtlinien noch viel unentbehrlicher. Fazit: Heute käme die EU ohne sekundäre Rechtsetzung zum Stillstand. Wer aber hat bei der Komitologie das Sagen? – 34 –


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Sekundäre Rechtsetzung und die Grenzziehung zwischen Politik und Verwaltung Exkurs: Die Grenzziehung zwischen Politik und Verwaltung in der Rechtsetzung in den Mitgliedstaaten der EU

Wie bereits kurz erwähnt, nehmen alle Mitgliedstaaten auch auf nationaler Ebene Durchführungsbestimmungen an, die die Gesetze ihres Parlaments durch technische Bestimmungen ergänzen. Allerdings besitzt jeder Mitgliedstaat ein eigenes System mit einer individuell verlaufenden Grenze zwischen Politik und Verwaltung: • Deutschland hat ein stark föderalistisches System, in dem die Bundesregierung, ein Bundesministerium oder auch die Länderregierungen ermächtigt werden können, Durchführungsverordnungen zu erlassen, ohne dass der Bundestag ein Veto einlegen kann. Der aus den Regierungen der Bundesländer zusammengesetzte Bundesrat spielt bei der Verabschiedung von vielen Durchführungsverordnungen eine besonders wichtige Rolle: Er muss allen von der Bundesregierung oder einem Bundesministerium vorgesehenen Durchführungsverordnungen zustimmen, die sich auf ein sogenanntes Zustimmungsgesetz beziehen – also auf ein Gesetz, in dessen Verabschiedung neben dem Bundestag auch er selbst als Mitgesetzgeber eingebunden war. Diese Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrats in der Bundesgesetzgebung ist im Grundgesetz festgeschrieben und betrifft im Allgemeinen alle Gesetze, die die Interessen der Bundesländer berühren – bis zur Förderalismusreform im Jahr 2009, in deren Rahmen bestimmte Zuständigkeiten neu aufgeteilt wurden, traf dies auf immerhin 48 Prozent aller Bundesgesetze zu. So musste der Bundesrat beispielsweise der ersten Durchführungsverordnung zum Bundesimmissionsschutzgesetz und der Erbschaftsteuer-Durchführungsverordnung zustimmen. Darüber hinaus hat der Bundesrat sogar ein Initiativrecht für alle Durchführungsverordnungen, die seine Zustimmung benötigen. – 35 –


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• Auch in der Fünften Französischen Republik liegen wichtige Kompetenzen hinsichtlich der Durchführungsbestimmungen bei der Regierung, die nach politischem Gutdünken die Veröffentlichung der Bestimmungen beschleunigen, verzögern oder sogar ganz verhindern kann. So wurden zwischen 1981 und 2007 mehr als 200 Gesetze verabschiedet, die zwar rechtsgültig in Kraft traten, aber aufgrund fehlender Durchführungsverordnungen niemals zur Anwendung kamen. Die Rolle des französischen Parlaments ist bei der Verabschiedung der „décrets d’application“ also nicht wesentlich. Es überwacht lediglich die Annahme der Bestimmungen und überprüft, ob sie mit dem Gesetz in Einklang stehen. Außerdem kann es formal Kritik üben, die aber ohne rechtliche Konsequenzen bleibt. • Im Vereinigten Königreich verhält es sich genau umgekehrt. Akte der sogenannten „delegated legislation“ werden dem Parlament unterbreitet und können von diesem entweder angenommen oder durch ein Veto abgelehnt werden (wobei das Parlament jedoch keine Änderungen vornehmen kann). Es wurden drei parlamentarische Ausschüsse geschaffen, die sich speziell mit der „delegated legislation“ befassen: das „Joint Committee on Statutory Instruments“ (in dem sowohl Abgeordnete des „House of Commons“ als auch des „House of Lords“ sitzen), das „House of Lords Standing Committee on the Merits of Statutory Instruments“ und das „House of Commons Standing Committee on Statutory Instruments.“ Bemerkenswert ist, dass sich der erstgenannte Ausschuss aus Mitgliedern beider Kammern zusammensetzt.

Exkurs: Die Grenzziehung zwischen Verwaltung und Politik in der EU

Die drei Fallbeispiele zeigen, dass sich Durchführungsbefugnisse auf nationaler Ebene in klarer Zuständigkeit befinden, entweder in jener der Regierung oder in der der Parlamente. In keinem Fall wird dem Verwaltungsapparat aber ohne Kontrolle das Feld überlassen, wie es in der – 36 –


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Europäischen Union der Fall ist. Dabei ist eine Grenzziehung zwischen Politik und Verwaltung in der EU überaus entscheidend, da den jährlich rund 100 Richtlinien im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren immerhin 2500 Rechtsakte der sekundären Rechtsetzung gegenüberstehen. 96 Prozent der europäischen Gesetzgebungsaktivität geschieht demnach durch sekundäre Rechtsetzung. Hinzu kommt, dass diese 96 Prozent allein in den Kompetenzbereich einer Kommission fallen, die meiner Meinung nach in ihrer Machtausübung vom Ministerrat und Europäischen Parlament nicht ausreichend im Zaum gehalten wird. Denn wer kontrolliert die Komitologie in der EU? Früher legte Artikel 202 des Vertrags zur Gründung der EG deutlich dar, dass der Rat der Kommission „in den von ihm angenommenen Rechtsakten die Befugnisse zur Durchführung der Vorschriften [überträgt], die er erlässt.“ Auch die Verfasser der Einheitlichen Europäischen Akte betrachteten Durchführungsmaßnahmen als einen wesentlichen Bestandteil der Befugnisse des Rats. Da man jedoch gleichzeitig der Ansicht war, die Kommission könne technisch komplexe Maßnahmen besser behandeln als der Rat, wurden Durchführungsbefugnisse zunehmend an die Kommission delegiert. Bis zur Reform im Juli 2006 kamen im Wesentlichen zwei Ausschussformen zur Anwendung: die Verwaltungsausschüsse, die die Agrarmärkte regelten und die Regelungsausschüsse, die die aus dem Binnenmarkt hervorgehenden technischen Maßnahmen beschlossen. Genau wie die Expertengruppen des Rates setzten sich Komitologieausschüsse zwar aus einem nationalen Beamten pro Mitgliedstaat zusammen, doch zwischen beiden Strukturen bestand ein maßgeblicher Unterschied: • Den Expertengruppen des Rates saß ein nationaler Beamter desjenigen Landes vor, das gerade die halbjährlich rotierende Ratspräsidentschaft innehatte. • Den Komitologieausschüssen, deren Zusammensetzung meist lange – 37 –


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gleich blieb, saß ein zuständiger Direktor oder Abteilungsleiter der Kommission vor. Dies zeigt deutlich, dass die Kommission in Komitologieausschüssen entscheidenden Einfluss ausübte; ein Trend, der sich nach dem Vertrag von Lissabon noch verstärken sollte (siehe S. 67 – 81).

Die Mitgliedstaaten als „Ja-Sager“ in den Verwaltungsausschüssen

Zu den Spitzenzeiten der Gemeinsamen Agrarpolitik waren die Verwaltungsausschüsse von großer Bedeutung. Während meiner Tätigkeit als Generalsekretär des europäischen Dachverbands der Landwirte und ihrer Genossenschaften (COPA-COGECA) waren deshalb auch alle Arbeitsabläufe unserer Arbeitsgruppen auf die Verwaltungsausschüsse ausgerichtet und der Großteil der Lobbyaktivitäten wurde über diese Verwaltungsausschüsse abgewickelt. Diese setzten sich mit einer Reihe Themen auseinander, die für Erzeuger, weiterverarbeitende Betriebe und Händler von überaus großer Bedeutung waren – wie etwa hinsichtlich Ausfuhrerstattungen, wöchentlichen Ausschreibungen, Lagerungen und Ausfuhrlizenzen. Auf einen Vorschlag der Kommission folgte immer die Abstimmung im Ausschuss und um sich einem Vorschlag zu widersetzen, musste der Ausschuss eine qualifizierte Mehrheit aufbringen. In der Praxis passierte dies jedoch nie. „Nie?“, werden Sie denken? Ja, praktisch nie. Über Jahre hinweg beschlossen die insgesamt 20 Verwaltungsausschüsse für Getreide, Schweine- und Rindfleisch, Wein, Zucker, Tabak, Bananen etc. jährlich bis zu 1500 Verordnungsvorschläge. Nur in einem einzigen Fall widersetzte sich am 15. Oktober 2009 ein Verwaltungsausschuss – der Ausschuss für die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte – einem Vorschlag der Kommission, und zwar als es um Produktionsabgaben für Zucker ging! Dies ist jedoch eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. – 38 –


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Wie kam es zu einer solchen Situation? Warum ließen die Mitgliedstaaten der Kommission in der Annahme unzähliger Verordnungen völlig freie Hand? Die Erklärung ist ebenso simpel wie kritikwürdig: Die Agrarwelt ist ein in sich geschlossener Bereich. Man kennt sich gut und Neuigkeiten verbreiten sich in rasantem Tempo. Sobald sich ein neuer Entwurf für eine bestimmte Maßnahme absehen lässt – und oft passiert dies noch bevor der Entwurf dem zuständigen Verwaltungsausschuss vorliegt – breitet sich Unruhe aus. Ministerien werden kontaktiert, die Kommission regelrecht belagert und in den Gängen ihrer Gebäude wird unablässig verhandelt. All das, wohlgemerkt, noch vor der eigentlichen Ausschusssitzung. Findet diese Sitzung schlussendlich statt, so geht es in der Regel nur noch darum, den im Vorfeld erreichten Konsens am Verhandlungstisch schriftlich festzuhalten. Ursache des Missstandes ist also nicht eine mangelnde Kontrolle der Mitgliedstaaten, sondern die althergebrachten Lobbypraktiken der Bauernverbände.

Sagen die Regelungsausschüsse „Nein“, übernimmt der Rat ... aber nur bis zu einem gewissen Punkt!

Wie bereits bemerkt, unterschied sich der Entscheidungsprozess in den Regelungsausschüssen deutlich von dem in den Verwaltungsausschüssen. Bei fehlender Stellungnahme des Verwaltungsausschusses galt ein Verordnungsentwurf als angenommen – und für eine Ablehnung eines Kommissionsvorschlags wurde eine qualifizierte Mehrheit benötigt. In den Regelungsausschüssen hingegen wurde eine qualifizierte Mehrheit für die Annahme einer neuen Maßnahme benötigt. Das war selbstverständlich eine größere Hürde. Es passierte tatsächlich durchschnittlich nur sieben Mal im Jahr, dass einer der insgesamt 83 Regelungsausschüsse gegen einen der insgesamt jährlich rund 1500 Vorschläge der Kommission stimmte. – 39 –


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In den Fällen, in denen die Kommission vom Regelungsausschuss überstimmt wurde, übernahm der Ministerrat erneut das Ruder. Dies geschah durch das sogenannte Rückholrecht („call-back right“), das dem Rat die Möglichkeit einräumte, der Kommission die Befugnis zur Durchführung wieder zu entziehen, die er einst an sie übertragen hatte. Wenn der Rat einen Kommissionsentwurf mit dem Rückholrecht zurückrief, waren vier Szenarien möglich: • Der Rat wies die Entscheidung des Regelungsausschusses zurück und nahm den ursprünglichen Verordnungsvorschlag mit qualifizierter Mehrheit an. Ebenso konnte die Kommission entscheiden, die politische Botschaft des Regelungsausschusses zu berücksichtigen und den ursprünglichen Antrag zu ändern. • Der Rat ließ eine dreimonatige Frist verstreichen, sich mit dem Vorgang zu befassen. Damit war der Vorschlag der Kommission automatisch angenommen. • Der Rat lehnte den Vorschlag der Kommission ab und änderte ihn. Das war möglich, benötigte aber einen einstimmigen Beschluss der 27 Mitgliedstaaten. • Der Rat lehnte den Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit ab und bestätigte damit die Position des Regelungsausschusses. Das dritte Szenario ist besonders interessant: Die Kommission wird vom Regelungsausschuss überstimmt, verweigert jedoch die Berücksichtigung dieser politischen Botschaft und lässt den ursprünglichen Vorschlag unverändert. Der Ministerrat kann die Kommission dann zwar zwingen, den Entwurf zu ändern, muss dafür jedoch Einstimmigkeit unter allen 27 Mitgliedstaaten erreichen.

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Die Komitologie von der Geburt bis zum unabdingbaren Bestandteil der Brüsseler Politik

Diese Situation verdeutlicht eine fatale Tendenz im damaligen interinstitutionellen Verhältnis. Um einen Vorschlag der Kommission abzulehnen, musste der Rat einstimmig handeln! Eine ähnliche Situation ergibt sich im Übrigen auch, wenn der Rat im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren einen Vorschlag der Kommission ändern möchte.

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04 1987: Die erste Reform, eine Wiederbelegung des europäischen Integrationsprozesses

Seit ihrer Einführung im Jahr 1962 hat die Komitologie immer wieder zu kleineren und größeren Auseinandersetzungen zwischen Kommission, Parlament und Rat geführt. Da das institutionelle Machtgefüge kein objektives, sondern ein rein subjektives Konstrukt ist, variierte es in Raum und Zeit je nach dem Kräfteverhältnis zwischen den drei Institutionen und ihren Machtambitionen: • Die gegen Ende der 1970er- und in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre verabschiedeten Rechtsakte gingen mit der Stärkung des Rates auf Kosten der Kommission einher (was die Effizienz der EWG zunehmend verringerte). • Zwischen 1995 und 2009 steigerte das Parlament als neuer Mitgesetzgeber seine Macht. Es stellte darüber hinaus seine Beteiligung bei der Annahme von allen Durchführungsmaßnahmen sicher, deren Bedeutung übrigens spätestens seit 2006 immer zentraler wurde. • Die Kommission versuchte stets zu verhindern, die Kontrolle über die sekundäre Rechtsetzung aus der Hand zu geben. Dies zeigte sich bereits während der drei großen Reformen in den Jahren 1987, 1999 und 2006 und wurde im Zuge der vierten Reform nach dem Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 noch augenfälliger.

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1987: Die erste Reform, eine Wiederbelegung des europäischen Integrationsprozesses

Versetzen wir uns unter diesem Blickwinkel zurück in das Jahr 1985, als Jacques Delors Kommissionspräsident wurde. Europa war zu diesem Zeitpunkt weitgehend zum Stillstand gekommen. Wie bereits erwähnt, zielte die Einheitliche Europäische Akte von 1987 deshalb darauf ab, der europäischen Einigung neuen Schwung zu verleihen und den europäischen Binnenmarkt bis spätestens 1993 zu vervollkommnen. Die Einheitliche Akte stärkte nicht nur das Parlament und legte eine häufigere Anwendung der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Rat fest, sondern bekräftigte vor allem die Führungsposition der Kommission und reformierte die Komitologie. Die Übertragung weitreichender Befugnisse an die Kommission und die Reform der Komitologie geschah vor allem: • indem ihr das alleinige Vorschlagsrecht zugesprochen wurde. • indem ihr – durch die Übertragung der Zuständigkeit durch den Ministerrat – die Kontrolle über Durchführungsverordnungen übergeben wurde. • indem die Regeln für Durchführungsbestimmungen vereinfacht wurden. Die Ratsentscheidung von 1987 legte in diesem Rahmen weitere Details fest. Nachdem die Kommission jahrelang von Rat und Mitgliedstaaten dominiert, zu einer Sekretariatsrolle degradiert und durch Einstimmigkeitserfordernisse im Rat immer wieder gebremst worden war, wandelte sich ihre Rolle ab 1987 grundlegend und in beeindruckender Weise. Das institutionelle Dreieck aus Rat, Kommission und Parlament existierte anfangs nur auf dem Papier und erst 1987 beschwerte sich das Parlament, von Durchführungsmaßnahmen völlig ausgeschlossen zu sein – ohne jedoch viel Beachtung für seine Beschwerden zu finden. So gab es weiterhin nur zwei maßgebende Akteure: die Kommission und den Rat.

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1987: Die erste Reform, eine Wiederbelegung des europäischen Integrationsprozesses

Der Vertrag von Maastricht von 1992 veränderte dann allerdings das Machtgleichgewicht, indem er ein wahres institutionelles Dreieck schuf. So schlägt die Kommission seit Maastricht Gesetzgebungsakte vor und führt diese durch, während der Rat und das Parlament zusammen Gesetzgeber sind. Allerdings stellt das Parlament seit Maastricht auch die Forderung, auf Augenhöhe mit dem Rat in den Verabschiedungsprozess der Durchführungsmaßnahmen eingebunden zu werden. Als die Forderungen des Parlaments von der Kommission und vom Rat beharrlich ignoriert wurden, reagierten die Abgeordneten zunehmend verstimmt: • Eine erste Unmutsbekundung äußerte das Parlament durch die Ablehnung eines Richtlinienentwurfs zu Sprach-Telefondiensten, der Durchführungsmaßnahmen vorsah, bei denen das Parlament kein Mitspracherecht haben sollte. • 1995 wies der Rat einen Kommissionsentwurf über eine interinstitutionelle Vereinbarung zurück, die das Parlament in die Beschlussfassung von Durchführungsmaßnahmen einbinden sollte. Man erreichte schließlich nur einen Minimalkonsens, der sich darauf beschränkte, das Parlament künftig „besser zu informieren“. Da das Parlament daraufhin aber keinerlei Verbesserung der Situation beobachtete, blockierte es noch im selben Jahr die Haushaltslinien für die Komitologieausschüsse.

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05 1999: Die zweite Reform, ein Kompromiss, der das Parlament frustriert

Eine weitere Komitologiereform fand 1999 statt, als der interinstitutionelle Beschluss vom 28. Juni 1999 dem Parlament erstmals das Recht auf Unterrichtung und Stellungnahme in der Komitologie gewährte. • Das Recht auf Unterrichtung über Verordnungsentwürfe der Kommission sowie Tagesordnungen und Tagungsberichte der Komitologieausschüsse gab dem Parlament einen besseren Überblick über Durchführungsmaßnahmen. • Das Recht zur Stellungnahme befugte das Parlament, eine Entschließung zu verabschieden, wenn ein Vorschlag der Kommission über die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse hinausgehen sollte (Amtsmissbrauch). • Dieses letztendlich nur minimale Mitspracherecht des Parlaments bot lediglich eine – wie es der bereits erwähnte Berater der Kommission, Paolo Ponzano, ausdrückte – „vorübergehende Waffenruhe“. In der Tat war sich das Parlament seiner unbefriedigenden Einflussmöglichkeit bald bewusst – insbesondere, als die Zahl der Durchführungsmaßnahmen anstieg, die im Bereich der finanziellen Dienstleistungen im Rahmen des sogenannten Lamfalussy-Verfahrens verabschiedet wurden.

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