Berliner Morgenpost

Page 1

Berliner

EXTRA

Morgenpost J U N I 2 014

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Weimarer Klassiker auf der Opernbühne

PA/DIETRICH ROSE/OKAPIA; PA/AKG-IMAGES; UNIVERSAL CLASSIC; JASON BELL/SONY MUSIC; SHEILA ROCK, TITELMONTAGE: BETTINA JÜLCH

Stars wie Joyce DiDonato (u.) und Joseph Calleja (l.) singen in „Maria Stuarda“. Vittorio Grigolo (M.) ist in der Titelpartie von „Werther“ zu erleben

DeutscheOperBerlin Das Opernjournal für den Monat Juni 2014

TITELTHEMA

ZU BESUCH

SPIELPLAN

JUNGE OPER

PREMIEREN

INTERVIEW

PROGRAMMTIPPS

SOUND-WALK

Schiller auf italienisch, Goethe auf französisch

„Sänger, die gut sind, lernen ihr Leben lang immer weiter“

Liebe aus unterschiedlichsten Blickwinkeln

„Das große Buh“: Protesten auf der Spur

Die Werke der Weimarer Klassik wurden vor allem von ausländischen Opernkomponisten genutzt. Donizettis „Maria Stuarda“ und Massenets „Werther“ feiern zum Ende der Spielzeit konzertant Premiere. S. 2/3

Kaum eine andere Sängerpersönlichkeit hat die Deutsche Oper Berlin so geprägt wie Christa Ludwig. In einem Meisterkurs im Foyer gibt die Künstlerin nun ihre Erfahrungen weiter. S. 4/5

Zwölf junge Theatermacher entwickeln „LoveAffairs“. Die Tischlerei wird bei der Uraufführung zu einer einzigen großen Bühne. Repertoire-Empfehlungen, Gewinnspiel, Service und Spielplan. S. 6/7

Von der Demo bis zum Opernskandal: Ein Sound-Walk mit Kopfhörern im Gebäude und dessen Umgebung untersucht Proteste, welche die Deutsche Oper Berlin prägten und bis heute prägen. S. 8


Werther Jules Massenet (1842 – 1912) Konzertante Oper in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln Musikalische Leitung: Donald Runnicles Werther: Vittorio Grigolo Charlotte: Ekaterina Gubanova Albert: John Chest Sophie: Siobhan Stagg Der Amtmann: Markus Brück Schmidt: Jörg Schörner Johann: Ben Wager Brühlmann: Stephen Bronk Käthchen: Jana Kurucová Orchester und Kinderchor der Deutschen Oper Berlin Premiere 16. Juni, 20 Uhr, in der Philharmonie Weitere Vorstellung 19. Juni, 20 Uhr

IMPRESSUM Eine Veröffentlichung der Berliner Morgenpost Redaktion Sonderthemen, Axel Springer SE Leitung: Astrid Gmeinski-Walter (V.i.S.d.P.) Redaktion: Uwe Sauerwein Gestaltung und Produktion: Bettina Jülch Leitung Vermarktung Berliner Morgenpost: Jan Schiller, Verkauf: Cynthia Hofmann (cynthia.hofmann@morgenpost.de) Verlag: Berliner Morgenpost GmbH Erscheinungstag: 28. 5. 2014

Als Ausländer unsere Nationaldichter Eine italienische Sicht auf Schiller, ein französischer Blick auf Goethe: „Maria Stuarda“

PA/AKG-IMAGES

Vorbild für Lotte Charlotte Kestner, auf dem zeitgenössischen Schattenriss mit ihrem Gatten Johann Christian Kestner

Idol der Empfindsamkeit Werthers Freitod in Massenets Oper wirkt auf der kolorierten Postkarte aus dem Jahr 1905 recht melodramatisch

T Von Martina Helmig Gleich zwei konzertante Premieren sind im Juni-Spielplan zu entdecken. Auf den ersten Blick haben sie außer dem Tod der Titelhelden nicht viel gemeinsam. Donizettis „Maria Stuarda“ fährt das ganze Gewicht der großen Historienoper auf. Staatsintrigen und der Kampf um die Macht stehen im Mittelpunkt des Königinnendramas aus der englischen Tudorzeit. Massenets „Werther“ dagegen führt ins Private, Innerliche, macht den Liebes- und Weltschmerz, das radikale Leiden des hypersensiblen Künstlers zum Thema. Bei Donizetti blüht der virtuose Belcanto, während Massenet gut 50 Jahre später schon an Wagner orientierte Psychogramme erstellt. Inhaltlich und musikalisch führen die beiden Opern in ganz unterschiedliche Welten. Es gibt aber auch einen gemeinsamen Nenner: Beides sind Vertonungen deutscher Klassiker, eine italienische Sicht auf Schiller und ein französischer Blick auf Goethe. Ungewöhnlich ist das keineswegs. Opernkomponisten der Nachbarländer haben sich viel häufiger um die Werke der beiden Klassiker bemüht als ihre deutschen Kollegen. Warum das so ist? Die einfachste Erklärung lautet, dass Goethe und Schiller mit ihren zeitlos und international gültigen Wahrheiten der ganzen Welt gehören. Das kann aber nicht alles sein. Schillers Dramen übten große Anziehungskraft auf Opernkomponisten aus. Jedes Stück wurde vertont, auch wenn die meisten Schiller-Opern heute vergessen oder verschollen sind. Deutsche Opernkomponisten haben Schillers Dramen allerdings kaum beachtet. Ganz anders die Italiener: Zwischen 1813 und 1876 schrieben sie nicht weniger als 19 Schiller-Opern. Der Schillerismo blühte vor allem, seit Verdis Freund Andrea Maffei 1827 mit seiner Schiller-Übersetzung ins Italienische begann. Verdi allein schrieb vier Schiller-Opern: „Don Carlos“, „Giovanna d’Arco, „Luisa Miller“ und „I Masnadieri“. Jedes Land entwickelte seinen eigenen Blick auf die Werke. Während Schiller im zaristischen Russland vor allem als Verteidiger bürgerlicher Werte gesehen wurde, galt er im noch ungeeinten, unterdrückten Italien als Dichter der Freiheit. Damit traf er den politischen Nerv der Italiener, und das erklärt das begeisterte Interesse. Schillers leidenschaftliche Heldin-

nen und Helden, Charaktere mit extremem Selbstbewusstsein und großer Eloquenz passten auch gut auf die italienische Opernbühne. Vor allem war es aber der revolutionäre Impetus von Stücken wie „Wilhelm Tell“ und „Die Räuber“, der der historischen Situation der Italiener entgegenkam. Dabei wurde Schiller in Italien fälschlicherweise als Romantiker vereinnahmt. Seine Emphase, Ethik und sein Freiheitsdrang trugen ihm die Sympathien der Romantici ein. In seinen Stücken sahen sie das moderne national-patriotische Theater. „Maria Stuart“ wurde in Italien fünf Mal zu einer Oper verarbeitet. Nur „Don Carlos“ haben die Italiener öfter, nämlich sechs Mal, auf die Musiktheaterbühne gebracht. Gaetano Donizetti hat sich sehr früh für Schiller und den berühmten Königinnenzwist im England des 16. Jahrhunderts begeistert. Für den Komponisten und seinen jungen Textdichter, den gerade 17jährigen Jura-Studenten Giuseppe Bardari, war die „Maria Stuart“ ein idealer Opernstoff. Sie reduzierten die 21 Darsteller auf die operntaugliche Anzahl sechs und vereinfachten damit das bei Schiller äußerst verwickelte Geflecht aus Seelendrama und Staatsintrige. Sie richteten den Fokus auf die beiden Herrscherinnen und ihren Kampf um die Krone und die Liebe eines Mannes.

Auf dem Weg zum Weltruhm hatte „Maria Stuarda“ erst einmal viel Pech. Die beiden Hauptdarstellerinnen trugen bei einer Probe einen Primadonnen-Konkurrenzkampf aus, in dem sie sich auf dem Bühnenboden balgten und schlugen. Bei der Generalprobe soll die Königin von Neapel ohnmächtig geworden sein – worauf die Oper verboten wurde. Als die Uraufführung 1835 endlich doch stattfinden konnte, waren beide Hauptdarstellerinnen krank und heiser – und so verschwand Donizettis Oper in der Schublade der Geschichte. Das Juwel des Belcanto begann erst mehr als 120 Jahre später, nach einer Aufführung in Donizettis Ge-

Werthers Tondichter Jules Massenet (1842-1912)

PA/DPA-BELGA

Mo 16. Juni Premiere

Juni 2014 | Berliner Morgenpost

PA/AKG-IMAGES

TitelThema

2 Deutsche Oper Berlin

burtsort Bergamo im Jahr 1958, seinen Siegeszug über die Bühnen der Welt. „In my end is my beginning.“ In meinem Ende ist mein Anbeginn. Diesen Wahlspruch hat die schottische Königin Maria Stuart in ihr Wappen einsetzen lassen. Die Geschichte hat ihr Recht gegeben. Auf der Opernbühne hat sie jedenfalls ein zweites Leben bekommen. Im Unterschied zu Goethe hatte Schiller nie eine intensive Beziehung zur Oper. Er unternahm nur vereinzelte librettistische Versuche, nie gab es eine Zusammenarbeit mit einem Komponisten. Goethe dagegen schrieb nicht weniger als 20 Texte und Entwürfe zu Singspielen und Opern, zum Beispiel einen zweiten Teil zu Mozarts „Zauberflöte“. Sie bilden fast ein Fünftel seiner dramatischen Produktion, auch wenn sie kaum gewürdigt werden. Für „Faust“ wünschte er sich ausdrücklich Mozart als Opernkomponisten. Doch der war schon tot, als der Stoff erschien. Auch Beethoven, dem der Stoff von seinem Verleger angetragen wurde, schrieb keine Faust-Oper. Dabei gibt es bis heute nicht weniger als 90 Musiktheaterstücke zum Thema, von der Bildungs- bis zur Rockoper. Nur fünf oder sechs von ihnen haben Beachtung gefunden, neben den oratorischen Szenen von Robert Schumann die Opern von Hector Berlioz,


Deutsche Oper Berlin 3

Berliner Morgenpost | Juni 2014

vertonten und „Werther“ feiern im Juni konzertant Premiere

PA/COSTA LEEMAGE

In „Pourquoi me réveiller“ gesteht Werther Charlotte seine Gefühle. Weil seine Liebe nicht erwidert wird, sieht er nur den Freitod als Ausweg. Diese ergreifende Arie singt Vittorio Grigolo auf seinem neuen Album „The Romantic Hero“. Hier geht der Italiener, der als Kind eine französische Schule besuchte, seiner Leidenschaft für französische Opern nach. Wie auf der Vorgänger-CD „The Italian Tenor“ konzentriert sich Grigolo dabei auf lyrisches Repertoire. Eine Einfühlsamkeit, die im charmanten Gegensatz zum forschen Auftreten des Sängers steht, der nicht nur äußerlich den Latin-Lover verkörpert. So rasant wie seine Passion für schnelle teure Autos gestaltete sich bisher auch Grigolos Karriere. Dass er im Oktober 2012 bei der Gala zum 100. Geburtstag der Deutschen Oper Berlin in letzter

Siegeszug des Belcanto Maria Stuarda zu Füßen von Elisabetta auf einer Illustration zu der Oper Gaetano Donizettis aus dem Jahr 1810

gespielt worden. 1938 feierte man in der französischen Hauptstadt die 1000. Aufführung. Zu der Zeit hatten Massenets Tod und der Hass auf die Franzosen im Ersten Weltkrieg die Oper längst aus den deutschen Spielplänen verbannt. Die Massenet-Renaissance auf dem Plattenmarkt brachte die Oper erst vor wenigen Jahrzehnten zurück in die Opernhäuser. Deutsche Goethe- und SchillerOpern haben sich kaum durchgesetzt. Das liegt sicher auch an der frühen Verehrung als Nationaldichter. Die notwendigen Anpassungen, die ein Drama bei der Umwandlung in ein gutes Libretto über sich ergehen lassen musste, wurden als unstatthaft empfunden. Deshalb griffen die deutschen Komponisten lieber auf Gedichte zurück, die sie in unveränderter Form in Musik setzen konnten. Jede Klassiker-Vertonung verrät viel über den Ort und die Zeit, in der sie entstand. Vielleicht ist das das eigentlich Spannende an den Goethe- und Schiller-Opern aus Frankreich und Italien: Sie spiegeln uns unsere Dichter aus einer ganz anderen Perspektive zurück.

Mi 4. Juni Premiere Maria Stuarda Gaetano Donizetti (1797-1848) Konzertante Oper in italienischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln Musikalische Leitung: Paolo Arrivabeni Chöre: William Spaulding Maria Stuarda: Joyce DiDonato Elisabetta I.: Carmen Giannattasio

Graf Leicester: Joseph Calleja Georg Talbot: Marko Mimica Sir William Cecil: Davide Luciano Anna Kennedy: Christina Sidak Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin Premiere am 4. Juni, 19.30 Uhr Weitere Aufführung am 7. Juni, 19.30 Uhr

Donizettis „Maria Stuarda“, die dramatische Geschichte um die entmachtete schottische Regentin, bot seit der Wiederentdeckung in den 1950er-Jahren den Königinnen des Belcanto eine ideale Bühne. In die Reihe der großen Primadonnen reihte sich Joyce DiDonato unlängst durch die umjubelte Produktion an der Metropolitan Opera (Foto) nachdrücklich ein. Von der Produktion erschien gerade eine Live-Aufnahme auf DVD (Warner Classics / Erato). Es ist vor allem die Art, wie die amerikanische Mezzo-Sopranistin stimmlich alle Fa-

cetten von Traurigkeit und Verzweiflung gestaltet, die das New Yorker Publikum mitriss. Dafür braucht es keine Kostümierung. So darf man davon ausgehen, dass der aus Kansas stammenden „Echo-Klassik"-Preisträgerin auch nach den konzertanten Aufführungen in Berlin das Publikum zu Füßen liegen wird. Erst kürzlich glänzte DiDonato, der die „Times“ eine „unvergleichliche, göttliche Stimme“ bescheinigte, an der Deutschen Oper als Rosina in „Der Barbier von Sevilla“. usi

Joseph Calleja: Bodenständiger Opernstar singt Graf Leicester Seine Karriere begann mit 16 Jahren im Kirchenchor. 1997 stand Joseph Calleja in seiner Heimat Malta erstmals auf einer Opernbühne, er verkörperte den Macduff in Verdis „Macbeth“. Mittlerweile gibt es kaum ein Opernhaus oder Festival von Weltrang, an dem der Tenor noch keine Triumphe feierte. An der Deutschen Oper Berlin erinnert man sich an die Auftritte als Edgardo in „Lucia di Lammermoor“ oder als Nadir in der konzertanten Aufführung von Bizets „Perlenfischern“. Konzertant darf man Calleja jetzt wieder erleben: In Gaetano Donizettis „Maria Stuarda“ singt er die Partie des Grafen Leicester. Besonders gefragt ist der Künstler in den großen Belcanto-Partien. Als Alfredo in Puccinis „La Bohème“, als Nemorino in Donizettis „Liebestrank“ oder Herzog

in Verdis „Rigoletto“. Trotz des Jetset-Daseins als internationaler Opernstar offenbart Joseph Calleja eine gewisse Bodenständigkeit. Auf seiner Website wirbt er nicht nur für seine Kunst, sondern auch für vor allem kulinarisch interessante Orte seiner Heimatinsel. Einem seiner großen Sänger-Vorbilder seit Jugendzeiten, Mario Lanza, hat er sein jüngstes Solo-Album „Be My Love“ gewidmet. usi

PA/PA/DPA-JOSEF HORAZNY

der Mutter. Von dem Gelöbnis, Albert zu heiraten, ist bei Goethe keine Rede. Die Oper verschiebt den Blickwinkel zu Gunsten der weiblichen Protagonistin. Aus Goethes mädchenhafter Lotte wird eine erwachsene Frau, hinund hergerissen zwischen zwei Männern und zwei Lebenskonzepten: Albert verspricht emotionale und soziale Sicherheit, Werther ein Leben, das nur der eigenen Empfindung verpflichtet ist. Während Goethes Werther den Einfluss der Dichtung auf das Leben betont, beschwört Massenet die Macht der Musik. Werther und Charlotte finden tanzend zusammen, im Walzertakt flüchten sie sich in eine Traumwelt der Liebe. Worte wie die Nachricht von Alberts Ankunft wirken eher wie Störfaktoren. Die Wiener Uraufführung 1892 hatte durchaus Erfolg, auch wenn viele Zeitgenossen in der Vertonung eines Goethe-Romans, vor allem durch einen Franzosen, ein Sakrileg sahen. In Paris setzte sich das Stück glänzend durch. Es erlebte eine Aufführungsserie wie sonst nur „Carmen“, „Faust“ und „Manon“. In Deutschland nahm man die Oper dagegen nur sehr zögerlich wahr. Erst 1905 erlebte sie ihre Berliner Erstaufführung – da war sie in Paris schon 500 Mal

Minute einsprang, um sich bejubeln zu lassen, passt in dieses Bild. Schon damals galt der aus der Toskana stammende Künstler, nicht zuletzt dank seiner musikalischen Partnerschaft mit Anna Netrebko, als neuer Stern am Tenorhimmel. Nun kommt der Sänger, der weltweit eine über das normale Konzert- und Opernpublikum hinausgehende Fangemeinde hat, für „Werther“ nach Berlin. usi

Joyce DiDonato: Maria Stuarda mit göttlicher Stimme

PA/AP-PHOTO/KEN HOWARD

Charles Gounod, Arrigo Boito, Ferruccio Busoni und Alfred Schnittke. Wieder ist auffällig, dass relativ wenige deutsche Komponisten Goethes Meisterwerk vertonten. Die bekanntesten Faust-Opern schrieben die Franzosen. Gounods „Faust“ wurde in Deutschland früher unter dem Namen „Margarethe” aufgeführt – aus Respekt vor Goethe. Man ging in Deutschland recht kritisch mit Vertonungen der Nationaldichter aus dem Ausland um. Richard Wagner hat Gounod denn auch abfällig „Pedanterie“ und „süßliche Breite“ vorgeworfen, und Boitos Oper bezeichnete er als „Stickerei einer reizenden jungen Dame“. „Die Leiden des jungen Werthers“ war Goethes größter Publikumserfolg, der den Dichter in ganz Europa berühmt machte. Die ersten Opern stammen von dem Franzosen Rodolphe Kreutzer und dem Italiener Vincenzo Pucitta. Die Werther-Tragödie wurde zur Ikone einer internationalen Populärkultur, deren Zentrum in Paris lag. Nach Napoleons Sturz vergötterten die jungen Pariser Künstler und Autoren Goethe als „Prince des poètes“. Weimar und Paris wurden Pole des neuen europäischen Geistes und Weltbürgertums. Ernste und parodistische Wertheriaden in Oper und Ballett waren in Paris beliebt. Jahrelang war in Paris ein Werther-Vaudeville von Georges Duval zu sehen. Während sich um Schillers „Maria Stuart“ vor allem Italiener bemühten, fiel der „Werther“ besonders in Frankreich auf fruchtbaren Boden. Jules Massenets Oper feierte allerdings erst 1892 Premiere, fast 120 Jahre nach der Veröffentlichung des Briefromans. Das Libretto spitzt den Konflikt zu, stellt manches pointierter dar als Goethes Roman. Es verschärft etwa Charlottes Gewissensnöte durch den Schwur am Totenbett

MARTIN LENGEMANN

Vittorio Grigolo: Ein Werther auf der Überholspur


Zu Besuch

4 Deutsche Oper Berlin

Juni 2014 | Berliner Morgenpost

Exil-Berlinerin Die Sängerin, hier im vergangenen Jahr in Cannes, ist mittlerweile zurück in ihr langjähriges Domizil nahe Wien gezogen

WILLY SAEGER

Paraderolle Als Octavian im Berliner „Rosenkavalier“ von Richard Strauss

„Gute Sänger lernen ein Leben lang weiter“ Christa Ludwig über Berlin, erotische Stimmen und ihre Meisterklasse im Foyer

Rührung Die Kammersängerin im März 2013 bei einer Matinee zu ihrem 85. Geburtstag in der Wiener Staatsoper

In Klosterneuburg, wo der Wienerwald leicht gebirgig wird, lebt Christa Ludwig schon seit den 60er-Jahren – seit sie Ensemblemitglied an der Wiener Staatsoper wurde. Vor einigen Jahren kehrte sie dorthin zurück, nachdem es ihr an der Côte d’Azur zu langweilig geworden war. „Ich mag zwar keine Opern“, sagt sie, „aber ich gehe gerne abends mal weg“. Im riesigen Wohnzimmer des edel begrünten Bungalows steht ein weißer Flügel. Eine ganze Bücherwand mit der „Bibliothèque de la Pléiade“ stammt von ihrem Ehemann, dem vor zweieinhalb Jahren verstorbenen Regisseur Paul-Émile Deiber. Auf einem Sekretär liegt ein Haufen kleiner Patience-Karten. Christa Ludwig hat sich gerade ein Eis aufgetan. Unsere Verabredung hatte sie vergessen. Christa Ludwig: Bitte nehmen Sie doch

Platz, ich hatte es mir gar nicht aufgeschrieben. Möchten Sie auch ein Eis? Berliner Morgenpost: Nein, vielen Dank! Frau Ludwig, gäbe es so etwas wie eine Doyenne unter Opernsängerinnen, so könnten Sie diesen Titel beanspruchen. Wäre es eine schöne Ehre?

Wäre schön. Obwohl es vor allem daran läge, dass ich beinahe die Letzte bin. In Wien bin ich gut mit Gundula Janowitz und mit Ileana Cotrubas befreundet. Aber sonst? Wenn ich – was nie vorkommt – alte Aufnahmen mit mir höre, muss ich eigentlich sagen: „Christa, haste ganz schön gemacht.“ Ich war Perfektionistin. Als mir bei der Eboli mit Karajan in Salzburg mal ein Ton daneben ging, war ich vier Wochen lang deprimiert und habe nur Löcher in die Luft gestarrt. Es ist schön, wenn ich es noch erlebe, dass mir Gutes nachgesagt wird. Nicht erst, wenn es schon „friedhöflich“ klingt und man gestorben ist. Sie sprechen gern „frei von der Leber weg“. Zeigt sich daran, dass Sie Berlinerin sind? Vermutlich. Ich habe Jahre gebraucht, um mit den Wienern gut klarzukommen. Denn in Wien gibt es kein klares „Ja“ und „Nein“. Ich bin „Papier-Berlinerin“. Meine Mutter, die wirklich Berlinerin war, hatte beschlossen, dass ich dort zur Welt kommen sollte. Also brach sie hochschwanger in Aachen, wo wir lebten, in ihre alte Heimatstadt auf, damit ich nicht Aachenerin werde. Ich habe nie in Berlin gelebt. Find’s aber toll dort. Die paar Anfangswochen

Wir Sänger sind keine Meister. Wir lernen, wenn wir gut sind, immer weiter. Auch durch Fehler meiner Schüler lerne ich selbst am meisten. Also sind eigentlich sie die Meister. Man kann auch nur so gut sein wie die eigenen Schüler. Deswegen hoffe ich, dass man gute Sänger für den Kurs ausgewählt hat.

KRANICHPHOTO

PA/GEORG HOCHMUTH

T Von Kai Luehrs-Kaiser

Triumphale Rückkehr Als Klytämnestra in „Elektra“ 1990 mit Gwyneth Jones

haben möglicherweise ausgereicht, dass ich die Berliner Schnauze bekommen hab’. An die Deutsche Oper Berlin kehren Sie jetzt mit einem Meisterkurs zurück. Haben Sie selber jemals einen Meisterkurs besucht? Nein, ich hatte ja immer meine Mutter. Sie war für mich Meisterkurs genug. Ich hasse übrigens dieses Wort.

Sind Sie zu Ihren Schülern so streng wie eine Mutter? Ich sage, was zu sagen ist. Aber möglichst liebenswürdig. Das Unterrichten ist ein sehr intimer Vorgang, denn man redet mit jemandem über dessen Körper. Singen ist außerdem etwas, das man nicht tun kann, wenn man beschämt ist oder sich gehemmt fühlt. Also muss man immer nett bleiben. Was sagen Sie Ihren Schülern nicht? Wenn jemand, sagen wir, keine schöne Stimme hat, dann kann man nur sagen: „Die Konkurrenz ist groß. Sie müssen sich das genau überlegen. Es ist schließlich Ihre eigene Existenz!“ Übrigens gab es auch nicht schöne Stimmen wie bei der Callas oder bei Anja Silja, die trotzdem das gewisse Etwas hatten. Maria Callas, mit der ich selber gesungen habe, hatte wirklich nicht unbedingt eine schöne Stimme. Und ist


PIA/DPA

PA / DPA-VOTAVA/

Deutsche Oper Berlin 5

Berliner Morgenpost | Juni 2014

Historische Momente Christa Ludwig als Leonore und James King als Florestan in Beethovens „Fidelio“ 1962

PA //TANGUY HUGUES

PA/ DPA-GERHARD RAUCHWETTER

Singendes Paar Christa Ludwig und ihr damaliger Mann Walter Berry in Alban Bergs „Wozzeck“ 1963 an der Staatsoper in Wien

trotzdem in jedem einzelnen Rezitativ, schon bei den ersten Tönen, absolut unerreichbar. Da fange ich sofort an zu weinen. Von Matthias Claudius gibt es das Wort: „Oh, die Natur schuf mich im Grimme! Sie gab mir nichts als eine schöne Stimme.“ Wohlklang ist nicht alles. Ihre Stimme galt als ausgesprochen erotisch. War das Ihre Absicht? Nein. Was man will, ist immer schon verkehrt. Ich glaube, ich hatte Fleisch in der Stimme, sogar Bauch. Das lag aber nicht daran, dass ich mich erotisch gefühlt hätte. Sondern an vielen unerfüllten Sehnsüchten, die ein Sängerleben so mit sich bringt. Ich konnte all das, was mir fehlte, in den Gesang hineinlegen. Deswegen bin ich im Grunde nie eine echte Bach-Sängerin gewesen. Obwohl ich es oft gemacht habe. Ich war zu persönlich und nicht neutral genug. Heute dagegen verstehen viele Sänger nur noch etwas von Sex. Und nichts von Erotik. Das führt auch zu nichts. An der Deutschen Oper Berlin haben Sie viele Ihrer Parade-Rollen wie Amneris, Ortrud, Octavian, Dorabella und Klytämnestra gesungen. Warum wurden Sie von Ferenc Fricsay nicht von Anfang an fest engagiert?

Ich war bei der Eröffnung des Hauses 1961 dabei, aber nur im Publikum. Denn mein damaliger Mann Walter Berry sang den Leporello im „Don Giovanni“. Es gab dann anschließend einige Opern, in denen ich mitwirkte. Dass Fricsay mich nicht fest nach Berlin holte, lag auch daran, dass ich zu sehr mit der Wiener Staatsoper in Verbindung gebracht wurde. Wenn Fricsay in Wien gastierte, haben wir oft miteinander konzertiert. Wir hatten nichts gegeneinander.

Ihr Berliner „Fidelio“ ist kürzlich auf DVD erschienen. Tatsächlich einer Ihrer größten Erfolge? Ja, aber die Leonore lag für mich eigentlich zu hoch. Ich hatte mit 17 Jahren bei bunten Abenden zu singen begonnen, bevor ich 1946 zuerst nach Frankfurt engagiert wurde. Ich hatte alles gesungen, was vorkommt. Fidelio habe ich nur gesungen, weil meine Mutter die Rolle genau 30 Jahre früher unter Karajan in Aachen gesungen hatte. Und meine Mutter hatte ich eben

Meisterkurs Christa Ludwig hat die Deutsche Oper Berlin mit ihren Gastspielen nach der Wiedereröffnung 1961 geprägt wie nur wenige andere Sängerpersönlichkeiten. Zu ihren Paraderollen zählten Octavian im „Rosenkavalier“ und Dorabella in „Così fan tutte“. Doch die Besucher erlebten Christa Ludwig auch in dramatischeren Partien wie Amneris, Ortrud und Leonore in „Fidelio“ – eine Ära, an die die Mezzosopranistin 1990 mit ihrer Rückkehr an die Bismarckstraße als Klytämnes-

tra in Strauss’ „Elektra“ erfolgreich anknüpfen konnte. In dieser Saison fügt die Sängerin dieser über ein halbes Jahrhundert währenden Beziehung ein weiteres Kapitel hinzu: In einem Meisterkurs im Foyer wird sie ihr Wissen an Stipendiaten der Deutschen Oper weitergeben. Am 22. Juni (11.30 Uhr, Eintritt frei) findet der Unterricht öffentlich statt. Am 23. Juni (20 Uhr, Karten 16/8 €) werden die Ergebnisse der dreitägigen Arbeitsphase in einem Konzert im Foyer präsentiert.

Lebensfreude Die MezzoSopranistin (l.) an der Seite von Elisabeth Schwarzkopf in einer Szene von Mozarts „Così fan tutte“ an der Deutschen Oper Berlin

auch immer neben mir. Sie hat mir auf die Finger geklopft, wenn etwas nicht richtig war. Ich habe „Fidelio“ auch unter Klemperer aufgenommen. Dafür hatten wir 14 Tage Zeit. Klemperer, der schon alt und krank war, konnte jeden Tag nur eine kurze Strecke aufnehmen, der Rest wurde – in seiner Anwesenheit – auf Klavierproben verwandt. So konnte ich mir die Rolle aneignen. Wurde früher sorgfältiger geprobt als heute? Nein, das kann man so nicht sagen. Die Brangäne mit Karajan etwa habe ich ohne jede Probe aufgenommen. Ein guter Dirigent weiß, ob ein Sänger gut bei Stimme ist oder nicht. Böhm und Karajan konnten mitatmen. Bernstein weniger. Auch mit James Levine am Klavier habe ich Lieder mehr oder weniger ohne Proben aufgeführt. Wenn man sich gut kennt... Sie haben eine sehr kontinuierliche Entwicklung vom leichten zum schweren Fach vollzogen. Weshalb ist das heute so selten? Ich glaube, es liegt daran, dass junge Sänger heute nicht mehr so leben, wie man als Sänger leben muss. Man darf nichts! Nicht reden und nicht rauchen und nichts trin-

ken. Ich habe gelebt wie ein Sportler. Es gab auch Ausnahmen wie etwa Birgit Nilsson. Ich hatte denselben Halsarzt wie die Nilsson, und der hat mir erzählt, dass sie eben auch breite Stimmbänder besaß, die alles Mögliche aushielten. Ich dagegen habe Stimmbänder wie Wollfäden. Mit denen konnte ich, wie ich glaube, besser modulieren als es die Nilsson konnte. Die stattdessen die Marmorblöcke der großen Wagnerschen Partien hinlegen konnte wie nichts. Wäre es eigentlich ausgeschlossen gewesen, dass Sie auch an der Berliner Staatsoper aufgetreten wären? Ich habe es nur ein einziges Mal getan, nämlich mit der „Winterreise“. Mit Tzimon Barto am Klavier, der damals, glaube ich, Anabolika einnahm, so dass nach einem Konzert mit uns eine Tageszeitung titelte: „Arnold Schwarzenegger mit seiner Mutter“. (Lacht.) Auch das Schauspielhaus, das heutige Konzerthaus, habe ich mit eingeweiht. Man muss bedenken, dass ich in Wien einen Fix-Vertrag hatte und für jeden anderen Auftritt Urlaub einreichen musste. Eigentlich bin ich zwischen dem Bau und dem Fall der Mauer überhaupt zu selten in Berlin aufgetreten. Seit Ihnen und Grace Bumbry hat es einen enormen Aufschwung des Mezzo-Soprans gegeben. Sehen Sie es mit Genugtuung? Ich sehe, dass Cecilia Bartoli, die ein sehr schöner Mezzo-Sopran war, immer mehr ins Sopran-Fach geht. Ähnlich wie ich es auch gemacht habe. Als Mezzo ist man eigentlich in der viel glücklicheren Lage, überall mitmischen und alle ärgern zu können. Man ist überall dabei. Ich wollte nur immer neue Aufgaben bewältigen. Zu meiner Zeit gab es den Ausspruch von Walter Legge, man brauche eigentlich nur fünf Partien zu beherrschen – so wie es seine Ehefrau Elisabeth Schwarzkopf befolgte –, und könne dann überall damit auftreten. Das fand ich schrecklich. Wie ein Beamter! So sind Sie nicht? Mein Charakter ist: Ich will immer Hürden überwinden. Ein langweiliges Leben, so wie ich es jetzt führe, finde ich eigentlich fürchterlich.


6 Deutsche Oper Berlin

Juni 2014 | Berliner Morgenpost

Zwölf junge Theatermacher entwickeln „LoveAffairs“ und bespielen dabei die gesamte Tischlerei

Hosenrollen „Querelle“ zeigt eine androgyn verfremdete Matrosenwelt

T Von Annette Zerpner

Bestimmung oder Zufall? „LoveAffairs“ hinterfragt das Thema Liebe bar jeder Romantik

Die Liebe als Kunst – des Überlebens Brechts auch bald 100 Jahre altem Befehl „Glotzt nicht so romantisch“ zur Ordnung rufen muss: Von Liebeslaube keine Spur, die Imitation einer Lagerhalle dient allen vier Stücken als Spielort. Videowände, Kofferstapel, eine Hebebühne und zwei große Kunststofftiere, dazu fahrbare Kleiderstangen, eine Reihe gelber Wartesaalstühle und eine alte Gartenbank wurden scheinbar planlos im Raum verteilt. Neongelbe Zahlen in Quadraten auf dem Boden erinnern an Hüpfspiele auf dem Schulhof oder Bingo-Karten. Auf die Frage, wer in ihrem „Fall“ denn nun wen liebe, lacht Margo Zalite: Das experimentelle Stück sei eine recht „ungewöhnli-

che Aufgabe“, es gebe keine Erzählung und kein Liebespaar. Die beiden schon optisch gegensätzlichen „Königinnen“ Jörg Schörner und Bini Lee verkörpern Schicksalshaftigkeit und Berechenbarkeit. Zwischen diesen imaginären „Herrinnen“ haben sich Opernpersonal und reale Menschen gleichermaßen zermürbt und abgekämpft. Margo Zalite dagegen betrachtet die Liebe als Zufallsgut: „Viele kleine Gefühle erzeugen das Lebensgefühl.“ Es gibt Spielraum, Variationen, aber keine große Linie. Chorkinder geben den Königinnen per Buchstabenanzeige vor, welchen Abschnitt der in Blöcken gegeneinander versetzten Partitur sie als nächstes singen

ARAS GÖKTEN (2)

Tenor Jörg Schörner steht auf einer Art Laufsteg und streckt mit gewaltiger Schadenfreude einem unsichtbaren Gegenüber den Zeigefinger hin: „Ehehehehehehehe….“ Gesungenes Gelächter schüttelt seinen Leib. „Zeig’ ruhig noch mehr Zunge, das ist gut so!“ ruft Regisseurin Margo Zalite. Über dem Kopf von Sopranistin Bini Lee meint man derweil beinahe eine Glühbirne aufleuchten zu sehen, so deutlich mimt sie einen erfreuten Erkenntnisvorgang: „Aaaaaaaaaaaaah!“ Eine Reaktion auf das Verhalten ihres Kollegen ist es nicht, wie aufgezogene mechanische Puppen wiederholen die beiden jeder für sich Gestik und Mimik. Dann hebt Margo Zalite ein kleines Plakat mit dem Buchstaben F in die Höhe. Schörner greift zum am Boden liegenden Degen – und stellt dabei fest, dass er sich in seiner Kniebundhose schlecht bücken kann. Kurze Pause, die Assistentin der Kostümbildnerin sprintet auf die Bühne und versetzt provisorisch die Knöpfe in der Kniekehle. Kein Problem, die Proben zum Einakter mit dem doppeldeutigen deutsch-englischen Titel „Fall“ haben ja erst begonnen. Er ist Teil von „LoveAffairs“, vier jeweils halbstündigen, sehr unterschiedlichen Kurzopern, deren Bindeglied die Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen romantischer Liebe ist. Die Frage, ob das Musiktheater zu seinem jahrhundertealten Kernthema überhaupt noch etwas Neues zu sagen vermag, treibt zwölf junge Komponisten, Regisseure, Dramaturgen, Dirigenten, Bühnenbildner und Kulturmanager um. Die Stipendiaten des Jahrgangs 2011-13 der „Akademie Musiktheater heute“ der Deutsche Bank Stiftung realisieren in der Tischlerei ihre Abschlussproduktionen. Angesichts der Ausstattung besteht keine Gefahr, dass man sich im Laufe des Abends mit

sollen, entthronen sie und karren sie zur Müllkippe. Dass Margo Zalite nächste Saison in ihrer Geburtsstadt Riga „ganz klassisch“ „Rigoletto“ inszeniert, eines der ganz großen Liebes- und Rachedramen, zeigt allerdings, dass die beiden Königinnen immer noch zugkräftige Überlebenskünstlerinnen sind, die Opernbühne und Fantasie weiterhin beherrschen. Oscar Wildes und Jean Genets berühmte Vorlagen zu den „LoveAffairs“-Stücken „Die Nachtigall und die Rose“ und „Querelle“ stellen Bestimmung, Hörigkeit und Liebestod noch gar nicht grundsätzlich in Frage: Die Nachtigall opfert Herzblut und Leben für die botanische Liebesgabe des unglücklich entflammten Studenten, und die gefährliche Anziehungskraft des Matrosen Querelle besiegelt das Schicksal seiner Opfer. Durch Dopplung und Kontrastierung von Spiel- und Videoszenen wird dem Publikum jedoch drastisch vor Augen geführt, dass Querelle jederzeit zugleich „Mörder, Verführer und Dieb, Außenseiter und Heiliger“ ist. Bei der technischen Umsetzung ihrer Ideen mussten sich die Stipendiaten an die zahlreichen Routineabläufe im großen Opernhaus erst gewöhnen: „In der freien Szene probt man einfach solange wie nötig. Hier muss man den Raum, die Musiker, den Orchesterwart und alles andere minutiös organisieren und hat dann genau zwei

Stunden Zeit für die Probe“, erzählt Komponistin Birke Bertelsmeier. Diese strukturierte Arbeitsweise habe natürlich auch Vorteile: Man wird tatsächlich pünktlich fertig. Manchmal ist der Zufall trotzdem maßgeblich am Ergebnis beteiligt. Durch die Neuproduktion von Brittens Seemanns-Oper „Billy Budd“ zur gleichen Zeit standen für „LoveAffairs“ kaum männliche Ensemblemitglieder zur Verfügung. Nach dem ersten Schreck habe man die Männerpartien von „Querelle“ in Hosenrollen umgewandelt. Die Wirkung der androgyn verfremdeten Matrosenwelt stellt nun eine besondere Stärke der Inszenierung dar, ist Bertelsmeier sicher. Selbst „Musical Land“, Schauplatz des vierten Einakters, ist an diesem Abend keine sichere Bank für Liebhaber einfacher Lösungen: Wenn ausgerechnet der strenge Arnold Schönberg auftaucht, um den letzten Überlebenden des abgebrannten Königreichs der leichteren Muse ihren Glauben an die genretypischen Werte Liebe und Optimismus zurückzugeben, ahnt man bereits nichts Gutes. Der Versuch schlägt fehl: Evita, Maria von Trapp und Little Orphan Annie versagen dabei, sich glücklich zu singen. Das letzte Wort hat die „Neue Musik“ in Gestalt des Komponisten, der zur Waffe greift, um die Damen von ihrem Elend zu erlösen. Eine höchst ironische Abrechnung inklusive einer Prise maliziösen Wunschdenkens: Stellt doch das Genre Musical seine Unverwüstlichkeit regelmäßig unter Beweis, ohne dass ein Ende absehbar wäre.

Fr 20. Juni Premiere LoveAffairs Liebesszenarien von Birke J. Bertelsmeier und Dariusz Przybylski Musikalische Leitung: Martin Nagashima Toft Bühne: Lars Unger Kostüme: Belén Montoliú 1 . Die Nachtigall und die Rose Komposition: Birke Bertelsmeier, Regie: Nina Dudek 2. Musical-Land Komposition: Darius Przybylski, Regie: Felix Seiler 3. Querelle Komposition: Birke Bertelsmeier, Regie: Tilman Hecker 4. Fall Komposition: Darius Przybylski, Regie: Margo Zalite Solisten, Kinderchor und Orchestermitglieder der Deutschen Oper Berlin Ein Kooperationsprojekt mit der Deutsche Bank Stiftung Uraufführung am 20.6., weitere Vorstellungen am 21., 24., 25., 26. und 27. Juni, jeweils 20 Uhr. Eingeschränkte Sitzmöglichkeiten


Deutsche Oper Berlin 7

Berliner Morgenpost | Juni 2014

Höllenfahrt

MARCUS LIEBERENZ/BILDBUEHNE.DE

SpielPlan

Schürzenjäger

Don Giovanni Dämonisch eilt Don Giovanni, die Ikone der Sittenlosigkeit und Sünde, von einer Eroberung zur nächsten. Dabei schreckt der Frauenheld auch nicht davor zurück, den Vater seiner jüngsten Flamme im Duell zu töten. Vorstellung am 8. Juni

Service Deutsche Oper Berlin Bismarckstraße 35 10627 Berlin www.deutscheoperberlin.de Karten und Infos 030-343 84 343 (Mo bis Fr 8 – 18 Uhr, Sa, So, 11 – 16 Uhr) info@deutscheoperberlin.de Tageskasse, Abo-Service Götz-Friedrich-Platz Mo bis Sa 11 Uhr bis 1,5 Stunden vor der Vorstellung; an vorstellungsfreien Tagen bis 19 Uhr; So 10 – 14 Uhr Abendkasse ab 1 Stunde vor Vorstellungsbeginn, kein Abo-Service Anfahrt U-Bahn: U2 Deutsche Oper, U7 Bismarckstraße, Busse: 101 und 109 Parkhaus Deutsche Oper Einfahrt Zillestraße, Operntarif 3 € Restaurant Deutsche Oper Reservierung und Pausenbewirtung 030-343 84 670 www.rdo-berlin.de Shop „Musik & Literatur“ 030-343 84 649 www.velbrueck-shop.de ab eine Stunde vor Vorstellungsbeginn

Überflieger Abheben mit Musik Die BigBand der Deutschen Oper mit Marc Secara (Gesang) bei den Brandenburgischen Sommerkonzerten: Flughafen Berlin Brandenburg. Open-Air am 10. August

MARCUS LIEBERENZ / BILDBUEHNE.DE

DPA/BRITTA PEDERSEN

MARCUS LIEBERENZ / BILDBUEHNE.DE

Billy Budd Begleiten Sie den jungen Bootsmann Billy Budd durch die dramatischen Ereignisse auf einem Kriegsschiff. Vorstellungen am 3. und 6. Juni

Termine im Juni 1

So

3 4 5 6 7

Di Mi Do Fr Sa

8 9 11 12 13 14 15

So Mo Mi Do Fr Sa So

16

Mo

19 20 21 22 23 24 25 26 27

Do Fr Sa So Mo Di Mi Do Fr

11.00 18.00-20.15 19.30-22.45 19.30-22.15 19.30-22.30 19.30-22.45 15.30-17.00 19.30-22.15 19.00-22.30 19.00-22.00 19.00 19.00 19.00 19.00 11.00 19.00 19.00 20.00-22.45 20.00-22.45 20.00-22.00 20.00-22.00 11.30-14.30 20.00 20.00-22.00 20.00-22.00 20.00-22.00 20.00-22.00

Jazz & Breakfast [Restaurant Deutsche Oper], Brunch 22,50 € FAUSTS VERDAMMNIS BILLY BUDD Premiere: MARIA STUARDA [konzertant] ROMEO UND JULIA [Staatsballett Berlin] BILLY BUDD Führung MARIA STUARDA [konzertant] DON GIOVANNI ROMEO UND JULIA [Staatsballett Berlin] Premiere: DAS GROSSE BUH [Sound-Walk] [Treffpunkt Kassenhalle] DAS GROSSE BUH [Sound-Walk] [Treffpunkt: Kassenhalle] DAS GROSSE BUH [Sound-Walk] [Treffpunkt: Kassenhalle] DAS GROSSE BUH [Sound-Walk] [Treffpunkt: Kassenhalle] Workshop: TanzTanz [Staatsballett Berlin] DAS GROSSE BUH [Sound-Walk] [Treffpunkt: Kassenhalle] DAS GROSSE BUH [Sound-Walk] [Treffpunkt: Kassenhalle] Premiere: WERTHER [konzertant in der Berliner Philharmonie] WERTHER [konzertant in der Berliner Philharmonie] Premiere: LOVEAFFAIRS [Tischlerei] LOVEAFFAIRS [Tischlerei] Meisterklasse Christa Ludwig [Foyer] Abschlusskonzert Meisterklasse Christa Ludwig [Foyer] LOVEAFFAIRS [Tischlerei] LOVEAFFAIRS [Tischlerei] LOVEAFFAIRS [Tischlerei] LOVEAFFAIRS [Tischlerei]

frei 29-90,21-76,38-122,21-76,29-90,5,29-90,29-90,21-76,16,16,16,16,15,16,16,29-90,29-90,20,20,frei 16,20,20,20,20,-

Infos zu Karten und Ermäßigungen erhalten Sie unter 030-343 84 343 oder unter www.deutscheoperberlin.de und www.staatsballett-berlin.de

GewinnSpiel Jules Massenets Oper „Werther“ handelt auf Basis des Goetheschen Werks von der Gewalt einer Liebe in bürgerlichen Zeiten. Der junge Werther verzehrt sich nach der ältesten Tochter des Amtmanns, die allerdings bereits seinem Rivalen Albert versprochen ist. Der Partie der Tochter wird Ekaterina Gubanova ihre Stimme leihen. Wenn Sie den Namen dieser Rolle kennen, können Sie 1 x 2 Freikarten für die Vorstellung am 19. Juni gewinnen. Rufen Sie heute (28. Mai) an unter Tel.: 01379-706072 (0,50 € aus dem deutschen Festnetz, Mobilfunk deutlich teurer), die Hotline ist 24 Stunden geöffnet. Die Gewinner werden schriftlich benachrichtigt, die Karten zugeschickt. Der Rechtsweg und die Barauszahlung sind ausgeschlossen. Mitarbeiter der Deutschen Oper Berlin und der Berliner Morgenpost GmbH dürfen nicht teilnehmen.


8 Deutsche Oper Berlin

Juni 2014 | Berliner Morgenpost Schah, Schah, Scharlatan! Studenten protestieren am 2. Juni 1967 gegen den Besuch des persischen Herrschers vor dem Opernhaus an der Bismarckstraße. Später eskaliert die Gewalt

PA/ AKG-IMAGES/ GERT SCHUETZ

Junge

Ein interaktiver Sound-Walk setzt sich mit den Protesten in der Geschichte des Opernhauses auseinander

PA / BLICKWINKEL/G.FRANZ

Wir protestieren! Der Künstler Ai Weiwei, der sein Heimatland nicht verlassen darf, dessen Werke aber in der Ausstellung im fernen Berlin Chinas Missstände anprangern. Der Pianist, dessen Spiel auf dem umkämpften Taksim-Platz in Istanbul Demonstranten und Polizisten zu Tränen rührt. Protest hat viele Gesichter. Seit der Französischen Revolution gibt es praktisch keine Kunstform, die nicht für den politischen Widerspruch benutzt wurde. Wenn Menschen öffentlich ihren Unmut gegenüber herrschenden Realitäten äußern, werden diese Statements nicht selten künstlerisch zum Ausdruck gebracht. Die Palette reicht vom Protestsong über Graffiti, Karikaturen, Satire-Schriften bis zum Theater. Schüler des 11. Jahrgangs der MarcelBreuer-Schule haben sich in einem Begleitprojekt zum Sound-Walk „Das große Buh“ (siehe rechts) auf die Suche nach künstlerischen Protestformen gemacht. In „Wir protestieren!“, einem Workshop der Jungen Oper, wurden verschiedenste Protestsituationen und -formen analysiert und schließlich im öffentlichen Raum ausprobiert. Ausschnitte der Protest-Performance sind vom 11. bis 16. Juni im Rahmen von „Das große Buh“ zu erleben. usi

T Von Jacqueline Krause-Blouin 2. Juni 1967. Aufgebrachte Studenten demonstrieren gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien, der sich in Begleitung des Regierenden Bürgermeisters und des Bundespräsidenten Mozarts „Zauberflöte“ zu Gemüte führen möchte. Es soll eine Schlüsselnacht der deutschen Nachkriegsgeschichte mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Folgen werden. Schlachtrufe wie „Schah, Schah, Scharlatan!“ hallen durch Charlottenburg, die Demonstrationen geraten außer Kontrolle. Der Romanistikstudent Benno Ohnesorg wird durch die Kugel eines Polizisten tödlich verletzt und die Deutsche Oper ungewollt zum blutigen Mittelpunkt des politischen Geschehens. Es stimmt, die Geschichte der Deutschen Oper Berlin hat mehr als ein paar lächerliche Skandälchen von hysterischen Anfällen wetteifernder Operndiven oder Intrigen unter Dirigenten zu bieten, sie ist ein Ort Berliner und deutscher Geschichte und die Mauern des Hauses haben schon einiges miterlebt. Als 1988 der IWF in Berlin tagte, klatschte literweise Schweineblut an die Fassade. Wenn diese Wände sprechen könnten... Höchste Zeit also zurückzublicken. Zusammen mit den StudenKunst des Widerstands Graffiti an einer Hauswand mit dem Spruch: Mut ist Freiheit

ten des Studienganges „Sound Studies“ der Universität der Künste (UdK) gestalten Dorothea Schroeder und Anne Oppermann derzeit einen interaktiven SoundWalk rund um die Geschichte der Deutschen Oper Berlin. „Es wird aber keine Museumstour!“, winkt Dorothea Schroeder sogleich ab. „Man wird als Zuschauer zwar viel erfahren, aber so manches findet auch bewusst auf einer abstrakten Ebene statt.“ Gemeinsam mit den Studenten haben sich Schroeder und Oppermann „in die Archive hineingewühlt“; das warf so manche alte und neue Frage auf. Warum schrien beispielsweise 1956 vor allem junge Leute bei der Premiere von Hans Werner Henzes avantgardistischem „König Hirsch“ plötzlich „Wir wollen Lohengrin!"? Wie kann man Protest klanglich umsetzen, aber vor allem: wie sieht es denn eigentlich mit uns selbst aus? Die Studenten mussten sich und ihrer Generation eine gewisse Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit eingestehen. „Man weiß, wogegen man ist, aber man weiß nicht genau, wofür man ist“, sagt Anne Oppermann nachdenklich. Und wo soll man überhaupt anfangen? Schließlich sind wir doch alle gerade total mit Leben beschäftigt. Haltung? Protest? Wer hat noch nicht, wer will noch mal? Offensichtlich hat sich auch unsere Toleranzgrenze, was Theater und Oper anbelangt, erheblich erweitert. Wann wurde das letzte Mal bei einer Premiere so laut gebuht, dass das Stück unterbrochen werden musste? „Uns ist die Empörung abhanden gekommen", sagt Dorothea Schroeder. „Aber wir stellen gerade fest, dass das nicht so weitergehen kann. Denn sonst wird unsere Demokratie immer mehr zur Farce.“ Der Sound-Walk mit dem vielsagenden Titel „Das große Buh“ setzt sich also auf kreative Weise auch mit diesen gesell-

ULLSTEIN BILD/KINDERMANN

Oper

Wenn diese Wände sprechen könnten...

schaftlichen Fragen auseinander, ohne das vermessene Ziel zu haben, sie alle beantworten zu müssen. Der „Sound Studies“-Student Andrés Torres beispielsweise arbeitet an einer Installation mit einem Megafon. Der Besucher spricht etwas hinein, aber heraus kommt etwas völlig anderes. Stille Post gone wrong. Er möchte damit auf Missverständnisse im Protest und Mitläufertum aufmerksam machen. „Manchmal gehen in der Masse die Facetten des Einzelnen unter, und das ist gefährlich“, sagt er. Die Welt ist nun einmal grau und nicht schwarz oder weiß, das kritisieren auch die Studenten der UDK am oft so pauschalen Demonstrationskosmos. „Auch im Internet droht Protest oft außer Kontrolle zu geraten“, beobachtet die Studentin Helen Heß. „Durch die Anonymität des Mediums fühlen wir uns künstlich geschützt und müssen nicht unmittelbar Verantwortung übernehmen.“ Mit Kopfhörern ausgestattet, werden die Besucher durch verschiedene eigenständige Stationen geschleust, lernen dabei, dass die Deutsche Oper durchaus ein politischer Ort ist und werden eingela-

Protest mit Trillerpfeife Bei der Uraufführung der Oper „König Hirsch“ von Hans Werner Henze 1956 gingen einige Zuschauer lautstark zur Sache

den, sich selbst kritisch zu hinterfragen. Vor dem moralischen Zeigefinger muss sich hier allerdings niemand fürchten, denn die Initiatorinnen nehmen sich selbst nicht aus. Im Gegenteil: „Das Schönste wäre“, sagt Anne Oppermann mit einem Augenzwinkern, „wenn wir am Ende so richtig ausgebuht würden.“ Das große Buh 11.-16. Juni, 19 Uhr, 16 €. Treffpunkt Kassenhalle. Als Pfand für den Kopfhörer bitte Personalausweis oder ein anderes Dokument mitbringen. Bequemes Schuhwerk wird empfohlen


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.