Magazin 2015 web

Page 21

Wenn die Kirchenglocken eine andere Zeit einläuten

S

chlag sieben – kaum ist das Geläut von Mariä Himmelfahrt, der Rokoko-Marktkirche nebenan, verklungen – schreitet festen Schrittes ein stattlicher Herr auf unsere Gruppe zu. Eine imposante Erscheinung mit Zylinder und hohen Stiefeln. Auch sonst mag die Kleidung dieses groß gewachsenen Herrn nicht so recht ins heutige Bild passen: mit seinem weißen Rüschenhemd, der Weste und dem langen Mantel, einen Gehstock mit Silberknauf in der Hand. „Was macht das Volk zu so später Stund´ auf der Gass?“, fragt dieser uns unvermittelt und nimmt Robert, unseren Fotografen, fest ins Visier: „Da ist er schon wieder, dieser Lump! Wie oft habe ich ihm schon gesagt, dass er sich nicht herumtreiben solle, in der Nähe dieses Brunnens?“ Ob uns dieses Mannsbild nicht bekannt sei? Keine Verwechslung! Die Schelte gilt tatsächlich meinem Kollegen Robert. Wohl namentlich besser bekannt als Lehrer Voit, der berüchtigt dafür gewesen sein soll, „sich zu abendlicher oder nächtlich Stund‘ dort zum Brunnen zu schleichen, um seinen Leibstuhl zu entleeren“. „Eine Ungeheuerlichkeit!“, empört sich unser Gegenüber. War doch die Verunreinigung der

Brunnen im Ort – drei an der Zahl – 1820 vom Landgericht zu Wegscheid verboten worden. Zweimal im Jahr, so erfahren wir, wurde im Markte zu Obernzell das so genannte „Ehaft Täding“ abgehalten. Das Volk am Marktplatz zu einer öffentlichen Gemeindeund Rechtsversammlung zusammengerufen. Anlass für den Magistrat, also den Gemeinderat, dem der Marktrichter (zugleich auch Bürgermeister) und sechs Ratskollegen angehörten, Neuigkeiten zu Recht und Ordnung kundzutun, aber auch Klagen und Bittschriften entgegenzunehmen. Die Hygiene war dabei wohl immer wieder ein wichtiges Thema auf der Tagesordnung. „Weshalb der betagte und ortsbekannte Schulmeister auch aktenkundig geworden sei.“

21


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.