Bel.-Perspektiven 48 Frühjahr 2010

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02 / 10 Frühling 2010 ISSN 1616-7619 4,- € K 46699

Insider analysieren, Initiativen berichten.

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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, Am 26. April 2011 wird sich die Reaktorexplosion im Atomkraftwerk Tschernobyl zum 25. Mal jähren. Bis zum 25. Jahrestag der Katastrophe erwarten Sie vier Ausgaben der Belarus Perspektiven, die verschiedene Themenkomplexe rund um Tschernobyl und seine grenzüberschreitenden Folgen für Europa aufgreifen. Diese Ausgabe, die kurz nach dem 24. Jahrestag erscheint, steht unter dem Motto „Am Vorabend des Gedenkens“. Wir möchten Ihnen besonders die vom IBB initiierten Projekte „25 Jahre nach Tschernobyl – Wege zu einer transnationalen Erinnerungskultur“ und „Zukunftswerkstatt – Energieeffizienz und erneuerbare Energien nach der Katastrophe von Tschernobyl“ vorstellen (Seite 26 und 27). Aber auch andere europäische Initiativen planen vielfältige Aktionen und Projekte für den April 2011, die einige von ihnen kürzlich bei einem Vernetzungstreffen in Dortmund vorstellen konnten (Seite 27). Weil wir Ihnen neben diesen Projekten auch von den belarussischen Lokalwahlen berichten wollten, erscheint diese Frühlingsausgabe einige Wochen später als gewöhnlich. Belarus indes scheint sich in einer außen- und innenpolitischen Sackgasse zu befinden. Die Lokalwahlen vom 25. April hielten viele Menschen-

rechtsschützer und Oppositionelle für eine Farce (Seite 11). Der Europarat hat inzwischen auf die vielerorts kritisierte innenpolitische Situation reagiert, indem die PACE die Beziehungen zum offiziellen Minsk aussetzte (Seite 6). Auch die Beziehungen zu Russland scheinen zu stagnieren (Seiten 24 und 25), wobei die innige Freundschaft zu Venezuela wenig von der außenpolitischen Flaute ablenken kann (Seite 8). Trotz politischer Querelen, scheint sich kulturell viel in Belarus zu bewegen. Das zeigen nicht nur das Interview mit Lavon Volski, dem Dinosaurier des belarussischen Rocks (Seite 32 und 33), sondern auch Projekte wie Belarus Inside Out (Seite 34). Auch die Einstellung zu sexuellen Minderheiten dürfte sich in den letzten Jahren ein wenig entspannt haben, wie Jeanna Krömer auf Seite 31 beschreibt. Politisch mag vieles stagnieren, aber die kulturellen Freiräume lassen Belarus-Freunde nicht ganz hoffnungslos zurück. Grün ist die Hoffnung und grün ist auch diese Frühlingsausgabe der Belarus Perspektiven. Die nächste Ausgabe erscheint Mitte Juli. Herzlich Ihr Peter Junge-Wentrup

Autorenvorstellung

Immer im Zentrum des Geschehens? So nah an Präsident Lukašenko kommen nicht viele belarussische Journalisten heran – unserer Autorin Marina Rachlej ist es diesmal gelungen. Marina Rachlej arbeitet als politische Analystin für die älteste belarussische unabhängige Nachrichtenagentur BelaPAN. Für die Belarus Perspektiven schreibt sie regelmäßig Hintergrundberichte zur belarussischen Innenpolitik. Nebenbei interessiert sie sich für Menschen, Kultur, klassischen indischen Tanz und sammelt verloren gegangene Knöpfe. Mehr Artikel von Marina Rachlej finden Sie unter http://blogs.euobserver.com/rakhlei. Foto: Julia Daraškevič (Naša Niva)


Inhalt

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Foto: Xavier Häpe

Mit dem Latein am Ende PACE friert die Beziehungen zu Belarus ein

Keine Wahl? Keine Überraschungen bei den Lokalwahlen in Belarus

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat beschlossen, den Kontakt zum belarussischen Parlament und hohen Regierungsvertretern einzufrieren. Der Dialog wird mit Vertretern der Zivilgesellschaft und der Opposition fortgesetzt. Wie wird die Entscheidung in Belarus bewertet?

Zu Anfang des Jahres reformierte das belarussische Parlament die Wahlgesetzgebung. Die Lokalwahlen vom 25. April galten als Prüfstein für die Reformen. Weit gefehlt: unter den 21.288 gewählten Abgeordneten befanden sich nach Aussagen der Opposition nur neun Vertreter regimekritischer Parteien. Ins Minsker Stadtparlament schaffte es kein einziger Vertreter der Opposition. Waren die Wahlen eine Farce?

Außenpolitik

Innenpolitik

Beschluss der PACE Milinkevich in Berlin Ölkrieg mit Russland Neuer Leiter des OSZE-Büros, Minsk MP Platzeck in Minsk

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Städtepartnerschaften Eisenach – Mogilev ewoca³ Ausstellung von Leonid Levin Neues Lehrbuch erschienen

Belarus Perspektiven

Lokalwahlen in Belarus Kommentar Opposition Wehrdienstverweigerer Polenverband Interview P. Severenec Belaja Rus‘ Chronologie

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Kultur/Wissenschaft

NGO/Gesellschaft

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Foto: bymedia.net

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Homosexualität in Belarus Interview mit L. Volski Rammstein in Minsk Belarus Inside Out

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Inhalt

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Foto: Ingo Petz

25 Jahre nach Tschernobyl Wege zu einer transnationalen Erinnerungskultur

Ob das gelingt? Ingo Petz trifft Lavon Volski

„Chernobyl“ is a word we would all like to erase from our memory... Yet there are two compelling reasons why this tragedy must not be forgotten. First, if we forget Chernobyl we increase the risk of more such technological and environmental disasters in the future... Secondly, more than seven million of our fellow human beings do not have the luxury of forgetting. They are still suffering... Indeed, the legacy of Chernobyl will be with us, and with our descendants, for generations to come.“ (Kofi Annan, New York 2000)

Der bekannteste belarussische Rockmusiker Lavon Volski über das Regime Lukašenko, die belarussische Musikszene und die zögerliche Liberalisierung in Belarus.

Wirtschaft & Umwelt

25 Jahre nach Tschernobyl

Analyse 2010 Interview Leiter Citybank Beziehungen BY-RUS

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Editorial Inhalt Chronologie Impressum

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Zukunftswerkstatt IBB Projekte Am Vorabend des Gedenkens

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Außenpolitik

Mit dem Latein am Ende Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat beschlossen den Kontakt zum offiziellen Minsk auf höchster Ebene (hohe Regierungsvertreter und Parlament) einzufrieren. Der Dialog wird mit Vertretern der Zivilgesellschaft und der Opposition fortgesetzt. Wie wird die Entscheidung in Belarus bewertet? Dieser Artikel ist am 30. April in voller Länge auf www.dw-world.de/belarus erschienen und wird mit freundlicher Genehmigung der Russischen Redaktion der Deutschen Welle abgedruckt. Natal‘ ja Grigor‘eva, Bonn

Da hing der Haussegen noch nicht schief: Eröffnung des Europarat-Infopunktes an der Staatlichen Universität in Minsk im Juni 2009. Foto: bymedia.net

Am 29. April fand in Straßburg eine außerordentliche Debatte zur Lage in Belarus statt. Im Ergebnis beschloss die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) mit Mehrheit ihrer Stimmen, den Kontakt zum offiziellen Minsk auf höchster Ebene einzufrieren. Grund dafür, heißt es in der verabschiedeten Resolution, sei der „mangelnde Fortschritt“ im Hinblick auf die Normen des Europarates gewesen. Zu der Resolution hatten vor allem die Hinrichtungen der verurteilten Kriminellen Andrej Šuk und Vasil Jazepčuk, die Lage der polnischen Minderheit und das Fehlen von internationalen Beobachtern bei den Lokalwahlen geführt. Außenministerium reagiert Das belarussische Außenministerium bezeichnete die Resolution als „impulsiv und inkonsequent“. Der Pressesprecher des Ministeriums, Andrej Savinych, kritisierte, dass die PACE zwar einerseits behaupte, Anhänger des Dialogs zu sein, aber andererseits nun die Kontakte einfriere. „In dieser Situation ist die Position der belarussischen Seite konsequenter“, findet Savinych. Minsk betrachte den Dialog als Mittel zum gegenseitigen Verständnis und hoffe darauf, dass die europäischen Partner auch zu diesem Ergebnis gelangen werden, so der Pressesprecher.

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Belarus Perspektiven

Enttäuscht vom Dialog Nach Aussagen von Menschenrechtlern hat sich trotz der Besuche hochgestellter europäischer Politiker im vergangenen Jahr nichts im Hinblick auf bürgerliche Rechte und demokratische Freiheiten in Belarus verändert. Der Jurist Vladimir Labkovič vom Menschenrechtszentrum Ves‘na hält die PACE-Resolution deshalb für die konsequente Reaktion eines enttäuschten Europas. Trotz vieler Eingeständnisse und eines Vertrauensvorschusses, habe die belarussische Seite keine Schritte in Richtung Demokratie unternommen. Ganz im Gegenteil, so Labkovič: Der Druck von Seiten der Staatsführung nehme ein Jahr vor dem Präsidentschaftswahlen eher zu. Das verlange nach einer Reaktion. Wirtschaft ist die beste Politik Die Resolution werde allerdings kaum Einfluss auf die Situation in Belarus haben, vermutet der Politologe Denis Mel‘jancov. Da Belarus als einziges europäisches Land nicht Mitglied im Europarat ist, seien die Resolutionen des Gremiums praktisch bedeutungslos für das Land. Heute gelte für Belarus vor allem, mit der Europäischen Union und dem Internationalen Währungsfonds zu kommunizieren, mit denen Belarus „technische Beziehungen“ unterhalte. Die Ukraine wird´s schon richten Die Einführung demokratischer Standards hänge indes nur von dem politischen Willen der Staatsführung ab, meint Mel‘jancov. Gleichzeitig setze Minsk auf Schützenhilfe aus dem Ausland. Erst kürzlich verkündete der ukrainische Präsident Viktor Janukovič, er werde Belarus auf den richtigen Weg bringen und dafür sorgen, dass Belarus „schon sehr bald Mitglied im Europarat“ werde. Ein interessantes Angebot, zumal die Ukraine nächstes Jahr den Vorsitz von PACE inne hat.

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Außenpolitik

Finnlandisierung ja, Aserbaidschanisierung – nein danke! Auftritte auf westeuropäischem Boden sind für Aleksandr Milinkevič das, was im Fußball als „Heimspiel” bezeichnet wird. Europa liebt diesen oppositionellen Gentleman für sein europäisches Auftreten und seinen gemäßigten Konservatismus. Kein Wunder, dass Milinkevič am zweiten Februar in der Berliner DGAP vor über 130 Besuchern sprechen konnte. Vladimir Dorochov, Bonn & Martin Schön, Dortmund Milinkevič skizzierte in seinem Vortrag strategische Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Belarus und der EU. Demnach muss ein EU-Beitritt das zentrale langfristige Ziel des Landes sein, allerdings solle sich Belarus, so Milinkevič, seine Neutralität bewahren. Milinkevič wies auf erste bescheidene Erfolge des Dialogs hin und betonte dabei, dass viele Belarussen in den letzten Jahren endlich verstanden hätten, dass sie Europäer seien. Sogar die derzeitigen Machthaber hätten inzwischen einsehen müssen, dass der größte Feind des Landes nicht der Westen, sondern die marode Wirtschaft sei. Bester Partner in diesem Kampf sei gerade die EU. Allerdings, mahnte Milinkevič, müsse der Dialog mit der EU in Abhängigkeit von der politischen Liberalisierung verlaufen, ansonsten drohe Belarus die „Aserbaidschanisierung”: Auch wenn der Westen die Wahlergebnisse in Aserbaidschan anerkannt habe, in Wirklichkeit sei keine kritische Meinungsäußerung möglich, die loyale Opposition „wiederholt bloß die Worte der Machthaber.” So weit dürfe es in Belarus auf keinen Fall kommen. Russland – Partner auf ewig Auch die Beziehungen zu Moskau standen auf Milinkevičs Agenda. Russland sei der strategische Partner Nummer eins seines Landes, allerdings hätten gute Beziehungen ihre Grenzen: „Ich bin absolut für die Unabhängigkeit und Souveränität unseres Landes”, meinte Milinkevič. Die „Finnlandisierung” sei da der richtige Weg für Belarus: als kleiner Nachbar müsse man mit einer klugen Politik demokratische Strukturen und einen guten Lebensstandard aufbauen, ohne dass sich dadurch die Beziehungen zum großen Nachbarn verschlechterten. Auf diese freie Begriffsjonglage reagierte das Publikum ein wenig irritiert: In der EU habe der Begriff eine sehr uneindeutige Reputation, meinte ein deutscher Politologe. Auch der ehemalige OSZE-Botschafter 02 / 10  Nr. 48

Hans-Georg Wieck warnte Milinkevič davor, fremde historische Konzepte mechanisch auf die Situation in Belarus anwenden zu wollen. Wie zur Demokratie finden? Dann fiel die Gretchenfrage: Wie, fragte ein Zuhörer, könnten denn nun die demokratischen Veränderungen in Belarus eingeläutet werden? Milinkevič blieb vorsichtig mit eindeutigen Aussagen, betonte jedoch, dass er für einen Strategiewechsel bei der Opposition eintrete. Man müsse sich vom Konzept einer Farbrevolution verabschieden, die unter dem autoritären Regime in Minsk unmöglich sei; stattdessen müsse die „belarussische Frage” durch Dialog und eine schrittweise Liberalisierung gelöst werden. Der europäische Weg sei ohne eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit der EU undenkbar, so Milinkevič. Allerdings stünden dieser Annäherung praktische Hindernisse im Weg, allem voran die Schengen-Visa, für die Belarussen momentan doppelt so viel zahlen müssen wie Russen oder Ukrainer. Milinkevič sprach sich für eine schnelle Lösung dieser Frage aus. Insgesamt hinterließ Milinkevič einen guten Eindruck beim Berliner Publikum. Während der eloquente Oppositionelle sein außenpolitisches Renommee erfolgreich pflegte, wartete in Belarus wohl bereits der graue politische Alltag auf ihn: Um sich bei den belarussischen Arbeitern und Angestellten beliebt zu machen, wird Milinkevič das intellektuelle Image eher hinderlich sein. Schließlich ist sein Widersacher, Amtsinhaber Aleksandr Lukašenko, nicht nur berühmt-berüchtigt für seine politische Kaltblütigkeit, sondern auch für seine rhetorische Stärke. Mit dieser und seinem hemdsärmligen Macher-Image kommt Lukašenko in Umfragen nach wie vor auf stabile 40 Prozent, ein Wert, von dem Milinkevič meilenweit entfernt ist. Vermutlich wird die Demokratisierung à la Milinkevič also noch einige Jahre auf sich warten lassen.

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Außenpolitik

Am Öle hängt, zum Öle drängt doch alles Staatliche und nichtstaatliche Experten sind sich ausnahmsweise einig: für Belarus macht die Zollunion mit Russland und Kasachstan ohne günstige Erdöl- und Gaspreise wenig Sinn. Ist das gemeinsame Projekt noch zu retten? Andrej Aleksandrovič, Minsk

Alternative zu Russland? Lukašenko bei seiner Visite in Venezuela. Foto: president.gov.by

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Bereits bei der Unterzeichnung der Dokumente für die Zollunion im November 2009 kam es zwischen Russland und Belarus wegen der Gas- und Erdölpreise zu Streitigkeiten. Kein Wunder, denn es geht um sehr viel Geld. 6,3 Millionen Tonnen für den Eigenbedarf bot Moskau zum Freundschaftspreis, weitere 20 Millionen Tonnen für die Erdölverarbeitung und den Re-Export sollten verzollt werden. Das Angebot schmeckte Minsk nicht, und so zogen sich die Verhandlungen mehr als einen Monat hin. Am 13. Februar willigte Präsident Lukašenko ein. Da das Dokument bis 15. Februar ratifiziert werden musste, blieb schlichtweg keine Zeit mehr für weiteren Zwist. Sonst hätte Belarus womöglich auch ohne die 6,3 Millionen Tonnen günstigen Erdöls dagestanden. Aber Vereinbarung hin oder her, kurze Zeit später brachte die belarussische Seite die Diskussion erneut ins Rollen. Zunächst äußerte Anton Kudasov, stellvertretender Direktor der Wirtschaftsabteilung des Außenministeriums, seine Unzufriedenheit. Die Vereinbarung, so Kudasov, entspräche nicht den Prinzipien einer gemeinsamen Zollunion. Vor allem im Hinblick auf die vergleichsweise hohen wirtschaftlichen Verluste, die sich aus der neuen Vereinbarung ergeben, ist Kudasovs Position nachvollziehbar. In den letzten Jahren hatte Belarus an dem Re-Export von Erdölprodukten nämlich fürstlich verdient und darüber das Gros seiner Deviseneinnahmen erwirtschaftet. Zudem muss die erdölverarbeitende Industrie durch die neue Vereinbarung mit wesentlich weni-

Belarus Perspektiven

ger Rohstoffen auskommen, so dass die Effizienz des Wirtschaftszweiges zunehmend gefährdet ist. Am 26. Februar fanden weitere Verhandlungen in Moskau statt. Doch auch dieses Mal bissen sich die Beamten in den Verhandlungen fest. Kurze Zeit später schimpfte Präsident Lukašenko: Wenn die Russen „jetzt mit Ausreden kommen und beginnen, Öl, Ölprodukte, Gas, Zucker, Milch, Butter, Fleisch, Weizen und so weiter rauszunehmen [aus der Zollunion] – dann brauchen wahrscheinlich weder Russland, noch Kasachstan, noch Belarus so eine Zollunion.“ Den belarussischen Kommissionsbeamten trichterte der Präsident ein, sie sollen ja „nicht von den eigenen Interessen abweichen“. Auch dürfe Belarus das Problem nicht aufschieben, denn Russland mache sonst Nägel mit Köpfen. Zur Sicherheit signalisierte Lukašenko seinen Verhandlungspartnern aus Moskau, dass es auch Alternativen zum russischen Öl gibt. Mitte März besuchte er seinen Busenfreund und Kollegen Hugo Chavez in Venezuela. Man habe sich mit Caracas auf eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Erdölverarbeitung geeingt, meinte Lukašenko hinterher zufrieden. Venezuela werde täglich 80 Tausend Barrel Öl an die belarussische Industrie liefern, gemeinsam wolle man das Endprodukt auf dem europäischen Markt vertreiben. Ambitionierte Pläne, wenn man bedenkt, dass Belarus und Venezuela nicht gerade Nachbarn sind, die Rentabilität eines solchen transkontinentalen Unterfangens weckt also begründete Zweifel. Selbst wenn es Belarus gelingen sollte, das südamerikanische Öl günstig quer über den Globus zu pumpen: Die Zollunion mit Russland macht unter diesen Bedingungen – ohne günstige Rohstoffe – für Belarus keinen Sinn. Solange die Frage nach den Rohstoffen aber nicht ausgestanden ist, bleibt das Projekt in der Schwebe.

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Außenpolitik

Auf das Gleichgewicht achten Seit dem 15. Januar ist Benedikt Haller neuer Leiter des OSZE-Büros in Minsk. Im Gespräch mit der Deutschen Welle berichtet Botschafter Haller über die Pläne und Schwerpunkt der OSZE-Arbeit in Belarus und über mögliche Wege einer Annäherung an die EU. Das Interview wurde am 3. Februar 2010 in voller Länge auf www.dw-world.de/belarus veröffentlicht und wird mit freundlicher Genehmigung der Russischen Redaktion der Deutschen Welle abgedruckt. Das Interview führte Gennadij Kesner. Herr Botschafter was ist ihre Aufgabe in Belarus? Die Schwerpunkte meiner Tätigkeit beinhalten sowohl wirtschaftliche, als auch zwischenmenschliche Bereiche. Wir hoffen, in beiden Dimensionen gleichwertig tätig zu sein. Und woran wollen Sie den Erfolg ihrer Arbeit in Minsk messen? Ich denke, wir können hier in erster Linie eine ganze Reihe sinnvoller Projekte in den genannten Bereichen realisieren, an denen alle interessierten Partner aus Belarus teilnehmen können. Zudem hoffen wir, dazu beizutragen, dass die anderen OSZE-Staaten vielseitig und objektiv über unsere hiesige Tätigkeit, über die Situation im Lande und über alles, was ihr Interesse an Belarus verstärken könnte, informiert werden. Ihr Vorgänger wurde von einem Teil der belarussischen Opposition wiederholt kritisiert, er hätte zu sehr auf die Meinung der Staatsmacht gehört. Wie planen Sie, das Verhältnis zwischen der belarussischen Regierung und ihren Gegnern zu gestalten? Es wird eine unserer Aufgaben sein, in dieser Hinsicht auf ein Gleichgewicht zu achten. Wir müssen unter anderem die Regierung in ihrem Dialog mit zivilgesellschaftlichen Strukturen unterstützen, dafür müssen wir mit beiden Seiten gleichwertig sprechen. Sind Sie bereit, sich der Kritik zu stellen, die sich aus der Situation ergeben könnte? Ich bin offen für jegliche Kritik und durchaus bereit, sie anzunehmen. Allerdings bitte ich darum, mir Zeit zu geben, bis ich Konkretes verwirklicht und mich mit den anderen Playern in Belarus vertraut gemacht habe. Ich bin erst seit zwei Wochen hier, das ist noch nicht besonders lange.

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Die Minsker OSZE-Gruppe wird vor allem von deutschen Repräsentanten geleitet. Ist dies Zufall oder steckt mehr dahinter? Mit Oke Peterson gab es einen schwedischen Leiter. Aber vermutlich liegt es daran, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte und geographischen Lage ein großes Interesse an Osteuropa hat. Gleichzeitig bemühte sich Deutschland, in bestimmten Situationen zwischen Belarus und anderen Partnern zu vermitteln.

Botschafter Haller Foto: bymedia.net

Wie kann man Belarus bei einer Annäherung an Europa helfen? Belarus befindet sich im Zentrum Europas. Bei Gesprächen, die ich bereits hier im Land geführt habe, habe ich ein großes Interesse an Europa und den europäischen Werten festgestellt. Ich möchte dieses Interesse nutzen, um Kontakte zu schaffen, um Reisen und Seminare zu ermöglichen, die dieses Interesse noch stärken können. Den Kontakt zwischen den Menschen herzustellen, erscheint mir dabei besonders wichtig. Herr Botschafter Haller, wir danken Ihnen für dieses Gespäch.

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Außenpolitik

Platzeck unterstützt Projekte erneuerbarer Energien in Belarus Matthias Platzeck besuchte vom 26. bis 28. April die belarussische Hauptstadt Minsk. Auf dem Programm des brandenburgischen Ministerpräsidenten standen sowohl Treffen mit hochrangigen Regierungsvertretern wie auch mit der Zivilgesellschaft. Begleitet wurde Platzeck von einer Delegation brandenburgischer Unternehmer. Wie ein roter Faden zog sich das Thema „erneuerbare Energien“ durch Platzecks Reise, die rund um den 24. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl stattfand. Dorothea Wolf, Minsk dem Thema, „das die Menschheit im nächsten Jahrzehnt überall auf der Welt gleichermaßen beschäftigen wird: Wie können wir Strom aus der Steckdose beziehen, ohne dabei unsere Umwelt zu zerstören?“ Am Beispiel des Landes Brandenburg erzählte er den Konferenzteilnehmern, wie der schwierige Übergang von fossilen Energieträgern hin zu einer Energieversorgung aus erneuerbaren Energien bewältigt werden kann. Brandenburg gilt schon heute als Vorreiter der Bundesländer bei der Nutzung erneuerbarer Energien. Bis 2020 strebt das Bundesland sogar eine hundertprozentige Deckung seines Strombedarfs aus erneuerbaren Energien an.

Ministerpräsident Platzeck bei der Konferenz „Zukunftswerkstatt Minsk – eine Brücke für Energieeffizienz und erneuerbare Energien“ am 27. April in der IBB Minsk Foto: IBB

Während seiner dreitätigen Visite traf sich der Ministerpräsident mit Vertretern aus der Regierung und sprach auf einer Veranstaltung der FriedrichEbert-Stiftung über Brandenburgs Erfahrungen beim Aufbau einer modernen Verwaltung. Auch gedachte Platzeck gemeinsam mit ehemaligen Zwangsarbeitern, Lager- und Ghettoinsassen an der „Jama“ („Grube“) und auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof der getöteten Insassen des Minsker Ghettos und der aus Deutschland deportierten Juden. Platzeck besuchte weiter die Geschichtswerkstatt, die ein Ort des Lernens aus der Geschichte zur Gestaltung von Zukunft geworden ist. Eine besonders wichtige Rolle spielten bei dem Besuch Platzecks Ideen und Projekte rund um das Thema „Energie“. Vorbild Brandenburg Auf der Konferenz „Zukunftswerkstatt Minsk – eine Brücke für Energieeffizienz und erneuerbare Energien“, die am 27. April in der Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ Minsk stattfand, sprach der Ministerpräsident zu

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Zukunftsperspektiven Der Ministerpräsident sieht für erneuerbare Energiequellen in Belarus eine große Chance und begrüßte dementsprechend zwei deutsch-belarussische Projekte zum Thema. Zum einen unterstützte Platzeck, der seit gut einem Jahr Schirmherr der IBB Minsk ist, ganz ausdrücklich das gemeinsame Projekt von IBB Dortmund und Minsk für eine „Zukunftswerkstatt Minsk“, die als Ausstellungsund Dokumentationszentrum zu den Folgen von Tschernobyl wie auch als Beratungs- und Lernort zum Thema erneuerbare Energien ab 2011 auf dem Gelände der IBB gebaut wird. Zum anderen verkündete er den Journalisten und Gästen der Konferenz, dass bis 2012 mit brandenburgischen Know-how in Belarus ein Windpark entstehen soll. Im Hinblick auf das geplante belarussische Atomkraftwerk betonte Ministerpräsident Platzeck, dass es heute nicht mehr einfach sei, die Finanzierung eines solchen Projekts sicherzustellen. Was die Natur dagegen bereitstelle – Wind, Sonne, Biomasse – das gäbe es erst eimal umsonst. Und nach einer gewissen Betriebszeit habe sich auch der Bau der Sonnenkollektoren und Windräder refinanziert. Nr. 48  02 / 10


Innenpolitik

Keine Wahl? Zu Anfang des Jahres reformierte das belarussische Parlament die Wahlgesetzgebung. Bei den Lokalwahlen vom 25. April sollten sich die neuen Paragrafen bewähren. Weit gefehlt: unter den 21.288 gewählten Abgeordneten befanden sich nach Aussagen der Opposition nur neun Vertreter regimekritischer Parteien. Ins Minsker Stadtparlament schaffte es kein einziger Vertreter der Opposition. Waren die Wahlen eine Farce? Marina Rachlej, Minsk 79,5 Prozent der Wahlberechtigten hatten angeblich ihre Stimme abgegeben, rekordverdächtige 29 Prozent sogar schon bei den Vorwahlen. Unregelmäßigkeiten, so die Zentrale Wahlkommission, habe es nur vereinzelt gegeben. Das sehen Regimekritiker anders. Oppositionelle Politiker kritisierten nicht nur das Ergebnis, sondern vor allem den Verlauf des Wahlkampfs. Mit nur 0,3 Prozent war die Opposition in den Wahlkommissionen vertreten, bei den Wahlen selbst nur mit 2 Prozent der registrierten Kandidaten. „Bei solch einer homöopathischen Dosierung, kann man auch nur mit einer homöopathischen Wirkung der Opposition rechnen“ – so Stefanie Schiffer, Geschäftsführerin des Europäischen Austauschs, der die Initiative „Menschenrechtler für freie Wahlen“ bei der Wahlbeobachtung unterstützte. Ein Teil der Opposition entschied sich sogar für einen Boykott der Wahlen, so unter anderem die Vereinte Bürgerpartei. Aber selbst jene Parteien, die hart um ihre Parlamentssitze kämpften, mussten sich mit mageren Ergebnissen zufrieden geben: die kommunistische Gerechte Welt erlangte vier Sitze, die Belarussische Christliche Demokratie drei, die sozialdemokratische Narodnaja Gramada zwei und die sozialdemokratische Gramada einen. Volksfront und Für die Freiheit gingen ganz leer aus. „In Wirklichkeit gab es doch gar keine Wahlen“ – so Pavel Severenec, Co-Vorsitzender der Belarussischen Christlichen Demokratie (siehe Interview auf Seite 16). Die Wahlkampagne sei sehr repressiv gewesen: der Staat habe auf die oppositionellen Kandidaten großen Druck ausgeübt, ihm selber sei

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völlig grundlos die Registrierung verwehrt worden, und auch innerhalb der Wahlkommissionen sei die Beteiligung der Opposition verschwindend gering gewesen. Alles sei also schon von vornherein klar gewesen, findet Severenec. Die Regierung wolle sich mit hohen Zahlen vor allem absichern, bestätigt der Menschenrechtsschützer Ales‘ Beljackij: ,.Allein die unvergleichlich hohe Wahlbeteiligung und der rekordverdächtige Anteil bei den Vorwahlen, deuten darauf hin, dass administrative Ressourcen mobilisiert wurden, um den ganzen Prozess sehr genau zu kontrollieren.“ Die belarussische Staatsführung dürfte sich indes ins Fäustchen lachen. Schließlich betrachtet sie, nach Meinung des Politologen Valerij Karbalevič, alle Wahlen als Teil ihrer Legitimation. „In der offiziellen belarussischen Ideologie wird die Staatsführung vom gesamten Volk unterstützt. Hier hat sie erneut gezeigt, dass sie tatsächlich vom gesamten Volk gewählt wurde.“ Vermutlich liegt der Staatsführung das Ergebnis der realpolitisch unbedeutenden Wahlen zu sehr am Herzen, als dass sie hätte die Zügel locker lassen können. Die Situation wird sich aller Voraussicht schon bei den kommenden Präsidentschaftswahlen wiederholen, die eventuell auf Ende des Jahres vorverlegt werden könnten, um tatsächlich alle Überraschungen auszuschließen. Was die Europäische Union von solchen Fortschritten auf dem Papier hält, bleibt abzuwarten. Aleksandr Lukašenko hat zumindest nicht vor, seine Wiederwahl auf die leichte Schulter zu nehmen: „Das wird eine sehr schwierige Wahlkampagne“ versicherte der Präsident belarussischen Journalisten.

Die Belarussen nehmen ihre Bürgerpflichten sehr ernst. Vielleicht erklärt das die unschlagbaren 79,5 Prozent Wahlbeteiligung? Fotos: bymedia.net

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Innenpolitik

Bellum omnium contra omnes Die belarussische Opposition am Vorabend der Präsidentschaftswahlen In Belarus ist nur ein Wahltermin von realpolitischer Bedeutung – die Präsidentschaftswahlen. Wie rüsten sich Lukašenkos Gegner für die große Schlacht im Frühjahr 2011? Völlig anders als noch fünf Jahre zuvor, findet Jurij Drakochrust, Analyst und Moderator beim regimekritischen Sender Radio Svaboda. Jurij Drakochrust, Prag

Jurij Drakochrust Foto: svaboda.org

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„Nur gemeinsam sind wir stark!“ - das war die Lehre, die die belarussische Opposition vor zehn Jahren aus ihrer politischen Bedeutungslosigkeit zog. Deshalb versuchten sich die großen Oppositionsparteien bei beiden Wahlen auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. 2001 gelang das verhandlungstechnische Kunststück – unter tätiger Mithilfe des damaligen OSZE-Botschafters Hans-Georg Wieck – und der erste Einheitskandidat Vladimir Gončarik war geboren. Auch 2005 siegte der Pragmatismus über persönliche Ambitionen, und die Vertreter der Vielparteienkoalition Vereinte Demokratische Kräfte aus Kommunisten, Bürgerpartei und Volksfront einigten sich auf den NGO-Aktivisten Aleksandr Milinkevič. Zwar machte Ex-Apparatschik Aleksandr Kozulin ihm Konkurrenz, die Mehrheit der Opposition akzeptierte allerdings die Entscheidung ihres Delegiertenkongresses und konsolidierte sich sogar für kurze Zeit um Milinkevič. Dann kam die Wahl 2006, die bittere Niederlage, die Massenproteste, der gescheiterter Versuch einer Farbrevolution. Und die belarussische Opposition stürzte in ihre schwerste Krise seit Jahren, angeheizt

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von den streitsüchtigen Leitwölfen der VDK, dem Vorsitzenden der Vereinten Bürgerpartei Anatolij Lebedko, dem Chef der Kommunistischen Partei (heute „Gerechte Welt“), Sergej Kaljakin, und dem damaligen Vorsitzenden der Volksfront, Vincuk Večërko. Allen dreien schien es unerträglich, Milinkevič weiterhin den Posten als VDK-Vorsitzender zu überlassen. Besonders wurmte sie, dass Milinkevič die Opposition im Ausland repräsentierte. Im darauf folgenden Machtkampf wurde Milinkevič seine Unabhängigkeit zum Verhängnis, die ihn zuvor zum idealen Kompromisskandidaten gemacht hatte. Denn der Präsidentschaftskandidat hatte keinerlei politische Struktur hinter sich, die es ihm ermöglicht hätte, im Kampf mit den mächtigen Parteibossen zu bestehen. Milinkevičs Versuche, sich mit der neu gegründeten Bewegung Für die Freiheit gegen die alten, etablierten Oppositionsparteien durchzusetzen, blieben erfolglos – das VDK-Triumvirat aus Kaljakin, Lebedko und Večërko blieb tonangebend. Zumindest die belarussische Regierung konnte aus der Bewegung politisches Kapital schlagen, indem sie Für die Freiheit offiziell registrierte und dies der EU als großen Liberalisierungserfolg verkaufte. Im Jahr 2007 machten dann die Männer der Parteiopposition Nägel mit Köpfen und entledigten sich ihres ehemaligen Mitstreiters beim VDK-Kongess. Milinkevičs Posten wurde abgeschafft, stattdessen einigten sich die oppositionellen Delegierten auf ein Rotationsprinzip, nach dem die Vorsitzenden der Koalitionsparteien seither abwechselnd das Bündnis leiten. Aleksandr Milinkevič drohte, in der politischen Bedeutungslosigkeit zu versinken, denn seine Bewegung war zu diesem Zeitpunkt weder registriert noch populär. Doch 2009 schlug der gechasste Ex-Hoffnungsträger zurück. Seine guten Beziehungen zur EU, wo man ihn für sein Ja zum Dialog zwischen Belarus und der EU schätzt, und die Palastrevolte bei der Belarussischen Volksfront, wo Milinkevičs Anhänger die Macht übernahmen, Nr. 48  02 / 10


Innenpolitik

gemacht, auch was die Erfolgsaussichten profilierter Oppositioneller angeht. Denn obwohl viele von ihnen jahrelang im politischen Geschäft sind, hat es bisher kein Politiker geschafft, zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten für Lukašenko zu werden. Dies zeigen die jährlichen Umfragen des Unabhängigen Instituts für Sozialökonomische und Politische Forschung NISEPI auf die Sonntagsfrage im Zeitraum zwischen 2005 und 2009 (siehe unten stehende Tabelle).

brachten den ruhigen Physiker zurück ins Spiel. Milinkevič schaltete schnell und initiierte den Belarussischen Block der Unabhängigkeit (BNB), in den sofort die Volksfront, Für die Freiheit, die Belarussische Christliche Demokratie und die Junge Front eintraten. Die neu gegründete Koalition hatte es nicht nötig, den Kontakt zur schwächelnden VDK aufrechtzuerhalten. Diese verhedderte sich in den komplizierten Vorbereitungen für Primeries, bei denen die Bürger im ganzen Land den oppositionellen Kandidaten bestimmen sollten. Vermutlich nur ein aufwendiger PR-Gag, sieht es doch ganz danach aus, dass Lebedko und Kaljakin die VDK als Sprungbrett für ihre eigene Kandidatur nutzen wollen. Kein Wunder, dass ein Mitglied nach dem anderen die Koalition verlässt, zuletzt die christlich-nationale Jugendorganisation Junge Front. Indessen hat bereits eine Reihe oppositioneller Politiker angekündigt, kandidieren zu wollen: Vom kürzlich gestürzten Volksfront-Vorsitzenden Ljavon Borščevskij, über den parteilosen Ales‘ Michalevič und den Koordinator des oppositionellen Internetportals charter97.org, Vjačeslav Sivčik. Allerdings bleibt abzuwarten, wer es überhaupt schafft, die erforderlichen hunderttausend Unterschriften für die Zulassung zur Wahl zu bekommen. Einen gemeinsamen Kandidaten zumindest hat das Gros der Opposition bereits abgeschrieben – ein solcher hätte sowieso keine Chancen auf einen Sieg, mögen sich die oppositionellen Strategen gedacht haben. Denn Lukašenko sitzt fester denn je im Sattel. Trotz Finanzkrise, die nicht etwa die von der Opposition erhofften sozialen Unruhen unter den Belarussen hervorrief, sondern die Masse der revolutionsresistenten Bevölkerung noch tiefer in ihre politische Apathie und die völlige Konzentration auf Alltagsprobleme zog. 2001 und 2006 ließen sich die oppositionelle Elite und ein wesentlicher Teil der belarussischen Politologen vom Schwung und der Euphorie der Farbenrevolutionen mitreißen und rechneten – teils hoffnungsvoll, teils angsterfüllt, je nach politischer Couleur – mit ähnlichen Prozessen in Belarus. Heute hat sich Ernüchterung breit Mögliche Antwort

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Keine Frage: Lukašenko lag über den gesamten Zeitraum in der Wählergunst nahezu unerreichbar weit vorne. Natürlich kann man behaupten, in einem autoritären System antworte kein Bürger offen und ehrlich auf politische Meinungsumfragen, egal, wer sie durchführt. Überprüfen lässt sich diese These des politischen Bias allerdings nicht. Ein Trostpflaster für die Opposition mag die Tatsache sein, dass ihre Einigkeit immerhin Milinkevič zu einem Popularitäts-Quantensprung von 0.8 auf 18,4 Prozent verhalf. Doch blieb es beim Achtungserfolg, von ernsthafter Konkurrenz kann im Vergleich zu Lukašenkos souveränen Umfragewerten auch hier keine Rede sein. Gleichzeitig lässt der Dialog zwischen Minsk und Brüssel die Erfolgsaussichten für die Opposition weiter schwinden, zeigt doch das Tauwetter zwischen Minsk und der EU, dass Brüssel das Drehbuch für eine Revolution tief in der strategischen Schublade vergraben hat. Persönliche Ambitionen, innenpolitische Schwäche und fehlende Unterstützung von außen sind also die Gründe für das vorläufige Ende der oppositionellen Einheitsstrategie. Heute kämpft jeder im Oppositionslager für sich allein. Viele sagen hinter vorgehaltener Hand, schlimmer als 2006 könne das Wahlergebnis sowieso nicht werden. Weit gefehlt – das kann es. Zum Beispiel könnte Lukašenko einen wirklichen 80-Prozentsieg erringen, ganz ohne Wahlbetrug. Sollte dies geschehen, wäre es ein herber Schlag für die Opposition. Aber vielleicht auch ein heilsamer. 04'06

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Antworten auf die Frage: „Wen würden Sie wählen, wenn morgen Präsidentschaftswahlen wären?“ Quelle: NISEPI, www.iiseps.org 06'09

09'09

12'09

A. Lukašenko

41.7

47.3

51.2

57.6

60.3

54.9

49.7

50.9

44.9

42.5

40.2

39.2

40.9

39.4

42.5

A. Milinkevič

0.8

1.4

6.6

15.4

18.4

11.6

10.3

11.4

12.3

6.2

3.6

4.4

3.1

3.4

4.3

A. Kozulin

0.9

1.8

0.8

5.2

3.7

3.2

3.5

4.2

3.2

5.2

5.0

2.3

2.4

2

2.4

C. Gajdukevič

0.4

0.3

1.2

4.3

1.0

0.6

1.8

1.2

1.3

1.7

0.7

0.5

0.6

0.6

0.5

A. Lebedko

2.0

3.5

2.4

0.1

0.1

0.1

0.2

0.5

0.3

0.2

0.3

0.3

0.4

0.4

0.4

C. Kaljakin

0.8

1.1

0.2

0

0

0

0.1

0.1

0

0.1

0.1

0.1

0.2

0.4

0.1

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Belarus Perspektiven

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Innenpolitik

Harte Schläge gegen Polenverband Seit fast fünf Jahren kriselt es innerhalb der polnischen Minderheit in Belarus. Angeheizt wird der Konflikt von der belarussischen Staatsmacht. Die Unstimmigkeiten hatten mit der Wahl des Vorsitzenden 2005 begonnen, als sich der pro-staatliche Flügel des Verbandes abspaltete und als alleiniger Interessenverband vom Staat anerkannt wurde. Der andere Teil – unter Führung der bisherigen Vorsitzenden Anżelika Borys – ist in Belarus nicht zugelassen und gerät in letzter Zeit zunehmend unter Druck. Aleksej Šota, Grodno

Unliebsame polnische Fraktion: (v.l.n.r.) Andrzej Poczobut, Anżelika Borys, Tereza Sobol‘. Foto: bymedia.net

Der Konflikt um den nicht registrierten, regimekritischen Polenverband verschärfte sich Anfang 2010, als die belarussischen Behörden erneut versuchten, den Verband aus seinem Haus im Kleinstädtchen Iveniec in Westbelarus zu vertreiben. Im Laufe des vergangenen Jahres hatte die Regierung mehrfach versucht, dem Verband nachzuweisen, dass seine Arbeit illegal sei. Am achten Februar machte die Staatsmacht dann Nägel mit Köpfen und schickte Gerichtsvollzieher nach Iveniec. Diese erfassten den Besitz des Hauses und vertrieben die Verbandsmitglieder. Nur eine Woche später, am 15. Februar, überschrieb ein Gericht das Haus offiziell dem staatlich genehmen Polenverband. 40 Aktivisten, die an dem Gerichtsverfahren teilnehmen wollten, wurden auf dem Weg zum Gerichtssaal verhaftet, darunter An żelika Borys, Igor Bancer (der Sprecher des Verbandes), Mieczysław Jaskiewicz (der stellvertretende Vorsitzende) und Andrzej Poczobut (der Vorsitzende des Aufsichtsrates). Das Haus in Iveniec ist das fünfzehnte von sechzehn Häusern aus Verbandsbesitz, das nun dem anerkannten Polenverband gehört. Der „alte“ Zweig unter An żelika Borys verfügt inzwischen nur noch über ein Haus in Baranoviči. Bis dato hatten Borys und ihr un-

erwünschter Verband ihre Tätigkeit vor allem unter dem Dach der Firma „Polonika” weiter geführt. Doch auch diesen Schutzschild durchlöchern die belarussischen Behörden. Am 16. März wurde in einem nur halbstündigen Gerichtsverfahren eine Strafe von 71 Millionen Rubeln (ca. 18 000 Euro) gegen „Polonika“ verhängt – wegen angeblicher Steuervergehen. Die hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, äußerte inzwischen ihre Besorgnis über die Ereignisse rund um die polnische Minderheit in Belarus. Auch vom Europäischen Parlament gab es rethorische Schelte. Belarus bemühte sich indes vermeintlich um Schlichtung. Präsident Lukašenko einigte sich mit dem polnischen Außenminister Radosław Sikorski auf die Gründung einer gemeinsamen Expertengruppe, die den Konflikt beilegen soll. Allerdings ist fraglich, ob Belarus tatsächlich an einer Lösung des Konflikts gelegen ist. Zumindest ist kaum verständlich, weshalb der belarussische Leiter der Expertengruppe – der Staatliche Beauftragte für Nationalitäten- und Religionsfragen Leonid Guljako – bei Gründung des Gremiums schlichtweg nichts von seiner neuen Aufgabe wusste. Das harsche Vorgehen der belarussischen Regierung wirkt vor allem in Bezug auf die zaghaften belarussischen Versuche einer schrittweisen Annäherung an Polen und die EU wie ein Schuss ins eigene Bein. In regierungskritischen Kreisen treiben nun Spekulationen wilde Blüten: Hat Lukašenko eventuell die Lage nicht mehr unter Kontrolle? Oder handelt es sich um eine raffinierte Strategie der belarussischen Regierung, mit der sie Verhandlungsmasse für die Anerkennung der Kommunalwahlen Ende April aufbauen will – nach dem Motto: wir geben dem Polenverband mal eine Auszeit und ihr erkennt uns dafür ein paar Wahlkreise an? Sollte sich nach den Wahlen der Konflikt um den

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Belarus Perspektiven

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Innenpolitik

Verband beruhigen, würde sich diese These bestätigen. Wobei auch ein sanfteres staatliches Vorgehen keine dauerhafte Lösung für den Konflikt wäre. Eigentlich gibt es nur zwei Varianten: entweder erkennt die belarussische Regierung den Flügel um An żelika Borys an – oder die beiden Verbände werden unter einer neutralen Führung wieder vereint. Nach den monatelangen Auseinandersetzungen zwischen dem „alten“ Flügel auf der einen

sowie der Staatsmacht und ihrer „neuen“ Union auf der anderen Seite ist jedoch fraglich, ob der Borys-Fraktion an einer solchen Lösung gelegen wäre. Schließlich könnte in einem wiedervereinigten Polenverband die vom Regime geförderte prostaatliche Übermacht schnell den regimekritischen Flügel niederringen. Die Abtrünnigen um An żelika Borys werden also aller Wahrscheinlichkeit nach für ihren eigenen Verband kämpfen.

Zu den Waffen? Nach wie vor gibt es in Belarus kein Zivildienst-Gesetz, obwohl die Verfassung einen solchen Dienst ausdrücklich gestattet. Pech für Verweigerer: Im Frühjahr wurden wieder drei von ihnen zu Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt. Gennadij Kesner, Minsk Das belarussische Gesetzbuch sieht für Wehrdienstverweigerer Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren vor. Bei Betrugsversuchen, vorgetäuschten Krankheiten oder gefälschten Dokumenten kann die Strafe auf bis zu fünf Jahre erhöht werden. Am ersten Februar wurde in Minsk Ivan Michajlov, ein gläubiger messianischer Jude, zu drei Monaten Haft verurteilt. Er hatte sich geweigert, den Wehrdienst zu absolvieren. Nach Aussagen von Valentin Stefanovič, Mitglied der Menschenrechtsorganisation Ves‘na, hatten sich die Eltern von Michajlov mehrfach mit der Bitte um einen alternativen Dienst an das Verteidigungsministerium gewendet. Stefanovič fasste das ernüchternde Ergebnis der Bemühungen zusammen: „Die Antworten der Abteilung liefen alle darauf hinaus, dass Michajlov höchstens zur Reservetruppe gehen könnte, weil es keinen Zivildienst in Belarus gäbe.“ Allerdings, meinte Stefanovič, habe Michajlov seines Wissens nach auch keinen Einberufungsbescheid erhalten. Die Verurteilung entbehre damit ihrer Grundlage. Kein Einzelfall, meint Stefanovič. In diesem wie auch schon im vergangenen Jahr habe es mehrere ähnliche Fälle gegeben, in denen Gewissensverweigerern kurzerhand der Prozess gemacht worden sei. Auch Evgenij Jakovenko aus Gomel‘ wurde mit einer Geldstrafe bestraft, weil er am 20. Dezember ohne ausreichende Begründung nicht der Einberufung gefolgt war. Das Gericht berücksichtigte dabei nicht, dass Jakovenko zuvor mehrfach das Verteidigungskommissariat angeschrieben und um eine Alternative zum Wehrdienst gebeten hatte. Auch die 02 / 10  Nr. 48

Bitten von Dmitrij Smyk ignorierten die Behörden einfach: Der junge Anhänger der Zeugen Jehovas wurde zum Jahresende in Gomel‘ für seine Verweigerung zu einer Strafe von 3,5 Millionen Belarussischer Rubel (ca. 880 Euro) verurteilt. Mehrmals hatte er schriftlich darum gebeten, alternativ einen Zivildienst machen zu dürfen, da seine Religion es ihm verbiete, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Ein Verfassungsbruch, findet Menschenrechtler Valentin Stefanovič. In Belarus fehlt weiterhin die gesetzliche Grundlage für den Zivildienst, obwohl dieser im Paragrafen 75 der Verfassung erwähnt wird. Dort heißt es, dass die Pflicht, das Vaterland zu verteidigen, durch einen Dienst in der Armee oder durch andere Dienste ausgeführt werden könne, darunter den Zivildienst. „Das heißt, der Paragraf 75 sieht einen Zivildienst vor. Dazu gab es bereits 2000 einen Beschluss des Verfassungsgerichts, der besagt, dass die belarussischen Bürger das Recht hätten, einen Zivildienst einzufordern – und dass das Parlament ein entsprechendes Gesetz unmittelbar nach Annahme der Verfassung von 1994 hätte verabschieden müssen,” betont Stefanovič. Bisher ohne Ergebnis. Die Staatsmacht scheint nun jedoch zu reagieren. Am 18. Februar beauftragte Aleksandr Lukašenko den Staatssekretär des Sicherheitsrates, Leonid Mal‘cev – bis vor kurzem selber Verteidigungsminister – damit, einen Gesetzesentwurf zu erarbeiten. Bis dieses Gesetz jedoch tatsächlich in Kraft tritt, werden noch viele junge Männer in Belarus als vermeintliche Verbrecher vor Gericht stehen, trotz des liberalen Verfassungsparagraphen.

Belarus Perspektiven

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Innenpolitik

„Das sind doch keine Wahlen!“ In der vergangenen Ausgabe verfasste unser Redakteur Martin Schön einen kritischen Kommentar zur Partei Belarussische Christliche Demokratie Partei (BCHD) und ihrem Co-Vorsitzenden Pavel Severenec. Diesmal wollten wir Pavel Severinec selbst zu Wort kommen lassen. Das Interview führte Martin Schön.

Pavel Severinec

Herr Severenec, Sie kommen gerade vom Sammeln von Unterschriften für ihre Kandidaten bei den Lokalwahlen. Waren Sie erfolgreich? Ja, das klappt sehr gut. Die Belarussen freuen sich, wenn sie von unseren Parteimitgliedern auf Belarussisch angesprochen werden, das imponiert ihnen. Außerdem unterschreiben viele, weil wir dafür kämpfen, dass die Menschen in Belarus in Zukunft keine Angst mehr haben müssen. Die Bürger spüren, dass für uns christliche Werte und Gerechtigkeit noch etwas zählen.

Foto: bymedia.net

Wie stehen denn die Chancen, dass die BCHD Abgeordnetensitze bei den Lokalwahlen gewinnt? Im Moment gibt es keine Wahlen, sondern platte Kampagnen und Wahlfälschung, und am Ende werden die Fälscher leider als Sieger dastehen. Kein einziger unser Vertreter wurde in eine Gebietswahlkommission aufgenommen. Auch in 90 Prozent der lokalen Wahlkommissionen sind wir nicht vertreten. Das sind doch keine Wahlen! Selbst wenn Kandidaten gewinnen, bekommen sie in Wirklichkeit kein Mandat. In ihrem Parteiprogramm steht, die BCHD setze sich für einen liberalen Wirtschaftskurs und für den Ausbau von Spitzentechnologien in Belarus ein. Heute ist die Mehrheit der Arbeiter in der Schwerindustrie beschäftigt. Würde ein solcher Kurs nicht zu Massenarbeitslosigkeit führen? Der Wandel wird sicher nicht leicht. Aber Arbeitslosigkeit wird sich bestimmt nicht verhindern lassen mit veralteten Technologien, Kollektiveigentum und riesigen, unzeitgemäßen Fabriken. Wir wollen, dass aktive Menschen mit ihrem Engagement Geld verdienen können. In erster Linie betrifft das die kleinen und mittleren Unternehmen. Diese Leute brauchen Freiheit und Steuerprivilegien, um ihre Tätigkeit ausüben zu können. Wir müssen ein Bankennetz einrichten, das günstige Kredite an Kleinunternehmer vergibt, wir brauchen ausländische Investitionen. Nur so kann die Massenarbeitslosigkeit verhindert werden. 16

Belarus Perspektiven

In Ihren Aussagen und Schriften taucht sehr häufig der Begriff „moralischer Verfall“ auf. Was genau meinen Sie damit? Es geht dabei um die Grundlage für einen effektiven Staat. Ein effektiver Staat muss sein Wort halten, nicht lügen und nicht stehlen. Kein Staat sollte diese Prinzipien vernachlässigen, da er sonst in Richtung Korruption und moralischer Verfall abgleitet. Es geht hier nicht um einen persönlichen moralischen Verfall, sondern um den Verfall staatlicher Grundsätze. Die Belarussen werden dann einen effektiven Staat aufbauen können, wenn stehlen nicht mehr die Norm ist und Menschen für Diebstahl endlich bestraft werden, anstatt zur Staatsführung zu gehören. Fällt unter „moralischer Verfall“ auch der öffentliche Auftritt Homosexueller? Wir tolerieren homosexuelle Menschen. Aber wir lehnen die öffentliche Propaganda von Homosexualität ab, zum Beispiel Schwulenparaden. Als gläubige Christen müssen wir uns an Gottes Wort halten, und danach ist Homosexualität eine Sünde, wie etwa Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit. Und wir müssen verhindern, dass mehr Menschen zu Homosexuellen werden, weil die Gesellschaft Homosexualität als etwas normales darstellt. Ist Lukašenko eigentlich wirklich so eine Strafe für die Belarussen? Umfragen zeigen, dass die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Lebensstandard durchaus zufrieden sind. Die Belarussen haben eben keinen Vergleich. Sicher, heute kann man sich ein Auto kaufen, seine Wohnung hübsch einrichten. Aber wenn wir uns nicht mit Russland und der Ukraine vergleichen, sondern mit Polen und Deutschland, dann ist das Ergebnis eindeutig, zumindest für alle, die schon einmal im Ausland waren. Der Großteil der Belarussen war aber noch nie im Ausland. Viele Menschen halten deshalb unsere „Kolchosendiktatur“ für das kleinere Übel. Das gefällt mir nicht, denn die Menschen sollten nach dem Besten streben und nicht nur versuchen, das Schlimmste zu vermeiden. Nr. 48  02 / 10


Innenpolitik

Die Belaja Rus‘ – Reservetruppe oder eigenständige politische Kraft? Bei den Lokalwahlen hat sich die ‚zivilgesellschaftliche‘ Organisation Belaja Rus‘ als staatlicher Partner bewährt. Politisch relevant ist das staatstreue Kollektiv zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht. Aber die angebliche NGO hat ihre staatstragende Zukunft fest im Visier. Aleksandr Dautin, Minsk Die neue Wahlgesetzgebung hatte zunächst für viel Hoffnung bei allen Freunden des politischen Wechsels gesorgt. Schließlich, sollten Vertreter nichtstaatlicher Organisationen und Parteien mindestens ein Drittel der Wahlkommissionen bilden. Aufgehorcht hatten die demokratischen Kräfte jedoch als Lidija Ermošina, Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, verkündete, man habe diese Quote sogar um knapp zwei Prozent übertroffen. Der kleine Haken an der Geschichte: insgesamt gingen nur 76 Plätze an Vertreter von Oppositionsparteien. Die Belaja Rus‘, deren offizieller Status der einer unabhängigen NGO ist, sahnte hingegen 3341 Plätze ab. So viel zur neuen Wahlgesetzgebung. Was die Belarussen aber von der Belaja Rus‘ zu erwarten haben, konnte man am 28. Januar in der Staatszeitung Narodnaja Gazeta lesen: „Gesellschaftliche Initiativen finden immer besser ihren Weg in der Gesellschaft, wenn sie von unten kommen, von den Bürgern. Ein gutes Beispiel dafür ist die landesweite NGO Belaja Rus‘, deren Name jedem Belarussen sofort einleuchtet und am Herzen liegt. Genauso so sehr wie die Ideale der Belaja Rus‘: ein unabhängiger, blühender Staat, eine starke und effektive Wirtschaft, ein würdiger Lebensstandard. In den Regionen beginnend, wurde die Belaja Rus‘ in etwa zwei Jahren zur größten und mitgliedsstärksten Organisation im Lande und zum einmaligen Glied zwischen Staat und Bürgern. Heute hat sie 87 Tausend Mitglieder, darunter viele in Belarus und im Ausland bekannte und angesehene Bürger: belarussische Helden, angesehene Gelehrte, ausgezeichnete Sportler. Auch die Hälfte des derzeitigen Parlaments ist bei der Belaja Rus‘ Mitglied.” Übersetzt man den sowjetischen Pathos in einfache Worte, heißt das so viel wie: die Belaja Rus‘ ist der Prototyp einer Regierungspartei. Wie auch bei der Edinaja Rossija begann ihre Tätigkeit als ‚zivil02 / 10  Nr. 48

gesellschaftliche‘ Organisation. Doch Bildungsminister Rad‘kov, der nebenbei auch den Vorsitz der Belaja Rus‘ übernommen hat, hält sich im Bezug auf die politische Karriere seiner Organisation zurück: „Wir haben keine Analogie zur Edinaja Rossija gesucht. Die Belaja Rus‘ beeilt sich nicht, zur politischen Partei zu werden, man wird sehen. Wir hätten natürlich ausreichend Erfahrung in der Parteieinarbeit, denn irgendwann waren wir alle Parteimitglieder, aber der Satzung nach, sind wir eine nationale zivilgesellschaftliche Organisation.” Auch Aleksandr Lukašenko sprach sich gegen eine Edinaja Belarus aus, da eine solche Partei ein Sammelbecken für Beamte bilde und deshalb nicht lebensfähig sei. Ignoriert man die Propaganda der Belaja Rus‘ in den Massenmedien und ihre durchaus gewichtige Rolle bei den Lokalwahlen, so ist sie politisch momentan höchstens zweitrangig. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint den Machthabern das Format einer ‚zivilgesellschaftlichen‘ Organisation zu genügen. Doch die bloße Existenz einer solchen Organisation zeugt davon, dass ihre politische Aktivierung jederzeit möglich ist. Die Partei wird kommen, fragt sich nur, wann.

Eine zivilgesellschaftliche Organisation? Aleksandr Rad‘kov bei einem Kongress der Belaja Rus‘. Foto: bymedia.net

Belarus Perspektiven

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Chronologie

Chronologie 01. Februar bis 30. April 2010 01. - 07. Februar Aleksandr Lukašenko unterzeichnet einen Erlass, der alle Internetressourcen in Belarus registrierungspflichtig macht. Die belarussischen regionalen Wahlkommissionen für die Kommunalwahlen sind gebildet. Von den 12.000 Mitgliedern sind etwa 35 Prozent Vertreter von staatsnahen NGO. Nach Angaben des Finanzminsteriums hat Belarus seine Auslandsschulden im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Sie betrugen im Januar 2010 knapp 7,9 Milliarden Dollar. Russland veröffentlicht seine Verteidigungsdokrtin, in der die Zusammenarbeit mit Belarus an erster Stelle genannt wird. 08. - 14. Februar Der belarussische Außenminister Sergej Martynov nimmt an der Münchner Sicherheitskonferenz teil und trifft sich dort mit seinem Kollegen Guido Westerwelle. Der Warenhandel setzte laut Statistikkomitee in Belarus 2009 drei Prozent mehr Produkte ab, als im Vorjahr. Über 78 Prozent waren belarussischer Produktion.

15. - 21. Februar Der polnische Präsident Lech Kaczynski erklärt in einem Brief an Präsident Lukašenko, er protestiere „gegen die verstärkten Repressionen gegen den Polenverband in Belarus.“ Laut Statistikkomitee beträgt die belarussische Handelsbilanz 2009 minus 5,5 Milliarden Dollar. Präsident Lukašenko beauftragt Leonid Mal‘cev, Sekretär des staatlichen Sicherheitsrates, mit der Erarbeitung eines Zivildienst-Gesetzes. Außenminister Martynov trifft sich in Teheran mit dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Thema sind vor allem gemeinsame Wirtschaftsprojekte. 22. - 28. Februar Aleksandr Lukašenko trifft sich mit seinem ukrainischen Kollegen Viktor Janukovič zu dessen Amtsantritt in Kiev. Beide Seiten betonen den strategischen Charakter der Beziehungen beider Länder. Das belarussische Finanzminsterium hat den Haushaltsmonat Januar mit einem Plus von etwa 410.000 Euro abgeschlossen. Grund für den Erfolg seien Sparmaßnahmen.

Die Außenminister von Belarus und Polen, Martynov und Sikorski, unterzeichnen in Warschau ein Abkommen über die Vereinfachung des Reiseverkehrs.

01. - 07. März In Minsk trifft eine Delegation des NATO-Hauptquartierts ein, um die Zusammenarbeit im Programm Partnerschaft für den Frieden zu besprechen.

Bei einer friedlichen Aktion der oppositionellen Jungen Front zum Valentinstag werden etwa 20 Personen festgenommen.

Außenminister Martynov trifft sich in Budapest mit seinem Kollegen Péter Balázs. Thema ist unter anderem die Östliche Partnerschaft.

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Belarus Perspektiven

Das belarussische Justizministerium lehnt zum dritten Mal die Registrierung des Dachverbandes NGO-Assembly ab. Aleksandr Lukašenko regelt in einem Erlass den Verkauf der staatlichen Uhrenfabrik Luch an den Schweizer Uhrenfabrikanten Franck Müller. Das belarussische Zollkomitee fordert Russland auf, seine Verpflichtungen der Zollunion zu erfüllen und Ausfuhrzölle für russisches Öl umgehend abzuschaffen. 08. - 14. März Belarus feiert den internationalen Frauentag. Belarussische Frauen stellen ein Drittel der Abgeordneten im Parlament und ein Fünftel aller staatlichen Führungskräfte. Präsident Lukašenko ordnet die Vorbereitung der Privatisierung von fünf Staatsbetreiben an, darunter Unternehmen der Maschinenbau- und Textilindustrie. Jacek Protasewicz, Leiter der Delegation des Europäischen Parlaments für Belarus, erklärt, das Parlament wolle in Euronest ausschließlich Oppositionelle und NGO-Vertreter berufen. 15. - 21. März Aleksandr Lukašenko einigt sich in Caracas mit Venezuelas Präsident Chavez über Öllieferungen. Belarus werde zudem bis 2011 mindestens drei Fabriken in Venezuela errichten, so Lukašenko. Der russische Premier Putin erklärt in Brest, Russland subventioniere die belarussische Wirtschaft durch billige Energieträger mit etwa 4,2 Milliarden Dollar jährlich. Nr. 48  02 / 10


Chronologie

Belarus eröffnet in Zürich ein Ehrenkonsulat zu Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen mit der Schweiz. Philippe Le Houerou, Vizechef der Weltbank, trifft sich mit Premier Sidorski in Minsk und erklärt, die Weltbank wolle ihr Engagement in Belarus ausweiten. Vertreter der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) und der UNO unterzeichnen eine Kooperationserklärung. Belarus richtet zwei zum Tode verurteilte Kriminelle hin. 22. – 28. März In Rio de Janeiro trifft sich Aleksandr Lukašenko mit seinem brasilianischen Kollegen Lula da Silva. Beide Staaten wollen in Kürze Botschaften eröffnen. Xi Jingping, stellvertretender Präsident der Volksrepublik China, trifft in Minsk ein. China wird Belarus Kredite in Höhe von einer Milliarde Dollar zur Verfügung stellen. Die belarussische Opposition begeht den inoffiziellen Unabhängigkeitstag „Tag des Willens.“ Mehrere Tausend Menschen demonstrieren in Minsk gegen das Regime, es gibt keine Verhaftungen. Außenminister Martynov erklärt, die enge Zusammenarbeit mit Venezuela ändere nichts an der Rolle Russlands als wichtigstem strategischen Partner von Belarus. 29. März – 04. April Vertreter mehrerer großer US-Firmen, darunter Microsoft, treffen sich in Minsk mit Aleksandr Lukašenko. Die USA sind die größte Quelle ausländischer Direktinvestitionen für Belarus. Die hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, erklärt, die EU sei besorgt aufgrund von Repressionen im Vorfeld der Kommunalwahlen. 02 / 10  Nr. 48

Die Europäische Kommission verschiebt die Bildung von Euronest auf unbestimmte Zeit aufgrund der Uneinigkeit mit Belarus über deren Zusammensetzung.

Wirtschaftsminister Nikolaj Snopkov erklärt, Belarus werde einen Wertpapiermarkt schaffen, auf dem zunächst nur europäische Obligationen gehandelt würden.

Alle sechs Partnerländer der Östlichen Partnerschaft fordern eine gleichberechtigte Teilnahme des belarussischen Parlaments an Euronest und stärken damit die belarussischen Position.

19. – 25. April Aleksandr Lukašenko verkündet, der geflohene Kirgisische Präsident Kurmanbek Bakiev befinde sich in Minsk.

Der ukrainische Präsident Janukovič erklärt, er werde keine Integration in den russisch-belarussischen Unionsstaat anstreben. Strategisches Ziel seines Landes sei eine Integration in die EU. 05. – 11. April Alle wichtigen belarussischen Oppositionsparteien erklären in einem gemeinsamen Papier, in Belarus fänden nach wie vor keine demokratischen Wahlen statt. Die staatlich kontrollierte Föderation der Belarussischen Gerwerkschaften äußert ihre Besorgnis darüber, dass 2009 die Reallöhne um 4,2 Prozent gesunken seien. Vizepremier Semaško erklärt, die Minsker Motorradfabrik „Motovelo“ stehe still, die Privatisierung sei fehlgeschlagen. Das Unternehmern war 2007 von der Österreichischen ATEC gekauft worden. 12. – 18. April Aleksandr Lukašenko begibt sich auf Inspektionsfahrt in die belarussischen Regionen. Präsident Lukašenko erklärt, die Auslieferung der belarussischen Atomsprengköpfe in den 1990er Jahren ohne angemessene Vergütung sei ein „riesengroßer Fehler“ gewesen.

In Odessa trifft der erste Tanker mit 80.000 Tonnen venezuelischem Öl für Belarus ein. 26. – 30. April Das belarussische Oberhaus ratifiziert Abkommen mit der Ukraine über die gemeinsame Staatsgrenze und ein vereinfachtes Aufenthaltsrecht der Bürger. Der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck trifft sich in Minsk mit Premier Sidorski, Außenminister Martynov und dem Chef der Präsidialadministration, Vladimir Makej. Gewerkschaftschef Leonid Kozik schlägt vor, zur Stimulierung der Geburtenrate eine Steuer für kinderlose Männer zwischen 25 und 40 Jahren einzuführen. Der ukrainische Präsident Janukovič trifft sich in Minsk mit seinem Kollegen Lukašenko. Themen sind vor allem Wirtschaftskooperation und Handel. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats friert ihre Beziehungen zu Belarus auf höchster Regierungsebene ein. Als Hauptgrund wird die Anwendung der Todesstrafe genannt. Premier Sidorski triff sich in Vilnius mit seinem litauischen Kollegen Andrius Kubilius.

In Moskau treffen sich die GUS-Verteidigungsminister. Auf der Tagesordnung steht unter anderem das gemeinsame Luftabwehrsystem.

Belarus Perspektiven

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Wirtschaft & Umwelt

Belarus 2009 – Ein Jahr der Hoffnung und Enttäuschung Das Jahr 2009 war in vielerlei Hinsicht besonders für Belarus. Einerseits bekannte sich der belarussische Staat zu einer Reihe wirtschaftlicher Probleme (freilich ohne die Unrentabilität des gegenwärtigen Modells zuzugeben). Andererseits gingen Worte wie Reform, Liberalisierung, Privatisierung, IWF, internationale Zusammenarbeit und Östliche Partnerschaft in den alltäglichen Sprachgebrauch des Normalbürgers ein. Elena Rakova, Minsk Aus wirtschaftlicher Sicht war 2009 für Belarus das schlechteste in Jahr der vergangenen Dekade. Die sinkende Nachfrage und der erdrutschartige Preisverfall bei den Exporten zeigten die ganze Unsicherheit und Unbeständigkeit in der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik. Die sich verschlechternde Handelsbilanz zwang Belarus dazu, neue Schulden aufzunehmen und zugleich einer Reihe unpopulärer Reformen zuzustimmen.

Volkswirtschaftliche Indikatoren * Quelle: Belstat

Die schlechteste Bilanz wiesen die Industriebetriebe auf, wobei das Ergebnis noch negativer hätte sein können. Doch der Staat reagierte auf die wachsenden Lagerbestände und drosselte die Produktion in der zweiten Jahreshälfte. Die Ursache für den sprunghaften Anstieg der Lagerbestände war ein Einbruch bei den wichtigsten belarussischen Exportgütern wie Maschinen und Werkzeugmaschinen (nach Russland), Erdölerzeugnisse (nach Europa) und Kalidünger (nach China und Indien). Der Handelsbilanz zufolge betrug der Export 2009 21,3 Mrd. USD und der Import 28,6 Mrd. USD. Im Vergleich zum Vorjahr verringerte sich der Umfang der Exporte also um 34,7 Prozent (11,3 Mrd. USD), die Importe sanken um 27,5 % (10,8 Mrd. USD). Insgesamt erlebte der Import einen geringeren Einbruch als der Export.

2009 im Verhältnis zu 2008 in %

prognostiziert

faktisch

Bruttoinlandsprodukt (BIP)

110-112

100,2

Industrielle Produktion

112

97,2

Produktion von Konsumgütern

113

99,9

Realeinkommen der Bevölkerung

115

102,9

Arbeitsproduktivität (nach BIP)

108,1

99,5

Warenexport

118,5

65,3

Warenimport

117

72,5

Saldo der Außenhandelsbilanz, in Mio. USD

-4065

-7281,4

Energieintensität des BIP in %

-8

-5,1

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Belarus Perspektiven

Ungeachtet der wachsenden Lagerbestände und der Hilfe des IWF unterstützte der belarussische Staat weiterhin exportorientierte Unternehmen. Die Politik verhinderte, dass Programme zur Arbeitskräftereduzierung wie in Russland oder der Ukraine in Kraft treten konnten. Allerdings nutzte ein Drittel der belarussischen Unternehmen auf die eine oder andere Weise Mechanismen der Kurzarbeit (verkürzte Arbeitstage/-wochen). Da in größeren Unternehmen oft Privateigentümer fehlen, wurde keine Strategie gegen die Krise ausgearbeitet und umgesetzt, welche die Verringerung von Produktion und Personal und damit die Minimierung der Verluste bedeutet hätte. Man entschied sich stattdessen dafür, die soziale Stabilität im Land künstlich aufrecht zu erhalten. Die Betriebe poduzierten zunächst trotz einer scharf zurückgehenden Nachfrage weiter – auf Kosten der belarussischen Goldreserven, die ihrerseits durch neue Staatsschulden aufgestockt worden waren. All dies kann auch der alten Landwirtschaftspolitik angerechnet werden, die Verluste anhäuft und steigende Preise in den belarussischen Geschäften zur Folge hat. Es gibt allen Grund zur Annahme, dass diese Politik auch im folgenden Jahr fortgesetzt wird und Belarus 2011/12 vor einer Reihe ungelöster Probleme und Herausforderungen stehen wird, wenn die aufgenommenen Kredite an den IWF, Russland und Venezuela zurückgezahlt werden müssen. Zugleich glaubt die belarussische Bevölkerung mehrheitlich, dass die Krise ihr Land nahezu unberührt lasse und die Regierung sie erfolgreich bekämpfe. Als eine positive Entwicklung des letzten Jahres kann die Verbesserung des Geschäftsklimas gelten. Besonders bemerkenswert sind das neue Verfahren zur Unternehmensgründung, die ersten Schritte hin zu einer Reform der Steuergesetzgebung Nr. 48  02 / 10


Wirtschaft & Umwelt

und die Liberalisierung der Preise. Der Aufstieg von Belarus beim Rating-Index „Doing Business“ der Weltbank um dreißig Positionen auf Platz 84 scheint daher gerechtfertigt. Die belarussischen Machthaber verfolgen den Weg einer wirtschaftlichen Liberalisierung, allerdings nicht systematisch: viele Änderungen sind partiell oder haben kosmetischen Charakter. Zudem bringt eine Gesetzänderung wenig, wenn die Beamten an ihren Arbeitsplätzen nicht dazu gezwungen werden, sie auch umzusetzen. Ein besonderes, bisher ungelöstes Problem für den privaten Sektor besteht in den ungleichen Wettbewerbsbedingungen mit staatlichen Unternehmen. Zu den Enttäuschungen und Misserfolgen des vergangen Jahres muss gezählt werden, dass es nahezu keine Privatisierungen gab (vom Verkauf der Belpromstroibank einmal abgesehen) und neue Privatisierungen kaum gefördert wurden. Die belarussische Politik neigt dazu Privatisierungen ausschließlich unter fiskalischen Gesichtspunkten zu betrachten: Statt vorhandenes Eigentum zu neuen Preisen zu verkaufen, zieht man es vor, staatliche Kredite aufzunehmen. Doch Privatisierungen sind das wichtigste Element der strukturellen Reformen, die das Land so dringend braucht. Sie aufzuschieben bedeutet vor allem, die Kosten für alternative Reformstrategien zu erhöhen. Die zu Beginn des Jahres durchgeführte Abwertung des Belarussischen Rubels um 20 Prozent hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Dieser politische Kompromiss mit dem IWF hatte meiner Meinung nach einen negativen Einfluss auf die Wirtschaft, weil Bevölkerung und Unternehmen das Vertrauen in die nationale Währung verloren. Die Abwertung hätte entweder größer sein müssen, um die belarussischen Importe erkennbar zu verringern – oder sie hätte überhaupt nicht stattfinden sollen. Alles in allem war 2009 ein durchwachsenes Jahr. Es versprach viel und in gewisser Weise wurden die Hoffnungen übertroffen. Aber es hinterließ auch Enttäuschungen, in erster Linie, weil die belarussischen Machthaber die Unzulänglichkeit der gegenwärtigen Politik nicht erkannten und auf früheren Prognosen, Indikatoren und Programmen beharrten. Wieder wurde ein Jahr verloren, wieder Kredite aufgenommen und Ressourcen sinnlos

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verbraucht. Zumindest hat Belarus begonnen, das sich öffnende Fenster internationaler technischer Hilfe zu nutzen. Dass diese Mittel jedoch nur unzureichend effektiv oder teilweise sogar ineffektiv eingesetzt werden, ist eine andere Geschichte.

Das Vertrauen in den belarussichen Rubel war dahin. Foto: bymedia.net

Das wichtigste Verdienst der internationalen Wirtschaftskrise war die allgemeine Umgestaltung der globalen Konjunktur und internationalen Wirtschaftspolitik. Das bedeutet, dass Belarus sich weiterhin ändern wird und verändern muss. In diesem Sinn stellen sich in 2010 die gleichen spannenden Fragen an die BY-Wirtschaft, wie in 2009. So tun, als ob nichts geschehe, klappt nicht mehr: Entweder muss der Staat die Produktion vieler Fabriken auf Eis legen, oder neue Finanzierungsquellen für ihre Arbeit suchen. Jene Mengen zu verkaufen, die momentan produziert werden, ist jedenfalls unrealistisch. Im Jahr 2009 stritten belarussische Policy-Maker auch öffentlich über verschiedene Entwicklungsszenarien. Diese Debatten werden sich fortsetzen und die Staatsführung wird sich zu konkreten Reformschritten durchringen müssen. Für 2010 darf mit einer Fortsetzung der Liberalisierung des Geschäftsklimas sowie einem Aufstieg von Belarus in verschiedenen Ratings gerechnet werden, auch wird es sicher einige größere Privatisierungen geben. Doch im großen und ganzen werden wegweisende strategische Entscheidungen sicher erst nach den Präsidentschaftswahlen im Winter 2011 fallen. Elena Rakova ist Wirtschaftswissenschaftlerin am Institut für angewandte Mathematik der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau. Sie hat 1995 ihr Studium an der Fakultät für Handel und Marketing der Universität Sankt Petersburg mit einer Arbeit zu Preisbildung abgeschlossen. Ihre Dissertation widmete sie dem Schwerpunkt „Nationale Wirtschaftsführung“. Seit 1995 unterrichtet Elena Rakova an verschiedenen belarussischen Hochschulen.

Belarus Perspektiven

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Wirtschaft & Umwelt

Zuverlässigkeit und Vertrauen In den Beziehungen zwischen Belarus und der EU spielt die wirtschaftliche Zusammenarbeit eine große Rolle. Deutschland ist einer der wichtigsten europäischen Wirtschaftspartner des Landes, und als solcher auch direkt durch Repräsentanzen und Beteiligungen im belarussischen Wirtschafts- und Bankensystem vertreten. Warum sich die deutschen Banken für Belarus interessieren und welche Rolle sie in den Beziehungen zwischen beiden Ländern spielen, haben wir Oliver Schufmann gefragt, Vertreter der Commerzbank in Minsk. Das Interview führte Natal‘ ja Pčëlkina. Herr Schufmann, die Commerzbank hat als erste westliche Bank bereits 1993 eine Repräsentanz in Belarus eröffnet. Welche Rolle spielt die Commerzbank in der Zusammenarbeit zwischen Belarus und Deutschland? Deutschland ist nach Russland der wichtigste Handelspartner von Belarus. Ein Großteil der Technologiegüterimporte und Warenimporte kommt aus Deutschland. Diese Importe werden oft durch ausländische Kredite finanziert. Die Commerzbank hat bei der Finanzierung der gesamten deutschen Exporte einen Anteil von 20 bis 30 Prozent und ist in diesem Bereich Marktführer. Außerdem sind wir aufgrund unseres verzweigten Korrespondenzbankennetzes in der Lage, den Zahlungsverkehr zwischen den belarussischen Unternehmen und ihren Partnern nahezu überall in der Welt abzuwickeln. Worin liegt zurzeit der Schwerpunkt Ihrer Tätigkeit in Minsk? Die Repräsentanz pflegt ihre Partnerschaften mit belarussischen Banken, sie berät deutsche und belarussische Unternehmen in Finanzierungs- und Investitionsfragen, sie berät belarussische Regierungsstellen und Mitarbeiter in staatlichen Gremien. Des weiteren analysiert sie die wirtschaftliche Situation vor Ort, betreibt Öffentlichkeitsarbeit und Imagewerbung und vermittelt belarussische Kollegen für Ausbildungs- und Schulungsmaßnahmen an die Zentrale. Was genau ist die Closed Joint-Stock Company „Belarusian Bank for Small Business“, an der die Commerzbank beteiligt ist? Wir beteiligen uns bereits seit dem Jahr 2000 an Mikrofinanzbanken. Anfänglich waren wir im Rahmen einer Public Private Partnership zusammen mit Förderinstituten wie der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie der Inter22

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national Finance Corporation der Weltbank an insgesamt sieben Instituten in Südosteuropa direkt beteiligt. Inzwischen wurden die Anteile der Aktionäre weitestgehend in die ProCredit Holding AG eingebracht, die nunmehr die Mehrheit an den meisten lokalen ProCredit-Banken hält. In Belarus hat die Commerzbank 2007 zusammen mit anderen internationalen Partnern die Belarusian Bank for Small Business gegründet. Die Bank soll im belarussischen Bankensystem eine Nische besetzten, indem sie vor allem kleinen Unternehmen Finanzierungsmittel zur Verfügung stellt. Was bringt das der belarussischen Volkswirtschaft? Mit dem Konzept der Beteiligung an Mikrofinanzbanken verfolgen wir das Ziel, die Entwicklung eines starken, eigenverantwortlich wirtschaftenden Mittelstands voranzutreiben und gleichzeitig im Finanzsektor die Etablierung von marktwirtschaftlichen Grundsätzen zu unterstützen. Um die Kreditnehmer schrittweise an den verantwortungsvollen Umgang mit den zur Verfügung gestellten Mitteln heranzuführen, werden zunächst nur kleine Darlehen mit kurzer Laufzeit vergeben. Erst nach deren Rückzahlung können die Unternehmen dann bei Bedarf einen höheren und länger laufenden Kredit beantragen. Wie passen das edle Ziel, die belarussische Wirtschaft zu fördern, und das Ziel, das Kapital der Commerzbank zu mehren, zusammen? Von einem guten Geschäft haben immer beide Seiten etwas. Insofern besteht kein Widerspruch darin, dass die Vorteile der einen Seite auch mit Vorteilen für die andere Seite verbunden sind. Die finanziellen Ressourcen, die die Commerzbank der belarussischen Wirtschaft zur Verfügung stellt, ermöglichen Wachstum und Modernisierung der Wirtschaft und erhöhen so ihre Konkurrenz- und Zukunftsfähigkeit. Auf diese Weise werden letztNr. 48  02 / 10


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endlich auch Arbeitsplätze in Belarus gesichert. Da wir keine Förderinstitution sind, sondern ein auf Gewinnerzielung ausgerichtetes, kommerzielles Institut können wir diese Ressourcen natürlich nicht kostenlos zur Verfügung stellen.

an staatlicher Regulierung und Kontrolle zu finden sowie gerade auch für kleine und mittelständische Unternehmen eine weitgehende Unabhängigkeit ihrer geschäftspolitischen Entscheidungen von politischer Einflussnahme sicher zu stellen.

Ist Belarus Ihrer Meinung nach für Investoren attraktiv? Belarus hat potenziellen Investoren einiges zu bieten: Neben einem hohen Grad an sozialer Stabilität und öffentlicher Sicherheit schlagen in wirtschaftlicher Hinsicht durchweg gut ausgebildete Arbeitskräfte sowie eine gute Infrastruktur positiv zu Buche. Die Regierung von Belarus unternimmt darüber hinaus eine ganze Reihe von Reformmaßnahmen, um das Land attraktiv für Auslandsinvestitionen zu machen. Der Erfolg spiegelt sich unter anderem in dem Bericht Doing Business 2010 der Weltbank wider, in dem sich das Land binnen einem Jahr von Platz 82 auf Platz 58 verbessert hat. Als Commerzbank versuchen wir, die Regierung durch konstruktives Mitwirken bei ihren Reformbestrebungen zu unterstützen. So ist unsere Bank Mitglied des Foreign Investment Advisory Councils beim Ministerrat, einem Gremium, das die ausdrückliche Zielsetzung verfolgt, das Investitionsklima in Belarus zu verbessern. Da wir zudem als einzige westliche Bank seit 1993 mit einer eigenen Repräsentanz vor Ort vertreten sind, können wir aus unserer eigenen geschäftlichen Erfahrung sagen, dass Zuverlässigkeit und Vertrauen in der Einhaltung von Absprachen in Belarus einen ähnlichen Stellenwert wie in den westlichen Ländern genießen. Eine der großen Herausforderungen für die belarussische Regierung bleibt, die Herstellung gleicher Bedingungen für alle Unternehmen, unabhängig von Größe, Rechtsform und Eigentümerstruktur. Dies bedeutet, ein vernünftiges Maß Ein wenig Glanz der deutschen CommerzbankRepräsentanz fällt auch auf Belarus ab. Foto: Ralph Richter, Commerzbank AG

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Gleiche Aufgaben, ungleiche Ziele Trotz aller Konflikte haben Belarus und Russland ihre Integration durch die Gründung einer Zollunion formal vertieft. Warum es dennoch permanent zwischen den beiden Staaten kriselt und worin die Wurzeln des Konflikts liegen, analysiert Jaroslav Romančuk vom Forschungszentrum Mises. Jaroslav Romančuk, Minsk ist offensichtlich, dass der gemeinsame Unionsstaat nicht funktioniert.

Jaroslav Romančuk, Foto: bymedia.net

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Obwohl immer mehr Dokumente zur Integration zwischen Belarus und Russland unterzeichnet werden, verbessern sich die Bedingungen für Handel, Investitionen und die Realisierung gemeinsamer Projekte kaum. Am 24. September 1993 unterschrieben beide Länder den ersten Vertrag über die Schaffung einer Wirtschaftsunion, die Vereinbarung über eine Zollunion folgte am 6. Januar 1995. Der Vertrag über die Zollunion zwischen Belarus, Russland und Kasachstan, der im November 2009 unterzeichnet wurde, war mithin ein weiteres Dokument in der langen Liste wenig bedeutender Initiativen. Bereits auf der Oktoberkonferenz 2003 zeigten die belarussische und die russische Führung, dass es grundsätzliche politische Fragen gibt, in denen Minsk und Moskau sich unversöhnlich gegenüberstehen. Auch zwischen 2004 und 2009 wurden die belarussisch-russischen Beziehungen immer wieder von Konflikten erschüttert. Dabei ging es unter anderem um Gas, Öl, Transport, Süßwaren, Zement, Traktoren und Kredite. Statt die zwei Perspektiven anzunähern, sind die von den Verträgen festgelegten Bedingungen immer wieder Quelle für Meinungsverschiedenheiten. Es

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Belarussische Ziele Die belarussische Führung betrachtet den Staatenbund ebenso wie den Vertrag über die Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan als ein rechtliches Instrument, um eine Reihe wertvoller Vorteile und Vergünstigungen zu erhalten: Sowohl Gas und Öl zu innerrussischen Preisen, als auch einen freien Zugang zu den Waren-, Dienstleistungs-, Geld- und Arbeitsmärkten Russlands, so dass belarussische Waren und Dienstleistungen auf russischem Territorium innerrussische Privilegien beanspruchen können; außerdem will Belarus gleichberechtigten Zugang zu Ausschreibungen und Auktionen, die auf dem russischen Markt umgesetzt werden. Hinzu kommen günstige Preise für den Kauf von Rüstungsgütern und den Erhalt von langfristigen Devisenkrediten. Russische Ziele Die russische Führung ihrerseits betrachtet den Staatenbund und die Zollunion als rechtliche Instrumente, um supranationale Organe zu bilden und politische Macht von Minsk nach Moskau zu transferieren. Sie will die belarussischen Außengrenzen kontrollieren, die Zollgesetzgebung von Belarus mit der russischen vereinheitlichen, in Belarus perspektivisch den russischen Rubel als Währung etablieren, die russischen Militärbasen in Belarus kostenlos nutzen und sich die Unterstützung ihrer Militär-, Verteidigungs- und Innenpolitik sichern. Nützlich sind Staatenbund und Zollunion ebenfalls, damit russische Investoren die Filetstücke der belarussischen Wirtschaft (darunter auch die führenden belarussischen Banken) erwerben, sowie die Kontrolle über die Gas- und Erdölpipelines aufrecht erhalten können; Russland will weiterhin die freie Zirkulation von Geld, Waren, Arbeitskräften und Dienstleistungen sowie die Einführung eines russischen Businessklima gewährleisten. Nr. 48  02 / 10


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Sackgassen Die Ziele beider Regierungen unterscheiden sich offensichtlich grundsätzlich voneinander. Begriffe wie „Vereinheitlichung“, „Integration“ und „Konsolidierung“ werden deshalb von beiden Seiten mit völlig anderen Inhalten gefüllt. Die bisher vorhandenen, gemeinsamen bürokratischen Strukturen, die eher dem Selbstzweck dienen als effektiv zu arbeiten, vermochten es bisher nicht, klare, gemeinsame Ziele zu definieren. Dies ist eine der Hauptquellen von Differenzen und Konflikten. Das Fehlen klarer Absprachen mit dem Kreml erlaubt es Minsk, unterschriebene Vereinbarungen nach eigener Lesart zu interpretieren und sich bestimmte politische Handlungsmöglichkeiten offen zu halten. Dazu gehören ein strenger Protektionismus des Binnenhandels, die Vergabe von Zuschüssen für belarussische Exportgüter nach Russland, eine eigene belarussische Währung, eine eigenständige Regulierung des Geschäftsklimas, die Kontrolle über privates Eigentum. Zudem kann Minsk sich so vom Einfluss russischer Informationen isolieren, das enorme Potenzial, welches Transport- und Transitwege bieten, zu Geld machen und eine eigenständige Position gegenüber den außenpolitischen und militärischen Initiativen Russlands bewahren. Dass Russland Belarus subventioniert, ergibt sich nicht aus offiziellen Verträgen und Dokumenten, die von beiden Seiten unterzeichnet wurden, sondern aus der vergleichenden Analyse von Preisen und Handelsbedingungen, die Russland mit anderen Staaten unterhält. Da gegenwärtig nicht auf Grundlage einer vertraglich geregelten Basis argumentiert wird, ruft dies emotionale Reaktionen bei der belarussischen Führung hervor. Die Abwesenheit klarer Vereinbarungen zu Handelsbeziehungen, Gas- und Ölpreisen, die übermäßige Politisierung der Beziehungen und die Versuche, die Entscheidung politischer Probleme an Wirtschaftsfragen zu knüpfen, sind Gründe für die Anspannung in den belarussisch-russischen Beziehungen. Neue Qualität Nach 2009 erreichte der Konflikt zwischen Russland und Belarus eine neue Qualität. Es kam zu

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persönlichen Beleidigungen gegenüber hohen russischen Amtspersonen. Die belarussischen Massenmedien verbreiteten über einen längeren Zeitraum ein negatives Bild der russischen Regierung und großer russischer Unternehmen, was sich schließlich auch auf die Beziehungen gewöhnlicher Belarussen zu ihren russischen Nachbarn auswirkte. Ungeachtet des unterschriebenen Vertrags über die Zollunion kritisieren belarussische Beamte die neue Zweckgemeinschaft regelmäßig. So geriet die belarussische Führung in den letzten zwei Jahren aufgrund persönlicher Ambitionen in einen scharfen Konflikt mit der offiziellen Position Russlands. Wirtschaftliche Indikatoren 2009 verringerte sich der Warenaustausch zwischen beiden Ländern um 31,2 Prozent. Der Export fiel um 36,4 Prozent auf 6,7 Milliarden USD, der Import ging um 28,9 Prozent zurück auf 16,7 Milliarden USD. Der Umfang der Exporte fiel damit auf das Niveau des Jahres 2005/06, und bei den Importen sah sich Belarus auf das Jahr 2006/2007 zurückgeworfen. Doch die gegenwärtige Wirtschaftskrise erklärt diesen starken Abfall nur teilweise. Ein weiterer Grund ist, dass die russischen Hersteller von Transportmitteln, Maschinen und Ausrüstung sich nicht mehr damit abfinden wollen, dass staatliche Subventionen es belarussischen Betrieben erlauben, ihre Erzeugnisse auf dem russischen Markt zu Dumpingpreisen anzubieten. Die schlechten Beziehungen zwischen Aleksandr Lukašenko und dem Kreml tragen erheblich zur angespannten Lage bei. Folge sind Dutzende von non-tarif barriers und Differenzen im Energiesektor. Gleichzeitig erhöht die Wirtschaftskrise die Neigung der Beamten zu Protektionismus, hohe Amtspersonen tauschen Sticheleien aus und beschuldigen einander, die Staatenunion zu untergraben. Ganz offensichtlich ist die Integration zwischen Belarus und Russland in eine Sackgasse geraten, ein Ausweg ist momentan nicht in Sicht. Eines dürfte aber klar sein: die belarussische Wirtschaft wird aus dem andauernden Konflikt sicherlich nicht als Gewinner hervorgehen.

Das Forschungszentrum Mises finden Sie unter http://libertybelarus.info/.

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25 Jahre nach Tschernobyl

Die Zukunftswerkstatt Minsk Mechthild vom Büchel, Dortmund & Sabrina Bobowski, Berlin Das neue Projekt „Zukunftswerkstatt – Energieeffizienz und erneuerbare Energien nach der Katastrophe von Tschernobyl“ des IBB Dortmund und der IBB Minsk stößt auf große Zustimmung in der belarussischen und deutschen Politik. Dies machte die Konferenz „Zukunftswerkstatt Minsk – eine Brücke für Energieeffizienz und erneuerbare Energien“ am 27. April in Minsk deutlich. Ihre vorbehaltlose Unterstützung für die Zukunftswerkstatt brachten der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck, der stellvertretende belarussische Ministerpräsident Vladimir Semaško und der Vorsitzende des Hauptausschusses im Landtag NRW Werner Jostmeier zum Ausdruck. Die Zukunftswerkstatt, die ab 2011 auf dem Gelände der IBB Minsk mit Unterstützung aus Belarus, Deutschland und der EU errichtet werden soll, wäre das erste öffentliche Nullenergiehaus in Minsk. Es soll sich zu einem Zentrum des Austauschs zwischen Vertretern von Zivilge-

sellschaft, Staat und Privatwirtschaft aus Belarus, Deutschland und anderen europäischen Ländern entwickeln, in dem Seminare, Konferenzen und Beratungen zu Energieeffizienz und erneuerbaren Energien stattfinden. Das Gebäude soll des weiteren ein Demonstrationszentrum für Energieeffizienz und eine Ausstellung zur Katastrophe von Tschernobyl beherbergen. Nach Ansicht aller Befürworter soll die Zukunftswerkstatt auch zu einer zentralen Brücke für Energieeffizienz und erneuerbare Energiequellen zwischen Ost und West werden. Vladimir Semaško, erster Stellvertreter des Ministerpräsidenten der Republik Belarus, sagte, er sei fest davon überzeugt, dass die Zukunftswerkstatt das erste wahre gemeinsame Projekt für eine langfristige, sichere Energieversorgung zwischen Ost und West werde. Jetzt gilt es vor allem auf europäischer Ebene, insbesondere bei den Institutionen der Europäischen Union, Unterstützung für das Projekt zu finden.

Veranstaltungsreihe zu Tschernobyl Mehr Informationen finden Sie unter: www.ibb-d.de/ tschernobyl www.ost-west-initiativen.de www.eustory.eu

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Fast 25 Jahre nach Tschernobyl droht die mit Tschernobyl verbundene „letzte Warnung“ (Robert Gale) zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Das IBB Dortmund möchte deshalb mit finanzieller Unterstützung der Mercator-Stiftung in Kooperation mit dem europäischen Verein EUStory und der IBB Minsk im Umfeld des 25. Jahrestages dazu beitragen, die mit Tschernobyl verbundenen drängenden Fragen fest im europäischen Gedächtnis zu verankern. Auf inhaltlich und methodisch vielfältigen Wegen sollen durch das Prisma Tschernobyl gesellschaftliche Lernprozesse im Umgang mit den globalen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft ermöglicht werden. Unter dem Titel „25 Jahre nach Tschernobyl – Europäische Solidarität und Erinnerungskultur“ wird das IBB Dortmund die Geschichte, die Aktivitäten und Rahmenbedingungen der europäischen Hilfsbewegung zu Tschernobyl in einer Publikation systematisch darlegen. Da die Geschichte der Solidaritätsbewegung aber keinesfalls zu Ende ist, richtet das IBB auf

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der Internetplattform www.ost-west-initiativen.de ein „Tschernobyl-Forum“ ein, auf dem Initiativen aktuelle Fragen, Aktionen und Events diskutieren können. In dem Forum werden zudem die Geschichten von Zeitzeugen und europäischen Hilfsorganisationen veröffentlicht. Um die Generation, die Tschernobyl nicht mehr bewusst erlebt hat, auch für das Thema zu sensibilisieren, gestaltet das IBB die interaktive Wanderausstellung „Menschen – Orte – Solidarität“, die zwischen Januar und April 2011 an 25 Orten in ganz Deutschland gezeigt werden soll. Parallel zur Ausstellung werden an den 25 Orten Zeitzeugengespräche mit Liquidatoren stattfinden, die das individuelle Ausmaß der Katastrophe besonders für junge Menschen erfahrbarer machen. Auch der europäische Verein EUStory möchte jungen Menschen die Vergangenheit näher bringen. EUStory organisiert eine Studienreise nach Belarus, bei der Jugendliche aus ganz Europa Zeitzeugen treffen und interviewen. Ab September 2010 bietet der Verein ein Internet-Seminar an, Nr. 48  02 / 10


25 Jahre nach Tschernobyl

in dessen Rahmen 60 Jugendliche aus 22 europäischen Ländern in ihren Heimatorten nach Spuren von Tschernobyl forschen. Für den April 2011 plant das IBB jeweils eine Veranstaltung in Berlin und in Minsk. In Minsk kommen vom 13. bis 20. April bei der Internationalen Partnerschaftskonferenz etwa 1500 Menschen zusammen, darunter viele Zeitzeugen und Vertreter europäischer Initiativen. Die Teilnehmer werden sich bei der Veranstaltung vernetzen, in thematischen Arbeitsgruppen diskutieren und die belarussische Nationalversammlung besuchen.

Das gesamte Projekt endet schließlich mit der Abschlussveranstaltung „Tschernobyl als europäische Herausforderung“ (in Kooperation mit der Evangelischen Akademie zu Berlin) am 26. April 2011 im Französischen Dom in Berlin, bei der die Ergebnisse des gesamten Projekts vorgestellt werden. sb Das IBB sucht für die Betreuung der Ausstellung und der Zeitzeugen Initiativen aus ganz Deutschland. Für den Transport der Ausstellung fallen voraussichtlich keine Kosten an. Die Initiativen müssten Unterkunft und Verpflegung für den Zeitzeugen stellen. Bei Interesse oder Fragen melden Sie sich bitte bei Frau Yanina Lyesnyak (lyesnyak@ibb-d.de).

Am Vorabend des Gedenkens Aktivitäten europäischer Initiativen zum 25. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl Um das Reaktorunglück von Tschernobyl und seine Folgen nicht dem Vergessen anheim fallen zu lassen, planen viele europäische Initiativen vielfältige Aktionen für das kommende Jahr. Beim Vernetzungstreffen „Am Vorabend des Gedenkens“ am 23. und 24. April 2010 in Dortmund konnten sich die Initiativen aus Deutschland, Belarus, der Ukraine, den Niederlanden, Frankreich, Belgien und Luxemburg über ihre geplanten Aktivitäten austauschen. Wie kann der 25. Jahrestag der TschernobylKatastrophe begangen werden, damit die Erinnerung an das Reaktorunglück auch über das Jubiläum hinaus wach gehalten wird? Diese und viele weitere Fragen rund um das Gedenken an Tschernobyl bewegten um die 60 Vertreter europäischer Initiativen bei einem Vernetzungstreffen in Dortmund. Die Stichting Rusland Kinderhulp (www.ruslandkinderhulp.nl) aus den Niederlanden plant für den Jahrestag ein Vernetzungstreffen zwischen ihren niederländischen Engagierten und den belarussischen Partnern. Die belgische Initiative Les Enfants de Tchernobyl (www.enfants-de-tchernobyl.be) möchte zum 25. Jahrestag das Buch „Blicke, die sich kreuzen“ publizieren, das insbesondere die interkulturelle Dimension der Kinderaufenthalte belarussischer Kinder in Belgien reflektiert. Die luxemburgische Initiative Parents Accueil de Tchernobyl du Luxembourg (www.patlux.com) erwägt die Initialisierung eines gemeinsamen Lobbyprozesses auf EUEbene und ein Vernetzungstreffen mit Vertretern von Initiativen aus allen EU-Ländern, und aus Belarus und der Ukraine. Auch bei den deutschen Initiativen laufen schon die Vorbereitungen für den kommenden Jahrestag. Heim-statt Tschernobyl (www.heimstatt-tschernobyl.org) plant für den 02 / 10  Nr. 48

26. April 2011 in der Berliner Gedächtniskirche einen ökumenischen Gottesdienst sowie in Kooperation mit der deutschen Sektion des Verbandes IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs) ein Konzert und eine Lesung in der Berliner Philharmonie. Zudem sollen bis zum Sommer 2011 deutschlandweit über hundert Konzerte zum Gedenken an Tschernobyl stattfinden. Die Stiftung des Landes Niedersachsen Kinder von Tschernobyl (www.ms.niedersachsen.de) möchte einer breiten Öffentlichkeitsarbeit vermitteln, dass auch 25 Jahre nach Tschernobyl in den betroffenen Gebieten ein großer Bedarf an Unterstützung besteht. Dazu plant sie einen Film mit aktuellem Material aus der Ukraine und aus Belarus, der bei einer zentralen Gedenkveranstaltung am 26.April 2011 im niedersächsischen Landtag und an Schulen gezeigt werden soll. Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Den Kindern von Tschernobyl (www. bag-tschernobyl.net) plant neben einer europaweiten Kerzenaktion eine Friedensfahrt für ein Europa ohne atomare Bedrohung. Die Fahrt soll in Minsk beginnen und durch Polen, Deutschland und eventuell Frankreich führen. Am 26. April 2010 soll die Friedensfahrt in Genf enden, wo vor dem Sitz der WHO mehr Aufklärung über die Folgen von Tschernobyl gefordert werden soll. sb

Wer das Vernetzungstreffen verpasst hat, kann sich auf der Internetplattform www.ost-westinitiativen.de mit den Initiativen vernetzen und Projektideen austauschen. Dort wird auch über alle Veranstaltungen informiert.

Heim-statt Tschernobyl sucht Initiativen, die sich an der Aktion 100 Konzerte zum Gedenken an Tschernobyl beteiligen möchten. Bitte kontaktieren Sie dafür Herrn Dietrich von Bodelschwingh heim-statt-tschernobyl @t-online.de.

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Städte im Dialog Weltweit gibt es rund 15.000 offizielle Städtepartnerschaften. Die Zahl der informellen Partnerschaften oder Freundschaften zwischen Städten liegt jedoch noch um ein Vielfaches höher. Gelebt wird diese Partnerschaft zwischen Städten auf der Ebene der Zusammenarbeit von Stadtverwaltungen und Unternehmen sowie, in erster Linie, auf der Ebene der Bürger – durch Kontakte von Partnerschaftsvereinen, Schulen, Sportvereinen, Kirchengemeinden und Kulturaustausche. Peter Franke, Berlin Peter Franke ist Vorsitzender des Bundesverbandes Deutscher West-OstGesellschaften (www.bdwo.de).

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Die Zahl der Städtepartnerschaften zwischen Belarus und Deutschland ist recht überschaubar: Etwa 19 deutsche und 16 belarussische Städte haben formelle Partnerschaften mit Städten im jeweils anderen Land abgeschlossen. Dazu zählen unter anderem die Partnerschaften zwischen Bonn und Minsk, Nienburg und Vitebsk, Eisenach und Mogilëv, Friedrichshafen und Polock. Daneben gibt es noch eine Zahl von Städtefreundschaften wie zwischen Wittenberg und Eisenach. Die kommunale Zusammenarbeit in Form von Städtepartnerschaften bildet heute eine wichtige Säule des Dialogs zwischen Deutschland und Belarus. Dabei kann die Möglichkeit im privaten und beruflichen Umfeld der Kommune konkrete Projekte zu gestalten, Städte wie Bürger motivieren, ihr Engagement und Wissen in eine derartige Partnerschaft einzubringen. Mit dem Wandel der Städte hat sich auch das Profil der Zusammenarbeit gewandelt. Die Mehrzahl der Partnerschaften zwischen deutschen und belarussischen Städten, wurde ab Mitte der 80er und bis Mitte der 90er Jahre begründet. Ging es zunächst darum, nach dem kalten Krieg Brücken zwischen Ost und West zu bauen, und nahm das Interesse am östlichen Partner und der Partnerschaftsarbeit Ende der 80er Jahre stark zu, gerade auch vor dem Hintergrund der TschernobylKatastrophe, so haben sich in den letzten Jahren mit den Veränderungen in Belarus und in Deutschland auch die Beziehungen der Partnerstädte gewandelt. Während die Leistung von humanitärer Hilfe, die insbesondere Anfang bis Mitte der 90er Jahre von großer Bedeutung war, in den Hintergrund rückte, traten in den letzten Jahren stärker Aktivitäten in Kultur und Politik, der Fach-, Schüler- und Jugendaustausch sowie Kooperationen in der Wirtschaft und im Umweltschutz in den Vordergrund. Um die Akteure in ihrer Partnerschaftsarbeit zu unterstützen und ein Netzwerk zwischen ihnen aufzubauen, werden seit einigen Jahren Städtepartnerschaftskonferenzen zwischen den deutschen und belarussischen Partnerstädten durchgeführt.

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Die Konferenzen finden alle zwei bis drei Jahre im Wechsel in Belarus und in Deutschland statt. Sie richteten sich zunächst nur an Bürgermeister und Entscheidungsträger der kooperierenden Städte. Doch bei den letzten Konferenzen wurden auch Vertreter von Vereinen, Initiativen und gesellschaftlichen Organisationen einbezogen, die an der Intensivierung der Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene sowie an der Ausweitung der Kooperation auf neue Bereiche interessiert sind. Die Konferenzen versuchen Perspektiven und Themenfelder für eine intensivere Zusammenarbeit auf regionaler und kommunaler Ebene sowie neue Kooperationsmöglichkeiten zwischen Bürgerinitiativen und Kommunen aufzuzeigen. Denn die Palette der Projekte von Städten wie Vereinen ist überaus vielfältig und die Partner können sich durchaus ergänzen. Auch bei der siebten Deutsch-belarussischen Städtepartnerkonferenz vom 16. bis 18. Oktober 2009 in Mogilëv wurde bei allen Diskussionen sichtbar, wie stark sich das Engagement der Bürgerinitiativen versachlicht und professionalisiert hat und wie viel offener die Akzeptanz ehrenamtlicher Arbeit bei den Kommunalpolitikern und in den kommunalen Verwaltungen geworden ist. Zwischen der belarussischen und der deutschen Position gibt es diesbezüglich graduelle, aber keine prinzipiellen Unterschiede. Die existierenden Städtepartnerschaften sind ein wichtiger institutioneller Rahmen für die Arbeit von Vereinen und Gesellschaften, zumal gerade die Arbeit ihrer Mitglieder diese Städtepartnerschaften mit Leben füllt und sich ein Austausch nicht allein auf die Verwaltungen beschränkt. Dort, wo Verwaltungen und Vereine auf beiden Seiten gemeinsam eine Städtepartnerschaft pflegen, sind diese tatsächlich auf vielerlei Art lebendig. Beachtenswert ist, dass etwa seit dem Jahre 2000 deutsche Städte und Gemeinden kaum noch Städtepartnerschaften schließen, dabei verweisen sie vor allem auf ihre knappen finanziellen Mittel. Mehr Nr. 48  02 / 10


NGOs & Gesellschaft

und mehr treten die offeneren Formen der binationalen Freundschaften zwischen Städten an die Stelle der Städtepartnerschaften. Doch die Erfahrung zeigt, dass die Form der Städtepartnerschaft eine Partnerschaft nachhaltiger mit Leben füllt und die Zusammenarbeit hin zu konkreteren Formen entwickelt. Daher sollte in Städten nicht nur nachdrücklich auf eine Vertiefung der bestehenden Partnerschaften gedrängt, sondern auch der Abschluss neuer Partnerschaften gefördert werden. Dabei, und dies müsste für die Städte und Gemeinden interessant sein, besteht durchaus die Möglichkeit, dass Vereine und Gesellschaften den Verwaltungen – angesichts knapper Kassen – Aufgaben in der

Pflege der Städtepartnerschaften abnehmen. Persönliche Begegnungen von Bürgerinnen und Bürgern, vor allem aber von Jugendlichen zu ermöglichen, ist deshalb der erste und überhaupt wichtigste Schritt in der Partnerschaftsarbeit. Durch gegenseitiges Kennenlernen können Freundschaften entstehen, die häufig zu längerer Zusammenarbeit führen. Und gemeinsam entwickelte Projekte legen dazu den Grundstein. Die Themenpalette dieser Projekte ist überaus vielfältig – Fragen der gemeinsamen Geschichte, des Tourismus, der Ökologie und des interkulturellen Dialogs gehören ebenso dazu wie Politik oder gesellschaftliche Entwicklung.

Best Practice: Eisenach und Mogilëv Seit fast 15 Jahren besteht eine Städtepartnerschaft zwischen Eisenach und Mogilëv. Wie es zu der Partnerschaft kam und wie sich die Beziehungen gestalten, fragten wir Heike Apel, 1. Vorsitzende des Vereins Eisenacher Städtepartnerschaften. Das Interview führte Sabrina Bobowski. Frau Apel, Sie sind in Eisenach für die Städtepartnerschaften zuständig, darunter auch für die Partnerschaft mit Mogilëv, die bereits seit 1996 besteht. Wie kam es zu der Partnerschaft? Die Städtepartnerschaft entwickelte sich vor allem durch die Ferienaufenthalte belarussischer Kinder in Eisenach. Seit vielen Jahren kamen jährlich Kinder im Sommer für drei Wochen zu uns. Diese Aufenthalte wurden schließlich zu einer festen Tradition und zur offiziellen Städtepartnerschaft, was vor allem der damalige Oberbürgermeister Dr. Hans-Peter Brodhun initiierte. Was sind weitere Schwerpunkte der Kooperation? Neben den Kinderaufenthalten gibt es noch eine Kooperation mit dem Musikkonservatorium in Mogilëv. Seit drei Jahren kommen belarussische Studenten zu einem dreiwöchigen Musikpraktikum nach Eisenach. Sie verbringen ihre Zeit im Bachhaus und in der Musikschule, wo sie ihre musikalischen Kenntnisse und Fähigkeiten ausbauen. Daneben kooperieren unsere Städte auch im wirtschaftlichen Bereich, insbesondere durch den Technologiepark Gründer und Innovationszentrum (GIS).

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Der Technologiepark Mogilev, der von einer Eisenacher Firma mit aufgebaut wurde, gilt als besonders erfolgreiches deutsch-belarussisches Projekt. Wie kam es zu dieser Kooperation? Das Gründer- und Innovationszentrum aus Eisenach bewarb sich damals bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Technologiezentren e.V. um eine Förderung für den Aufbau eines belarussischen Technologieparks. Der Technologiepark entstand 1996 als eine deutsch-belarussische Kooperation in Mogilëv. Das Projekt ist längst abgeschlossen, aber der Kontakt zwischen dem GIS und dem Technopark besteht nach wie vor. Erst im vergangenen Herbst besuchte eine deutsche Wirtschaftsdelegation Mogilëv, um weitere Kontakte mit Unternehmen vor Ort zu knüpfen. Frau Apel, wie soll sich die Partnerschaft zwischen Eisenach und Mogilev in den nächsten zehn Jahren Ihrer Ansicht nach gestalten? Zehn Jahre ist eine lange Zeit, aber ich wünsche mir, dass das Niveau der Städtepartnerschaft bleibt und dass es schrittweise weiter ausgebaut wird. Vor allem die zwischenmenschlichen Beziehungen sollten sich weiter vertiefen, denn so funktioniert eine gute Städtepartnerschaft!

Heike Apel im Dienst. Foto: eisenach.de

Weitere Informationen finden Sie unter www.eisenach.de, www.vesp.eisenachonline.de.

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NGOs & Gesellschaft

ewoca³ im Landtag NRW Mechthild vom Büchel, Dortmund ewoca³, ein einzigartiges Förderprogramm für internationale Jugendarbeit in Nordrhein-Westfalen, war bis zum 16. April 2010 Thema einer Ausstellung im Düsseldorfer Landtag. Landtagspräsidentin Regina van Dinther sagte bei der Eröffnung der Ausstellung am 24. März vor Landtagsabgeordneten und geladenen Gästen: „Ich finde die Idee des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks und der Stiftung Mercator großartig, Jugendeinrichtungen in Europa zu vernetzen und damit die interkulturelle wie soziale Kompetenz junger Menschen zu fördern.“ Auf 20 Tafeln vermittelt die Ausstellung Eindrücke von den internationalen Workcamps in Nordrhein-Westfalen

und den europäischen Partnerländern im Jahr 2009. 13 Jugendeinrichtungen aus Nordrhein-Westfalen hatten 2009 zum ersten Mal an dem auf drei Jahre angelegten Förderprogramm teilgenommen, das die Stiftung Mercator mit 1,75 Millionen Euro fördert. Programmleitung und -koordination obliegem dem IBB, das unter anderem die Einrichtungen dabei betreute, Kontakte zu je zwei Partnerländern in Europa zu knüpfen. In drei aufeinander folgenden Jahren kommen Jugendliche im Alter von 16 bis 23 Jahren aus drei verschiedenen Ländern für jeweils drei Wochen in Workcamps zusammen und arbeiten an ökologischen, gemeinnützigen Projekten. www.ewoca.org

Ausstellung von Leonid Levin in Berlin Mechthild vom Büchel, Dortmund „Letzten Endes kommt es darauf an, dass wir unsere Herzen zu Orten der Erinnerung machen.“ Mit diesen Worten eröffnete Staatssekretär Michael Mertes am Mittwoch, 27. Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, die Ausstellung „Wider das Vergessen! Gedenkorte in Belarus“ mit Werken des belarussischen Künstlers Leonid Levin in der NRW-Landesvertretung in Berlin. Das IBB hatte diese Ausstellung in Kooperation mit der NRW-Landesvertretung in Berlin realisiert. Unter den rund 200 Gästen begrüßte Mertes besonders Christina Rau, die Witwe des vor vier Jahren

verstorbenen ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, der sich unter anderem auch für den deutsch-belarussischen Dialog eingesetzt hatte. Der heute 73-jährige Künstler und Architekt Leonid Levin hat seit den 60-er Jahren mehr als 20 Gedenkstätten in Belarus und Russland geschaffen, die die Tragödie des Krieges und des Holocaust symbolisieren und nachfühlbar machen. „Wenn ein Besucher die Gedenkstätte verlässt und vergisst, was er dort gesehen hat, habe ich mein Ziel verfehlt“, hat Levin selbst seine künstlerische Intention beschrieben.

Neues Lehrbuch erschienen Nina Špakovskaja, Minsk Am 19. März wurde zum siebten Jahrestag der Geschichtswerkstatt Minsk das Lehrbuch „Gerettetes Leben: Leben und Überleben im Minsker Ghetto“ in der IBB Minsk präsentiert. Das Buch arbeitet vor allem mit Erinnerungen von Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges, wodurch Schülern jenseits abstrakter Opferzahlen, die Tragödie jener schrecklichen Ereignisse nahe gebracht wird und sie die Leiden jener Menschen begreifen können, die zu Geächteten und Kriegsgefangenen wurden. Allerdings werfen Erinnerungen auch viele Fragen auf, die unmittelbar mit der Weitergabe von Erfahrung der älteren Generation an die jüngere Generation verbunden sind. Die IBB Minsk wurde am 19. März zum Diskussionsort dieser und anderer Fragen zwischen Zeitzeugen, Lehrern und Schülern. Das im 30

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Rahmen der Tätigkeit der Geschichtswerkstatt herausgegebene Buch „Gerettetes Leben: Leben und Überleben im Minsker Ghetto“ umfasst die Schicksalsgeschichten von vier Menschen, zwei Häftlingen des Minsker Ghettos und zwei Gerechten unter den Völkern der Welt. Die im Lehrbuch angewendete Oral History-Methode ist eine persönliche Herausforderung für die beiden Gesprächspartner, die sich in einen intensiven persönlichen Dialog begeben. Dadurch wird das Interview zu mehr als einer Wissensquelle: es erschließt neue Perspektiven in der Interpretation von historischen Ereignissen und es bereichert die Sozialgeschichte, indem es eine Vorstellung über das Alltagsleben und die Mentalität sogenannter „einfacher Menschen“ gibt. Nr. 48  02 / 10


Kultur & Wissenschaft

Good as you? Homosexualität in Belarus Jeanna Krömer, Wien Am 1. Februar 2010 ist die erste Nummer der Online-Zeitschrift „GAY: good as you“ in belarussischer Sprache erschienen. Der hauptverantwortliche Redakteur Sergej Pradzed meint, er sei zwar nicht der einzige Medienvertreter, der sich in Belarus dem Thema Homosexualität zuwende. Wohl aber sei er der Erste, der beabsichtige, regelmäßig Original-Artikel und Fotos der eigenen Autoren zu publizieren. Ein großer Schritt, denn „die Gesellschaft ist immer noch intolerant. Immerhin sind viele inzwischen bereit, das Thema offen zu diskutieren“ so Sergej Androsenko, der Vorsitzende des Rechtschutzprojekts „Gay Belarus“. Gemäß der „Greenwood Encyclopedia of LGBT Issues Worldwide“ (Lesbian, Gay, Bisexual und Trans) von 2009 ist der Umgang mit sexuellen Minderheiten in Belarus nach wie vor bedenklich. Zwar schaffte der belarussische Staat 1994 den Artikel 119 und die entsprechende Kriminalisierung von freiwilligen homosexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen ab – in den Köpfen vieler Beamter hat sich seitdem jedoch nichts verändert. Es kommt immer wieder vor, dass sich Parlamentarier für die Wiedereinführung des Artikels aussprechen. Auch in oppositionellen Kreisen stößt man regelmäßig auf homophobe Aussagen. So erhielten erst kürzlich mehrere belarussische Menschenrechtsorganisationen wie der Dachverband NGOAssembley, das Menschenrechtszentrum Ves‘na und das Belarussische Helsinki-Komitee einen Brief von dem oppositionellen Aktivisten Aleksandr Strel‘cov-Karvackij, in dem er die Organisationen aufforderte, die „traditionellen Werte der belarussischen Familie zu respektieren“ und von der Unterstützung Homosexueller abzusehen. Für besonderes Aufsehen sorgte vor einem Jahr der Vorsitzende der oppositionellen Jugendorganisation Junge Front, Dmitrij Daškevič, der in einem Interview Homosexuelle als Vertreter des Teufels bezeichnete. Es gibt jedoch auch Hoffnungsschimmer. In der Bevölkerung beispielsweise scheint sich das Ansehen sexueller Minderheiten erheblich verbessert zu haben: Während 2002 noch 47 Prozent der Belarussen Homosexuelle als Verbrecher einstuften, hat sich diese Zahl bis 2007 auf nur 12 Prozent reduziert. Auch war Belarus das erste postsowjeti02 / 10  Nr. 48

sche Land, in dem Aktionen zur gleichgeschlechtlichen Liebe stattfanden, so beispielsweise der Belarus Gay Pride March, bei dem 2001 um die 300 Teilnehmer über den Hauptprospekt in Minsk spazierten. „Natürlich ist es kein Dreimillionenkarneval wie in Brasilien, aber für eine konservative Republik der ehemaligen UdSSR war das schon ein ziemlich beeindruckendes Ereignis“, findet Sergej Androsenko. Für den 15. Mai ist der zweite Slavic Gay Pride in Minsk geplant, doch ob die Behörden ihre Zustimmung zu dem Event erteilen, scheint noch ungewiss – obwohl die Entscheidung mehr als überfällig ist. Laut Umfragen von 2009 stören sich 42 Prozent der Einwohner von Minsk nicht an öffentlichen Veranstaltungen der LGBT-Szene in der Hauptstadt. „Die Anzahl der Leute, die positiv oder neutral zu den öffentlichen Aktionen der LGBTBewegung in Minsk eingestellt sind, nähert sich der 50-Prozent-Marke. Das ist deutlich mehr, als in Moskau“ – so Nikolaj Alekseev, Leiter des russischen Projekts GayRussia.ru und Mitorganisator des Slavic Gay Prides in Minsk. Im Vergleich zu den Nachbarn im Osten scheinen die Belarussen in den vergangenen Jahren also toleranter geworden zu sein. Gesellschaftlicher Konsens ist diese Toleranz aber bei weitem noch nicht. Wie sich die Lage für gleichgeschlechtliche Paare in den nächsten Jahren entwickeln wird, hängt wohl wesentlich davon ab, in welche Richtung es insgesamt für Belarus geht: nach Osten oder nach Westen.

Documents, please! Der LGBT-Aktivist Nikolaj Alekseev mit einer transsexuellen Braut beim Slavic Pride 2009 in Moskau. Foto: Nikolaj Alekseev

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Ob das gelingt? Der bekannteste belarussische Rockmusiker Lavon Volski über das Regime Lukašenko, die belarussische Musikszene und die zögerliche Liberalisierung in Belarus. Das Gespräch führte Ingo Petz. Herr Volski! Als einer der Begründer der belarussischen Rockmusik prägen Sie die Musikgeschichte Ihres Landes seit fast 30 Jahren. Das ist eine lange Zeit für ein Land, das nahezu keine Musikindustrie hat. Na ja. Selbst auf dieser speziellen belarussischen Bühne gibt es Künstler und Musiker, die älter als ich sind. Außerdem unterscheiden sich die Bedingungen, unter denen so genannte Pop- und Rockstars wie ich leben und arbeiten, im Westen und in Belarus gewaltig. Bei uns gibt es keine monatelangen Touren. Es gibt keine Paparazzi, die dir das Leben zur Hölle machen. Man muss sich nicht in todlangweiligen Fernseh-Shows verdingen. Und natürlich verdient man kein großes Geld. Das alles sichert ein langes Überleben. So hat selbst die belarussische Musikszene ihre positiven Seiten. (lacht).

Petz und Volski im Doppelpack Foto: Ingo Petz

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Als der berühmteste Rockstar in Belarus führen Sie ein sehr bescheidenes Leben. Welche speziellen Herausforderungen bringt die belarusische Musikszene mit sich? Die Situation ist tatsächlich sehr spezifisch. Es gibt kaum Know-how über moderne Techniken. Das betrifft weniger den Aufnahme- und Studio-Bereich als vielmehr die Produktion, das Management, Marketing und PR. Professionalität ist selten. Bei uns gibt es keine bedeutenden Labels. Niemand investiert großes Geld in die Musik. Selbst wenn man viele Fans hat, kann man keine großen Gewinne erwarten. Unsere CDs müssen wir selbst finanzieren und produzieren. Das fertige Produkt geht dann an ein Label, das im Allgemeinen nur für die Distribu-

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tion zuständig ist. Dennoch sind wir zuversichtlich, dass wir die Situation verbessert haben und weiterhin verbessern werden. Warum haben Sie Anfang der Achtziger begonnen, Rockmusik auf Belarussisch zu schreiben? Als ich 16 Jahre alt war, wollte ich etwas machen, was noch niemand getan hatte. Wir haben schnell gemerkt, dass wir keine genialen Musiker werden, die sich durch ihre fantastische Technik auszeichnen. Mit dem Belarussischen konnten wir aber einen Unterschied machen. Sie hob uns selbst von den qualitativ hochwertigen Bands im Land ab. 1994, im Jahr als Aleksandr Lukašenko zum Präsidenten gewählt wurde, gründeten Sie die Band N.R.M., die schnell zur populärsten Gruppe des Landes wurde. Welche Idee steckte hinter der Gründung? Wir wollten etwas Neues, Attraktives und Alternatives schaffen. So gründeten wir nicht nur eine Gruppe, sondern einen ganzen Staat: Die unabhängige Republik der Träume, N.R.M. eben. Mit nicht nur vier Band-Mitgliedern, sondern vier Ministern. Zu jener Zeit passierten so viele unerfreuliche Dinge in Belarus, dass ich beschloss, mir mein eigenes Land im Land zu erschaffen. Ein Land, wo man sich vor der Wirklichkeit verstecken kann. Wie sich herausstellte, gefiel das nicht nur mir, sondern auch vielen jungen Belarussen. Mit der Band N.RM. spielten Sie sich an die Spitze der kritischen belarussischsprachigen Rockmusik. Ihre Songs wurden zu Hymnen und durften schließlich nicht mehr im Radio gespielt werden, ihre Konzerte wurden verboten. War dies eine schwere Zeit für Sie? Es ist immer schwer, wenn man vor seinem Publikum nicht mehr auftreten kann. Ich war deprimiert, sogar depressiv. Wir standen wohl auf einer „schwarzen Liste“, und uns wurden Fernseh- und Radioauftritte verwehrt (ganz abgesehen davon, dass die Rotation noch nie unser Hauptziel war), alle Interviews und Konzerte wurden gecancelt. Ich hätte mich auf Nr. 48  02 / 10


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Musik konzentrieren können, bin aber in eine Krise gerutscht – eine Schreibblockade, es klappte überhaupt nichts... ich war wütend auf unsere Obrigkeit, alles wurde in dieser Zeit zum Politikum. Solche Verbote sind immer zum Scheitern verurteilt. Jeder, der verbietet, verliert im Endeffekt. Nehmen Sie die Alkoholprohibition in den USA oder Mitte der Achtziger die in der Sowjetunion. So ist es auch bei der absurden Untersagung eines kreativen Produkts. Man muss sich das mal vorstellen. Jemand geht zur Arbeit, um sich in seinem Büro an den Tisch zu setzen und dann ein Lied oder ein Gedicht zu verbieten. Das ist doch zum Lachen - und zum Heulen. Mit dem Beginn des neuen Millenniums haben Sie andere Projekte begonnen. So gründeten Sie die Band „Krambambulya“, die tanzbare Musik spielte – zu absurden, komischen Texten, die anders als bei N.R.M. nicht gesellschaftskritisch waren. Viele Ihrer Fans warfen Ihnen vor, unpolitisch und soft geworden zu sein. Mit welcher Absicht haben Sie „Krambambulya“ auf die Beine gestellt? Das ist komisch, aber in Belarus gab es damals keine lustigen, verrückten und durchgeknallten Musikprojekte. Nur die Band „Lyapis Trubeckoj“, aber die arbeitete mehr in Richtung Russland. Deshalb habe ich beschlossen, so eine Band zu gründen. Für ein breites Publikum. Für einfache Leute, die Spaß haben und tanzen wollen. Unser Lied „Gosci“ kennen seitdem sehr viele Menschen. Und immerhin ist es auf Belarussisch. So haben wir auch das Belarussische in gewisser Weise popularisiert. Ihre Musik wird weitgehend als oppositionell gegenüber dem Regime Lukašenko verstanden. Sehen Sie sich als Teil der Opposition? Ja, ich bin oppositionell eingestellt – und zwar gegenüber Grobheiten, Angst, Heuchelei, Lügen, Agitation und Propaganda, Dummheiten und Hysterie – all das und Ähnliches begleitet uns bereits seit über 15 Jahren. Können Sie erklären, warum das Regime Lukašenko derart stabil und langlebig ist? Dass das Regime bereits 15 Jahre existiert und nicht zusammengebrochen ist, verdient an sich schon eine gewisse Beachtung. In dieser Zeit war keine vom Westen gestützte Opposition erfolgreich. Es gibt einiges, über das man ins Grübeln geraten könnte. Aus dem Westen sind große Gelder in die belarussische Politik geflossen. Und das Ergebnis? Gleich null. Zur selben Zeit musste die Kultur in einer 02 / 10  Nr. 48

miserablen isolierten Situation existieren. Aber immerhin ist daraus etwas entstanden. Und was die Stabilität des Regimes angeht: diejenigen, die schon in den ersten Jahren dagegen waren, sind aufgezehrt worden oder sie haben sich längst mit der Situation arrangiert. Und wer sich nicht arrangiert hat, hat das Land verlassen. Die meisten hier interessieren sich für solche elementaren Dinge wie Freiheit, Demokratie oder die europäische Integration einfach nicht. Anfang der Neunziger haben die Menschen darum förmlich gebettelt. Heute aber kauft man lieber Autos zu Wucher-Krediten. Es scheint anormal. Aber den Menschen gefällt das. Dass sie nicht nachdenken, nicht die Initiative ergreifen müssen. Für dich entscheiden die da oben. Sie sagen dir, was du zu tun hast. Du bekommst ein Gehalt, kein großes, aber ein stabiles. Die Menschen haben sich mit diesem Leben arrangiert. Sie fürchten die Veränderung. Denn es könnte ja plötzlich alles noch schlechter werden.

Blog von Lavon Volski (Belarussisch): http://lvolski.livejournal.com Polnische Seite von N.R.M.: www.nrm.info.pl Projekt von Volski: www.lvolski.com

Seit einiger Zeit gibt es eine vorsichtige Annäherung zwischen der EU und Belarus und demzufolge eine zögerliche wirtschaftliche Liberalisierung. Was halten Sie von dieser Entwicklung? Ich wiederhole noch einmal, dass eine Politik der Verbote und Sanktionen nicht funktioniert. Was ändert sich schon im globalen Sinne, wenn man den Regime-Leuten verbietet, in den Westen zu fahren? Nichts. All die Jahre haben die USA und die EU sich an unsere Opposition gehalten. Konkrete Resultate oder Veränderungen hat dies nicht erbracht. Nun versucht man also mit dem Regime zu verhandeln, um Veränderungen herbeizuführen. Ob das gelingt? Mal sehen. Aber dass wir wieder auftreten dürfen, dass manche Zeitungen wieder an den Kiosken erhältlich sind, dass einige politische Gefangene freigelassen wurden, all das sind durchaus positive Entwicklungen dieser neuen Politik. Trotzdem, bald sind bei uns Präsidentschaftswahlen, und vor Wahlen ist es bei uns üblich, die Daumenschrauben wieder anzuziehen… Lavon Volski, 1965 in Minsk geboren, ist der bekannteste belarussische Rockmusiker und Songschreiber. Anfang der Achtziger gründete er die Band Mroya (Träume), die als erste belarussischsprachige Rockband vom sowjetischen Staatslabel Melodija produziert wurde. Mit der Band N.RM. (Die unabhängige Republik der Träume) schrieb er Lieder, die heute als Hymnen der Oppositionskultur gelten. Zudem gründete er Projekte wie Krambambulya oder Zet und wirkte an musikalischen Projekten wie „Narodny Albom“ (Das Volksalbum) oder „Ja Naradziusia Tut” (Ich bin hier geboren) mit. Er malt und schreibt Gedichte und Prosa.

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Rammstein ist für alle da! Am 7. März stellte die deutsche Metal-Band Rammstein in Minsk ihr neuestes Album „Liebe ist für alle da” vor. Nicht alle Belarussen freuten sich über den Auftritt der deutschen Provokateure. Aleksej Šota, Grodno

Foto: Matt Foster

Belarus ist weder mit vielen weltberühmten Bands gesegnet, noch gehören Auftritte von Stars wie Rammstein zum kulturellen Alltag des Landes. Nicht häufig bekommt man eine 140-köpfige Crew und eine zwei kilometerlange Schlange mit Equipment-Fahrzeugen auf den belarussischen Straßen zu sehen. Allein die Tatsache, dass die deutschen Musiker nach Minsk kamen, hätte also für ein gewaltiges Medienecho sorgen müssen. Statt dessen schob sich der „Gesellschaftliche Moralrat“ – nach dem bis dato kein Hahn gekräht hatte – in den Mittelpunkt des Geschehens. „Diese Gruppe propagiert unverhüllt Homosexualität, Masochismus und andere Perversionen, Grausamkeit, Gewalt und unwürdiges Gezeter” – so die Hüter der belarussischen Moral. Der Rat war 2009 mit Unterstützung des Präsidenten von der belarussischen orthodoxen Kirche und dem pro-staatlichen Schriftstellerverband gegründet worden und sollte über die

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Bestellung des Journals bei Olga Jungius smirolga@gmail.com

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Im August 2009 trafen in dem kleinen belarussischen Dorf Berdauka im Nordwesten des Landes zehn junge Fotografen, Journalisten, Sound-Künstler und Comiczeichner aus allen Winkeln der EU auf zehn junge belarussische Journalisten, Fotografen und Studenten. Die beiden Gruppen standen vor einer großen Herausforderung: in nur zehn Tagen sollten die Gäste aus der EU in die belarussische Realität eintauchen und so ein anderes Land kennen lernen als das aus den europäischen Medien bekannte repressive, unfreie Belarus. Auf der Grundlage der Eindrücke sollte ein gemeinsames Journal entstehen. In kleinen Zweiergruppen aus einem Belarussen und einem Landes-

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öffentliche Moral in Belarus wachen. Da bot Rammstein wohl einen guten Anlass. „Sie [Rammstein] werden die noch sehr fragile belarussische Identität einreißen und zerstören, die Erinnerung an den Sieg und seine Helden zertreten und letzten Endes die belarussische Staatlichkeit zerstören.“ Harte Vorwürfe gegen eine Metal-Band, die wohl kaum nach Minsk gekommen war, um es zu zerstören und den belarussischen Staat in Schutt und Asche zu legen. Trotz Moralgezeter kam es, wie es kommen musste, und das Konzert fand am 7. März wie geplant in Minsk statt. Die Meinungen der Fans bewegten sich am Folgetag zwischen „super“ und „grandios“. Nachdem Rammstein die Minsk Arena nun ‚entweiht‘ haben, erwartet die belarussischen Fans bald ein Konzert der deutschen Bands „Scorpions“. Doch der „Wind of Change“ wird wohl kaum so viel Wind aufwirbeln wie die Schwarzen Männer von Rammstein.

Olga Jungius, Berlin fremden zogen die wissbegierigen Medienmacher mit individueller Roadmap durchs Land. Kann Minsk als Freilichtmuseum sowjetischer Architektur Touristen anziehen? Wo befindet sich der europäische Amazonas und was ist aus den Sümpfen und Mooren geworden, die einst ein Drittel des Landes bedeckten? Was sind die Kosten der kostenlosen Hochschulbildung? Warum ist es für belarussische Rockmusiker so wichtig, auf Belarussisch zu singen? Wie lebt es sich als Rentnerin oder Homosexueller in Minsk? Antworten auf diese Fragen und eine fotografische Reise durch das unbekannte Belarus, finden Sie in dem Journal „Belarus Inside Out. Belarus‘ znutry i zvonku“. Nr. 48  02 / 10


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ร BERSETZUNGEN

Peter Junge-Wentrup, IBB Dortmund

Sabrina Bobowski, Berlin

REDAKTION

DRUCK

Sabrina Bobowski, Berlin Martin Schรถn, IBB Dortmund Dr. Edith Spielhagen, Berlin Dorothea Wolf, Minsk

druckwerk gmbh, Dortmund VERTRIEB

Einzelverkauf: 4 Euro, Jahresabonnement inkl. Versand: 15 Euro.

ART DIRECTOR/LAYOUT

Grit Tobis (www.grittobis.com)

LESERBRIEFE:

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Internationales Bildungs- und Begegnungswerk gGmbH Bornstr. 66 44145 Dortmund Tel. 0231 9520960 E-Mail: info@ibb-d.de Website: www.ibb-d.de

Gekennzeichnete Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion.



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