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Reden wir über Integration in Darmstadt, Folge 5 38
Es soll eigentlich jedem klar sein, dass unser Gehirn am besten funktioniert, wenn wir nicht unter akutem Stress stehen. In entspannten Zuständen, vor allem unter Einfluss von positiven Emotionen, sind wir aufnahmebereit, kreativ, und kooperationsfähig. Unter Stress setzen sämtliche Fähigkeiten aus, und unser System wird auf das Notwendige eingestellt. Bedingungen wie extremer Zeitdruck, gesellschaftliches Misstrauen und Existenzangst – die den Alltag vieler neuer Einwanderer:innen prägen – sind also wahrscheinlich nicht die besten Bedingungen, um sich mit Freude in einen Lernprozess zu stürzen. Begegnungen mit Leuten, die mit gehobenen Augenbrauen andeuten, dass wir unser Deutsch echt verbessern müssten, helfen mit Sicherheit auch nicht.
Bereit, sich richtig doof vorzukommen
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Um eine Sprache zu lernen, muss man bereit sein, seine Komfortzone ständig und durchgehend zu verlassen. Man muss bereit sein, sich richtig doof vorzukommen, nie das sagen zu können, was man eigentlich sagen will, und dauernd auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Verständlich, dass Erwachsene – obwohl aus sprachwissenschaftlicher Sicht der Erwerb neuer Sprachen bis ins hohe Alter vollkommen möglich ist – sich damit schwertun. Kinder haben uns etwas voraus: Sie schämen sich nicht für ihre Fehler und sie sehen alles als ein Spiel.
Als ich nach Deutschland ausgewandert bin, war ich 21 Jahre alt – und ALLES war ein Spiel. Ich habe mir dieses Land, diese Sprache ausgesucht, nicht weil ich etwa nicht dortbleiben konnte, wo ich aufgewachsen bin oder in einem anderen Land kein Visum bekommen konnte, sondern weil ich dachte (so ungefähr in diesem Wortlaut): „Ach, es wäre doch mal ganz lustig, in Deutschland zu leben.“ Häufig fragen mich Teilnehmer:innen im Deutschkurs verwundert: „Warum hast Du Kanada verlassen? Es ist doch alles gut dort.“ Und ich realisiere, welche Ungerechtigkeit unsere Erfahrungen voneinander trennt. Den Kopf frei zu haben, um sich auf eine neue Kultur einlassen zu können, ist ein großer Luxus.
Dieser erste, magische Moment ...
Sprachenlernen lohnt sich. Dieser erste, magische Moment, wo du einen vollständigen Satz aussprichst, ohne darüber nachzudenken („Boah, dieses Verb war richtig konjugiert!“) ... Oder wenn du feststellst, dass die Sprache im Radio nicht mehr Kauderwelsch ist, sondern einzelne Wörter, und du verstehst, worum es geht. Oder das erste Mal, wenn du eine komplette Verabredung mit einem Native Speaker verbringst, ohne in eine andere Sprache zu wechseln. Für diese Momente ist es die ganze Anstrengung wert. Mit einer neuen Sprache wachsen dir neue Gedanken, die du vorher nicht denken konntest, Freundschaften, die vorher nicht möglich waren, Musik und Bücher und Gedichte, die sich dir eröffnen und dir Zugang gewähren.
Wenn das Sprachenlernen aber in Kombination mit einer Migration stattfindet, gehen all diese Gewinne mit Verlusten einher. Während einem neue Persönlichkeitsanteile wie neue Gliedmaßen wachsen, müssen alte, vielleicht geliebte Aspekte des Selbst losgelassen werden. Im Laufe eines Lebens nehmen wir neue Aspekte dazu, lassen alte los – vielleicht entdecken wir sie irgendwann wieder. Sich eine neue Sprache anzueignen, als neue Schichten der eigenen Persönlichkeit, ist ein langsamer Wachstumsprozess – und wie jedes Wachstum ist es mal schmerzhaft und verläuft in der Regel nicht in planbaren Zeiträumen.
Es ist super und richtig, dass Deutschland ein umfangreiches Sprachlernangebot für Migrant:innen zur Verfügung stellt, und natürlich kann und soll man erwarten dürfen, dass Menschen, die hierherkommen, sich auf das Leben hier einlassen. Aber man kann Wachstum nicht erzwingen, sondern nur dazu einladen. Statt mehr Forderungen brauchen wir Räume, in denen Menschen als Menschen abgeholt werden, wo die Lust entsteht, etwas Neues wachsen zu lassen. Danach, da bin ich mir sicher, würde die Sprache von ganz allein kommen. Bis dahin fülle ich Anwesenheitslisten aus. ❉
— Manchmal hat man an einem Ort direkt das Gefühl, dass man willkommen ist. So war es für mich, als ich 2010 aus Kanada für ein Auslandssemester nach Darmstadt kam. Aus diesem einen Semester ist ein Studium geworden – und mittlerweile ist Darmstadt mein Zuhause. Als Ausländerin will ich mich in meiner Stadt zugehörig fühlen, unabhängig davon, wo ich herkomme oder wie lange ich vielleicht bleiben werde. Als Leiterin von Integrationskursen frage ich mich, was es eigentlich heißt, integriert zu sein. Integration ist schließlich kein Ziel, das erreicht werden kann, sondern vielmehr ein Prozess – ein Prozess in Richtung einer vielfältigeren, multikulturellen Gesellschaft.
melanielipinski.com
Aufgeschnappt! Aufgeschnappt!
Stadtkultur-Neuigkeiten
TEXT: MATIN NAWABI | FOTOS: TRIPLET + JAJA VERLAG („FREIBAD“)
Im örtlichen Nachtleben ist Triplet als DJ seit über einer Dekade eine feste Größe und sorgt derzeit mit der Party-Reihe „Pinge & Ginger“ für Euphorie und Ekstase. Als in Folge der Pandemie die ganze Nummer etwas runtergefahren werden musste, war plötzlich Zeit frei, um neue kreative Abenteuer in Angriff zu nehmen. „Ich habe mich meiner ersten Liebe gewidmet“, berichtet der Musiker, der sich erstmals als Solokünstler in Stellung bringt. Zwei Songs wurden während der Lockdowns mit dem Produzenten Meek aus Regensburg eingespielt. Zu hören gibt's Afrobeats, Dancehall, Soul – und Einblicke ins Innerste. Die Single „Type Shit“ verhandelt das Gefühlschaos nach einer gescheiterten Beziehung und überrascht mit einem Feature des ghanaischen Highlife-Sängers Bisa Kdei. Echt gut! orcd.co/triplet
Grooviger Retro-Rock mit 70er-Vibes, viel Soul und Blues – einen starken Einstand lieferten The Bad Sugar Rush im Frühsommer 2021 mit ihrer Debüt- Vinyl-Single. Über den Winter feilte die Truppe um Mitglieder von Bands wie Wight und Besidos noch mal am super geschmeidigen Melting-Pot-Sound. Am Mikrofon steht jetzt nicht nur René Hofmann, Gesang gibt's mittlerweile im Duett mit Sängerin Tinky Kerruish als neues, festes Mitglied. Wie das klingt? Checkt das One-Shot-Video zur Livesession im Eisenbahnmuseum Kranichstein mit dem Song „Love Is Like A Thunderstorm“. Coole Kulisse, lässige Nummer! instagram.com/badsugarrush
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Filmstudis der Hochschule Darmstadt arbeiten derzeit am Streifen „Darune Man“. Der Kurzfilm erzählt vom Schicksal einer iranischen trans*