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Was machen Mohammad und Shukur? 20

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Wrede und Antwort

Wrede und Antwort

Und ich will weiter hier leben.“ In Darmstadt gefällt es ihm besser als in der Heimat, denn: „Hier ist es sicherer.“

Shukur arbeitet weiter an einer Perspektive. Er besuchte bis Ende August einen Deutschkurs und macht den Führerschein. Die Theorieprüfung hat der 25-Jährige bereits bestanden. Seine Ausbildung zum Änderungsschneider, die er 2018 begonnen hat, droht an der sprachlichen Hürde zu scheitern. Die praktische Prüfung bestand er 2019 mit Bravour, aber durch den theoretischen Teil fiel er durch. Auch bei einem zweiten Anlauf, mit Nachhilfe, klappte es nicht. Eine letzte Chance, die Prüfung zu wiederholen, hat Shukur noch. Im Moment wagt er es nicht, diese wahrzunehmen. Stattdessen möchte er sich selbstständig machen, einen Laden übernehmen, sobald wie möglich endlich arbeiten und Geld verdienen. „Ich bin mir sicher, dass mein Geschäft laufen wird. Ich hatte in meiner Heimat schon einen eigenen Laden.“

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Problem: begrenzter Aufenthaltsstatus

Bis dahin ist der begrenzte Aufenthaltsstatus auch bei ihm ein zusätzlicher Stolperstein. Viele Unternehmen lehnen ihn deswegen ab. Auch die fehlende Ausbildung ist ein Problem. Es bleiben kleine Tauschgeschäfte – ein Behördengang gegen die Änderung eines Kleidungsstücks zum Beispiel – oder oft nur kurzfristige Minijobs, die nicht für den Lebensunterhalt ausreichen. Das ist frustrierend. Sechs Jahre in Unsicherheit haben an Shukur gezehrt. Er macht sich Gedanken: „Ich frage die Leute immer: Wie kann man gut leben? ... Damit ich von ihren Antworten lernen kann.“

Dazu kommt die Sorge um seine Verwandten in Afghanistan. Seine Schwester und ihre Familie mit fünf Kindern leben noch dort. Es ist sehr gefährlich geworden für sie. Frauen werden von den Taliban verschleppt, Männer zum Kämpfen auf ihrer Seite gezwungen. Aktuell versteckt sich die Familie vor den neuen Machthabern. Shukur schläft schlecht deswegen.

Während die Familie in der Heimat um ihr Leben fürchtet, bemüht sich Shukur weiter um ein stabiles Leben in Darmstadt. Er gibt nicht auf. Er schaut nach Räumlichkeiten und klärt die Finanzierung für seine Geschäftsidee. Vielleicht nimmt er zu einem späteren Zeitpunkt die Prüfung zum Änderungsschneider noch einmal in Angriff. Die Chancen, sie zu bestehen, stehen nun besser. Shukur wartet gerade auf die Ergebnisse seines Deutschkurses – und sagt: „Ich habe ein gutes Gefühl.“ ❉

YīnYīn 03.Oktober 2021

04.10. Klüpfel & Kobr 08.10. Max Goldt liest (+09.10.) 10.10. Dave Davis 11.10. Mundstuhl 15.10. Sarah Lesch 16.10. Weitsicht Spezial (+17.10.) 21.10. Sabin Tambrea 23.10. Julius Fischer 26.10. Dota 27.10. Ätna 29.10. Jan Philipp Zymny 30.10. Moritz Neumeier 03.11. Monsters of Liedermaching 05.11. Kack & Sachgeschichten 07.11. PopKabarett Korff & Ludewig 09.11. Peter Stamm 14.11. Django Asül

Centralstation/Im Carree/Darmstadt Tickets und Informationen: www.centralstation–darmstadt.de Telefon: 06151 7806–999

Raus mit der Stimme

Darmstädter Wortakrobat:innen, Folge 9: Iris Welker-Sturm

TEXT: FRANK SCHUSTER | FOTO: JAN EHLERS

„Männer wollen Frauen noch immer sanft, passiv, unterwürfig und vor allem abhängig. Eine, die selbstständig denkt, ist für die meisten beängstigend.“ Diese Worte schreibt Luise Büchner (1821–1877) in Iris Welker-Sturms Roman „aus der stimmhaft“ in einem Brief an eine Freundin.

Luise Büchner? Das ist doch die kleine Schwester des großen Georg Büchner. Stimmt. Klein, aber nur insofern, als dass sie acht Jahre jünger war als Darmstadts wohl berühmtester Sohn, dessen Werke heute Weltliteratur und Schullektüre sind. Doch auch seine Schwester, deren 200. Geburtstag sich im Juni jährte, leistete Großes: Bekannt ist sie vor allem als eine der wichtigsten Vertreterinnen der frühen Frauenbewegung in Deutschland. Sie schrieb allerdings auch Märchen, Gedichte, Novellen und einen Roman.

„Als Lehrerin unterrichtete ich jahrelang Georg Büchner, Luises Literatur hingegen kannte ich kaum, eher ihre Schriften als Frauenrechtlerin“, sagt Iris Welker-Sturm. Ohne Luise würden wir möglicherweise heute wenig von Georg Büchner kennen. Denn sie war es, die die kaum leserlichen Handschriften ihres Bruders, der wegen seiner revolutionären Flugschrift „Der Hessische Landbote“ steckbrieflich gesucht und ins Exil geflüchtet war, nach dessen frühem Tod transkribierte und sich mit ihren jüngeren Brüdern für deren Veröffentlichung einsetzte.

Über das Leben Luise Büchners

Mit der Episode, in der die junge Luise das Konvolut mit den Manuskripten ihres Bruders erhält, beginnt der Roman. Über den rebellischen Georg spricht die Familie Büchner zu der Zeit nur noch hinter vorgehaltener Hand. Welker-Sturm erzählt das Leben Luises bis zu ihrem Tod mit 56 Jahren einfühlsam und ruhig, in präziser, schnörkelloser Sprache.

Wie unter einem Brennglas legt sie offen, unter welchen Zwängen eine Frau im 19. Jahrhundert leben musste. „Sie wurde ständig behindert“, verdeutlicht Welker-Sturm. Luise durfte ihrem Wunsch zu schreiben nicht folgen. Ihr bekanntestes Werk, „Die Frauen und ihr Beruf“, in dem sie sich für eine bessere Bildung für Mädchen einsetzte, musste sie zunächst anonym veröffentlichen. Sie konnte ihre Stimme nicht erheben – darauf spielt der Buchtitel „aus der stimmhaft“ an.

Es ist Welker-Sturms erster Roman. Sie veröffentlichte bislang vorwiegend Lyrik. In vielen Texten behandelt die Autorin, die sich als „Wortstellerin“ bezeichnet, Sprache und Frauenrechte. Sie arbeitete fast acht Jahre an dem Buch. Sie recherchierte im Stadtarchiv und in der Luise-Büchner-Bibliothek im Literaturhaus. Die Titelliste der Werke, die sie wälzte, füllt unzählige Seiten. „Ich kaufte mehrere Kisten antiquarischer Bücher über die damalige Zeit. Ich suchte Dinge, die meine

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