SILVERSTEIN
für Shane Told auch Lektionen für die Zukunft bereit: „In manche dieser Fallen würde ich wahrscheinlich auch heute noch tappen. Was damals passiert ist, erinnert mich daran, welche Situationen ich auch jetzt besser vermeiden sollte. Letztendlich war es eine wirklich positive Erfahrung, noch einmal nachverfolgen zu können, wie ich mit diesen Fehlern gerungen und sie – auch durch dieses Album – überwunden habe“, sagt er und sinniert: „Das war fast wie eine Unterhaltung mit meinem alten Selbst.“ Diesem alten Ich konnte Told zwar keine Ratschläge mehr mit auf den Weg geben, umso mehr begeistert ihn, wie zeitlos seine Konflikte sind. „Ich finde es toll, von Fans zu hören, dass manche dieser Songs sie durch eine schwere Zeit gebracht haben. Egal, wer wir sind oder wo wir herkommen, wir gehen alle durch ähnliche Phasen, Konflikte, Probleme. Da steht ein kanadischer Kerl auf der Bühne, der mal ein paar Texte geschrieben hat – und ein kleines Mädel in Deutschland findet sich zehn Jahre später darin wieder. Auch wenn ich mich nicht mehr mit allen meiner Texte identifizieren kann, bin ich froh, mich sehr früh entschieden zu haben, so persönlich und offen wie möglich zu sein und mich nicht selbst zu zensieren.“ Es sind auch solche Erfahrungen, die Told heute Selbstbewusstsein geben. „Dass die Jubiläumstour so gut lief, hat ‚Discovering The Waterfront‘ und damit unseren Status in diesem Genre und seiner Geschichte noch einmal zementiert. Mich ermutigt es persönlich wie professionell sehr, dass wir damals unseren Beitrag geleistet haben und jetzt trotzdem noch aktiv sind – auch wenn ich nicht genau weiß, was bei anderen Bands schief lief und bei uns nicht. Jedenfalls haben mir über die Jahre immer wieder irgendwelche Leute erzählt, dass unsere Art von Musik niemand mehr macht – wegen denen freue ich mich umso mehr, dass wir die Vergangenheit feiern können und gleichzeitig gen Zukunft ziehen.“
Foto: Robin Schmiedebach (robinschmiedebach.com)
ZEIT UND RAUM. Screamo scheint schon lange tot zu sein. Seine populärsten Zeiten haben viele Bands nicht überlebt, seine markantesten Stimmen machen inzwischen Dubstep. Die Schreihälse sind heute andere und die Haare sind wieder kürzer. SILVERSTEIN allerdings sind immer noch da.
E
inst waren sie Pioniere des Genres, jetzt sind sie seine Veteranen: Auf den Shows in diesem Frühjahr stellen die Kanadier ihr achtes Album „I Am Alive In Everything I Touch“ vor; gleichzeitig feiern sie aber auch das Jubiläum ihres Klassikers „Discovering The Waterfront“. Für Sänger Shane Told kamen in den letzten Monaten daher Vergangenheit und Zukunft zusammen – alte Ichs, alte Fehler, neue Sichtweisen und Erkenntnisse. Er weiß jetzt, wie das so ist, seine eigenen Texte zu googeln – und was er mit kleinen Mädchen gemeinsam hat. Vor zehn Jahren sah die Welt noch ziemlich anders aus, zumindest im damals explodierenden EmocoreKosmos: Schwarze Shirts in Small, dunkelbunt karierte Vans, Glätteisen im Anschlag, Mascara auf dem Lidschlag. Ihre Shirts zierten damals vermutlich so einige Webcam-Porträts voller schwarzer Strähnen und silberner Snakebites; ihre Songs schallten sicher von so einigen, dank kopierter HTML-Codes knallbunten MySpace-Profilen: SILVERSTEIN. Die Kanadier trafen mit Songs wie „Smile in your sleep“ oder „My heroine“ 2005 den Rasierklingen-gefährdeten Puls ihrer Zeit und mitten in die verletzlichen Herzen zahlloser Teenies. Diese Teenies genauso wie ihre Idole sind mittlerweile ein ganzes Stück älter geworden. Auch Shane Told erkennt sich in seinen Texten zu „Discovering The Waterfront“ kaum
Vergangenheit und Zukunft halten auch „I Am Alive In Everything I Touch“ zusammen. Album Nummer acht beginnt und endet mit „Toronto“ als Rahmen, dazwischen steht eine Reise. Nach eher abstrakten Erzählungen auf den letzten beiden Veröffentlichungen wird es außerdem wieder entschieden persönlicher. „Auf dem neuen Album beschäftige ich mich und mit mir und den letzten fünfzehn Jahren in dieser Band. Das soll jetzt nicht wie ein Tourtagebuch klingen, aber jeder der Songs bezieht auf eine andere Stadt. In Atlanta zum Beispiel haben wir schon so oft im immer gleichen Club gespielt. Auf dem Parkplatz vor diesem Club hatte ich meine glücklichsten Momente und war aber auch schon völlig am Boden zerstört. Ich war dort in sämtlichen Lagen und Gefühlszuständen, in denen ein Mensch so sein kann.“ Eine Art Zeitraffer fürs eigene Ich also, und in der Heimatstadt schließt sich der Kreis: „Ich stehe am Ende wieder genau da, wo ich angefangen habe – und trotzdem ist vieles anders. Dann frage ich mich: Habe ich mich verändert oder die Leute um mich herum? Bin ich noch derselbe und sollte ich das überhaupt sein? Und letztendlich: Bin ich jetzt glücklicher?“
wieder. „Es ist echt verrückt, über welche Dinge ich mir so den Kopf zerbrochen habe“, blickt der SILVERSTEINFrontmann amüsiert wie nachdenklich zurück. „Es fühlt sich fast an, als war das gar nicht ich – aber ich habe Beweise!“ Diese Beweise musste sich Told teilweise auch erst einmal im Internet zusammensuchen, als sich die Band entschied, „Discovering The Waterfront“ zum zehnten Geburtstag komplett live aufzuführen. Klar hatten die alten Stücke auch ihre gesangstechnischen Tücken, aber am meisten beschäftigte den Sänger eben Auf die letzte Frage hat Told doch ihr Inhalt: „Als ich mich natürlich keine definitive AntHABE ICH MICH da durch irgendwelche Lyricswort, wieso würde er sonst auch Pages geklickt habe, hat mich in einer Screamo-Band sein. VERÄNDERT ODER DIE das sofort zehn Jahre zurückFür ihn ist das aber auch gar LEUTE UM MICH HERUM? nicht mehr entscheidend: „Ich geworfen: um welche Situation ging es in einem Song genau, würde sagen, dass die meisten wo habe ich ihn geschrievon uns sich immer irgendwo ben und wie habe ich mich dabei gefühlt, warum entzwischen den Extremen befinden. Und ich glaube auch, schied ich mich für ein bestimmtes Wort und nicht für dass es in gewisser Weise sogar wichtig ist, immer ein ein anderes ...? Das war schon komisch, wieder in diesen bisschen in der Schwebe zu sein.“ Der Weg ist also das dunklen Ecken meines Lebens herumzukramen.“ Ziel, und Prozesse brauchen Zeit. Eine gewisse Balance scheint Shane Told in dieser Erkenntnis gefunden zu So wie dem SILVERSTEIN-Sänger geht es wohl den haben, auch wenn die wichtigen Fragen nicht geklärt meisten, wenn sie mit einer seltsamen Mischung aus sind – weder für große kanadische Kerle noch für kleine Distanz und Intimität auf alte Tagebücher oder Fotoaldeutsche Mädels. ben stoßen. Doch die Fehler der Vergangenheit halten Enno Küker
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