Romeo und Julia

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choreografischen Ausnahmefall prädestiniert. Denn wer immer diese Geschich­ te auf dem Tanztheater erzählt, muss einen hierarchisch gegliederten Kosmos ausmalen und dessen verschlungene Beziehungsnetze nachzeichnen: Amme und Pater, Bedienstete und Herrschaften, Eltern und Kinder, Liebende und Hassende, Freunde und Feinde, Markttrubel und galantes Fest – Romeo und Julia ist nicht zuletzt ein vollständiger Welt-Entwurf, eine Ikonografie der un­ terschiedlichsten Charaktere, Gesinnungen und Ideen, die kein schales Ausweichen auf die vertraute Nomenklatur des Balletts «ROMEO UND JULIA» IST zulässt. Alles, was das Leben ausmacht, strömt hier zusammen EIN VOLLSTÄNDIGER und sorgt für szenische Vielfalt: Auf das Schaulaufen der Vero­ WELT-ENTWURF, DER KEIN ne­ser Würdenträger und ihrer Lakaien folgen geheime Rendez­ SCHALES AUSWEICHEN AUF DIE VERTRAUTE NOMEN­ vous, Hochzeit, Verbrechen und schliesslich die Verzweiflungs­ taten der Liebenden in der Grabesgruft. So gehen die klassisch KLATUR DES BALLETTS geprägten Formate – Entrée des corps de ballet, pas de deux und ZULÄSST. Solo – ganz in der Erzählung auf: im Menschenauftrieb der Massenspektakel, im Tête-à-Tête der Liebenden und eben dort, wo eine Seele der Vernichtung entgegen taumelt. Dieser Reichtum an äusseren wie inneren Spielräumen birgt die Herausforderung, aber auch die enorme Anziehung, die Romeo und Julia seit mehr als siebzig Jahren auf Tanzschöpfer ausübt. Bleibt die Frage, ob deren tanzalphabetische Übersetzungen nicht doch ein Sakrileg sind, ja womöglich ein Stück Weltliteratur beschädigen. Was liesse sich, prosaisch betrachtet, überhaupt als Mehrwert veranschlagen, den der be­ weg­te Körper dem Duktus des Dramas hinzuzusetzen vermag? Bei Romeo und Julia führt die Antwort unmittelbar zum Urmotiv des Geschehens. Hier ringen Begehren, Wollust und Sehnsucht nach ekstatischer Verschmelzung gegen das, worauf Erziehung hinaus will: den Sieg des Logos über die Libido, des rationa­ len Arrangements über den Affekt. Vielleicht ist der Tanz, der den Körper als Artefakt behandelt und dessen Natur doch niemals gänzlich ausstreichen kann, <die Kunst, die Romeo und Julia am genauesten porträtiert – weil ihr das Para­ dox der Zerrissenheit zwischen Geist und Fleisch, Gesetz und Anarchie selbst innewohnt. Strittig wird wohl auf alle Zeit bleiben, wer die Flucht der Liebenden in den Tod heraufbeschwört. Überzeugte Romantiker werden die Schuld der widrigen

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