OpernSaisonal 2017/18

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Adiós Nonino Man hatte mich vor meinem ersten Interview mit Piazzolla gewarnt. Er sei sehr streng, habe ein aufbrausendes Temperament und hasse Interviews. Ich war nervös, als ich an die Zimmertür seines Hotels klopfte. Als er öffnete, und ich zum ersten Mal sah, wie er lächelte, war die Angst weg. Astor Piazzolla machte den Eindruck, als sei er gerade aufgestanden und schon hellwach. Notenblätter lagen ausgebreitet auf einem Tisch, in einer Ecke das Bandoneon in einem geöffneten Koffer. Wir sprachen von der schweren Operation, die er wenige Wochen vorher in Buenos Aires überstanden hatte. Wir schwärmten von der Kunst der südamerikanischen Ärzte. Piazzolla hatte wieder Lust aufs Leben bekommen. In Mar del Plata, südlich von Buenos Aires, war er 1921 als Sohn italienischer Einwanderer zur Welt gekommen. Er wuchs auf in New York, wo er von 1924 bis 1936 lebte. „New York ist ein ganz wichtiger Teil meines Lebens gewesen. Insgesamt verbrachte ich dort siebzehn Jahre meiner Kindheit und Jugend. Musikalisch hat mich die Stadt sehr stark geprägt. Mit zwölf ging ich mit meinen Freunden immer nach Harlem. Cab Calloway hörte ich draußen von der Tür aus, weil ich noch zu jung war, um im ‚Cotton-Club’ einen Sitzplatz zu bekommen. Ellington, Gershwin und Benny Goodmans Musik empfing ich ständig im Radio. Alle diese Einflüsse wären nie in meine Musik geraten, wenn ich in Argentinien geblieben wäre.“ Tangos hörte Astor nur zu Hause bei seinen Eltern. Der Vater hatte eine Sammlung von fünfzig oder sechzig alten Schellackplatten aus Argentinien mit nach New York gebracht. „Jeden Abend hörte er sich einige dieser Platten an, und manchmal weinte er dabei. Ich war ein kleiner Junge und wusste nicht, was los war. Ich fragte: ,Warum weinst du, Vater?’ Und er antwortete: ‚Weil das eben meine Musik ist, sie kommt aus meinem Land, ich liebe sie. Du musst sie hören!’ Er wollte, dass ich Tangos lernte. Aber ich wollte Bach spielen, so wie der klassische Pianist, der immer in unserer Nachbarschaft übte.“ Astor Piazzolla fand hier die Quellen für seine Musik: Bach, Jazz, Tangos … Er wurde zum Revolutionär des Nuevo Tango und des Bandoneons. Mit neun Jahren beherrschte Astor Piazzolla das komplizierte Instrument und galt als Wunderkind. X|X

Astor Piazzolla mit dem Instrument, das „María de Buenos Aires“ einen ganz besonderen Klang verleiht: das Bandoneon.

Piazzolla befreite den Tango von seinen Klischees als Modewelle der zwanziger Jahre, er führte raffinierte rhythmische Akzente und harmonische Wechsel ein, arbeitete mit Kontrapunktik, schrieb Fugen, Opern und Symphonien. Den 142 Tönen des Bandoneons, die aus 15 silberbeschlagenen Gelenkrippen mit einer Tastatur von 71 Knöpfen erzeugt werden, entlockte er wie ein Besessener immer neue Klangkombinationen. Wie Ellington war er ein brillanter Melodiker und Geschichtenerzähler, der unbeirrbar seinem Instinkt folgte. Seine Innovationen wurden von den Puristen heiß diskutiert, im Alleingang veränderte er diese Musik und trieb ihre Entwicklung fünfzig Jahre lang voran. Das ganze „Tango-Revival“ geht praktisch auf ihn zurück. Die berühmte Session 1974 mit Gerry Mulligan in Mailand bildete einen Höhepunkt seiner Karriere. Seine Aufnahmen mit dem Produzenten Kip Hanrahan Ende der achtziger Jahre gehören zu seinen bewegendsten überhaupt. Am 5. Juli 1992 ist Astor Piazzolla nach langer schwerer Krankheit in einer Klinik in Buenos Aires gestorben – der größte Tanguero dieses Jahrhunderts auf dem Bandoneon.

Karl Lippegaus, aus: Die Zeit, 10. Juli 1992

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