Hausarbeit VWL - Alternativer Wohlstandsindex

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AUS- UND FORTBILDUNGSINSTITUT DES LANDES SACHSEN-ANHALT Volkswirtschaftslehre Dozent: Eckkard Stein

Hausarbeit

Das Bruttoinlandsprodukt und die Diskussion über einen alternativen Wohlstandsindex – –

vorgelegt von: Student:

Oliver Lindner

Studiengang:

Beschäftigtenlehrgang II

Geburtsdatum: Adresse: Telefon-Nr.: E-Mail: Blankenburg, den 13. Oktober 2013


Inhalt 1 DAS BRUTTOINLANDSPRODUKT................................................................... 1 1.1 1.2 1.3 1.4

EINLEITUNG UND DIE HISTORISCHE ENTWICKLUNG .............................................................1 DIE BERECHNUNG DES BRUTTOINLANDSPRODUKTS ..............................................................2 DIE VOLKSWIRTSCHAFTLICHE UND POLITISCHE BEDEUTUNG..................................................3 AUSGEWÄHLTE DATEN UND ENTWICKLUNGEN (NATIONAL UND INTERNATIONAL)..................5

2 DIE KRITIK AM BRUTTOINLANDSPRODUKT.............................................8 3 DIE DISKUSSIONEN ÜBER EINE REFORM DES BIPS..............................10 3.1 VORSCHLAG DER EU-KOMMISSION 2009 .........................................................................10 3.2 FRANZÖSISCHE REGIERUNGSKOMMISSION – STIGLITZ-SEN-FITOUSSI 2009..........................11 3.3 ENQUETE-KOMMISSION „WACHSTUM, WOHLSTAND, LEBENSQUALITÄT “ DES DEUTSCHEN BUNDESTAGES 2013.........................................................................................................13

4 ZUSAMMENFASSUNG.......................................................................................16 5 LITERATURVERZEICHNIS..............................................................................17

ii


Verzeichnis der Abkürzungen HA

Hausarbeit

BIP

Bruttoinlandsprodukt

G20

G20 als Abkürzung für Gruppe der 20 steht für: Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer

OECD

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (englisch: Organisation for Economic Co-operation and Development)

VGR

Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung

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1. Das Bruttoinlandsprodukt

1 Das Bruttoinlandsprodukt 1.1

Einleitung und die historische Entwicklung

Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung verfolgt das Ziel, das Wirtschaftsgeschehen einer Volkswirtschaft für einen zurückliegenden und daher abgeschlossenen Zeitraum quantitativ möglichst umfassend zu beschreiben 1. Den zentralen Schwerpunkt der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) bildet die Entstehung, Verteilung und Verwendung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und des Bruttonationaleinkommens (BNE). Eingeführt wurde das Bruttoinlandsprodukt in den USA nach der großen Depression Ende der 1920er Jahre. Damals löste der Zusammenbruch der Börsen am sogenannten „Schwarzen Freitag“, am 25. Oktober 1929, die Weltwirtschaftskrise aus. Das BIP entstand, weil man nach einem Instrument suchte, das die wirtschaftliche Entwicklung messen kann. Das BIP als wichtigstes Element der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erlebt im Zweiten Weltkrieg seine nächste Bewährungsprobe, als es darum ging, die Stärke der Kriegswirtschaft öffentlich mit harten Zahlen zu belegen: Beispielsweise wie viele Panzer, wie viele Flugzeuge und Kriegshilfe produziert wurden. In den USA nutze Präsident Theodor Roosevelt das BIP zur Entwicklung einer Art Kriegswirtschaft, um Arbeitsplätze zu schaffen und Umsätze zu erhöhen 2. Der Aufstieg des BIP folgt später im Kalten Krieg, als das BIP zum Instrument eines neuen Systemwettkampfes zwischen Ost und West wurde und die Überlegenheit der kapitalistischen Wirtschaftsweise demonstriert wurde. So ließ sich mithilfe des BIP auch der Wiederaufschwung in Westdeutschland sehr gut messen, was den gerade zu legendären Ruf des "Wirtschaftswunders" mit begründete. Heute bildet das BIP die zentrale Messeinheit zur internationalen Bewertung der nationalen Volkswirtschaften.

1 2

Frenkel/John (2003), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, S. 5 Vgl. Samuelson (1964), Volkswirtschaftslehre Band 1, S. 248 ff.

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1. Das Bruttoinlandsprodukt In jüngerer Zeit wächst die Kritik am BIP, weil es nur die Produktionsleistung, nicht den realen Wohlstand einer Volkswirtschaft widerspiegelt. Diese Hausarbeit beschreibt das ökonomische Modell des Bruttoinlandsprodukts und setzt sich im zweiten Teil mit der Kritik und den Alternativen des Wohlstandsindexes auseinander.

1.2

Die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts

Zunächst müssen die unterschiedlichen Begrifflichkeiten geklärt werden. Ausgangspunkt ist die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR). Zentraler Begriff der VGR ist das Bruttonationaleinkommen (BNE), bis 1999 auch Bruttosozialprodukt (BSP). Es misst den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die in einer Periode mithilfe von Produktionsfaktoren hergestellt werden, die sich im Besitz von Inländern befinden. Inländer sind die Personen, die im betrachteten Staat leben. Folglich kann man sich das Bruttonationaleinkommen (BNE) als den gesamten Wert der laufenden Produktion vorstellen, die Inländer erbracht haben. Damit stellt es eine wichtige Kennzahl der VGR dar. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist das Maß der Gesamtleistung einer Volkswirtschaft. Es bildet sich aus dem Marktwert aller Endprodukte und Dienstleistungen, die ein Land innerhalb eines Jahres produziert oder bereitstellt. Dabei wird zwischen dem realen und dem nominalen BIP unterschieden. Das nominale BIP wird nach den tatsächlichen Marktpreisen errechnet. Dadurch ist das BIP abhängig von Veränderungen des Preisindex der betrachteten Volkswirtschaft. Das nominale BIP steigt bei Inflation und daraus folgenden steigenden Marktpreisen. Umgekehrt sinkt das nominale BIP bei Deflation und daraus folgenden sinkenden Marktpreisen. Das reale BIP lässt sich anhand konstanter oder nicht variabler Preise errechnen (dabei werden beispielsweise die Anzahl der produzierten Autos mit den Autopreisen des Jahres 2000 multipliziert)3.Um das BIP unabhängig von Veränderungen der Preise be3

Vgl. Samuelson u.a. Volkswirtschaftslehre, S. 582

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1. Das Bruttoinlandsprodukt trachten zu können, verwendet man das reale BIP (anhand konstanter Preise), in dem alle Waren und Dienstleistungen zu den Preisen eines Basisjahres bewertet werden. Das reale BIP ist demnach der entscheidende Gradmesser, um den aktuellen Zustand einer Volkswirtschaft zahlenmäßig beurteilen zu können. Nun lässt sich das BIP auf drei verschiedenen Rechenwegen ermitteln 4. a) Der Entstehungsrechnung: Es werden vom Produktionswert alle Vorleistungen (die im Produktionsprozess verbraucht oder gebraucht wurden) abgezogen. Von dieser Bruttowertschöpfung werden nun noch die sog. Gütersteuern und Subventionen abgezogen. Das Ergebnis ist das Bruttoinlandsprodukt. b) Der Verwendungsrechnung: Auf den selben Wert kommt man, in dem man die Bruttoinvestitionen mit den privaten Konsumausgaben, den Konsumausgaben des Staates und den Außenbeitrag (Exporte minus Importe) addiert. c) Die Verteilungsrechnung: Mithilfe der Verteilungsrechnung kommt man zum BIP, in dem das Bruttonationaleinkommen (zu Marktpreisen) abzüglich dem Saldo der Primäreinkommen aus der übrigen Welt errechnet. Diese wird in Deutschland nicht angewandt, weil keine ausreichenden Angaben über die Unternehmensgewinne vorliegen. Die Methoden zur Erhebung der Daten und Berechnung des BIPs werden in unregelmäßigen Abständen verändert. So werden seit der letzten Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung vom 28. April 2005 beispielsweise die bis dahin nicht erfassten indirekten Entgelte der Banken aus dem Kredit- und Einlagengeschäft berücksichtigt. Um den historischen Vergleich zu gewährleisten, werden die Daten für die vergangenen Jahre entsprechend angepasst5. Berechnet wird das BIP in Deutschland vom Statistischen Bundesamt. Das Statistische Bundesamt legt jedes Jahr zweimal Berechnungen für das jährliche BIP des Vorjahres vor, im Frühjahr (etwa März/April) und im Herbst (etwa August/September). Zum Herbst werden nicht nur die Zahlen für das Vorjahr, sondern auch die für die früheren 4 5

Vgl. Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/BIP#Arten_der_Berechnung) Ebd.

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1. Das Bruttoinlandsprodukt Jahre einer Prüfung unterzogen und in der Regel etwas revidiert. Für den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung im Januar liefert das Statistische Bundesamt ebenfalls Zahlen. Im Januar für das gerade beendete Jahr, die dann natürlich noch teilweise auf Schätzungen beruhen. Ansonsten legt das Statistische Bundesamt für die einzelnen Vierteljahre Zahlen zum BIP und seinen Aggregaten vor.

1.3

Die volkswirtschaftliche und politische Bedeutung

Das Wirtschaftswachstum, gemessen als Veränderungsrate des Bruttoinlandsproduktes, wird gemeinhin von der Politik als Erfolgskriterium benutzt. Alle Sozialproduktvergleiche sind aber letzten Endes nichts anderes als Vergleiche zweier unter Befolgung bestimmter Regeln in Geld veranschlagter Güterkombinationen. Ein solches rein quantitatives Wachstum nimmt keine Rücksicht auf die umliegenden Umstände, wie die soziale und die natürliche Umwelt. Die Zahlen belegen nur eine erhöhte Nachfrage und eine nur aus diesem Grunde erhöhte Beschäftigungsanregung. Nachhaltige Prinzipien werden bei dieser mathematischen Betrachtung der Volkswirtschaft ausgeblendet. Auch ist über eine Verteilung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes wenig gesagt.

Abbildung 1: (Quelle: Samuelson u.a. Volkswirtschaftslehre, S. 582)

Abbildung 1 (Quelle: Samuelson u.a. Volkswirtschaftslehre, S. 582)

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1. Das Bruttoinlandsprodukt

In der Abbildung 1 ist die Entwicklung des BIP der US-amerikanischen Volkswirtschaft seit 1929 abzulesen. Zu erkennen dort ist deutlich die Große Depression in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts und der Aufschwung während des zweiten Weltkrieges. Zu erkennen sind weiterhin die Rezessionen der Jahre 1975 und 1982 und das schnelle Wachstum nach 1982. Trotz kurzfristiger Schwankungen von Konjunkturzyklen ist ein eindeutiger Aufwärtstrend, also ein Wachstum des realen BIPs zu sehen. Dieser Prozess wird als Wirtschaftswachstum bezeichnet. Das potenzielle BIP schließlich stellt das höchst mögliche Produktionsniveau einer Volkswirtschaft dar. Dieses erlangt eine Volkswirtschaft nur dadurch, dass sie alle Produktionsfaktoren optimal und weitestgehend nutzt. Das potenzielle BIP wächst stetig, weil sich die Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Technologisierung nur langsam verändern. Das tatsächliche BIP hängt dabei von kurz- oder mittelfristigen Konjunkturzyklen ab. Rechnerisch kann eine Volkswirtschaft einen höheren potenziellen BIP haben, während das tatsächliche BIP während einer Konjunkturflaute darunter liegt. Das Bruttoinlandsprodukt ist derzeit also noch der wirtschaftspolitische Gradmesser der Volkswirtschaften. So ist in einem Artikel der Zeit aus dem Jahr 2011 zu lesen: „Es ist der zentrale Ansatzpunkt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und um die überbordende Staatsverschuldung endlich in den Griff zu bekommen. »Wachstum zu schaffen, das ist das Ziel unserer Regierung«, meinte Angela Merkel in ihrer Antrittsrede als Bundeskanzlerin im 17. Deutschen Bundestag. Und der DGB-Vorsitzende Michael Sommer forderte anlässlich des Gipfels in Toronto im Juni 2010 die Regierungschefs der G-20-Staaten auf, »auch weiterhin Anreize für Wachstum und Beschäftigung zu geben«. Der Generationenvertrag der Bundesrepublik baut auf die staatliche Gewährleistung eines vielleicht schwankenden, aber kontinuierlich steigenden Bruttoinlandsproduktes.“6

1.4

Ausgewählte Daten und Entwicklungen (National und International)

Um einen Überblick über die Wirtschaftskraft verschiedener Länder und Dekaden zu bekommen, folgen an dieser Stelle einige Grafiken. 6

vgl. http://www.zeit.de/2011/08/Debatte-Wachstum-Wohlstand/komplettansicht

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1. Das Bruttoinlandsprodukt

a) Die Entwicklung des BIP in der Welt und den OECD-Staaten 1961-2009

Abbildung 2: Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftswachstum

In Abbildung 2 lässt sich der konjunkturelle Absturz während der Finanzkrise 2008/2009 gut ablesen. b) Reales BIP-Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland 1951–2004

Abbildung 3: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:BIPBRD5004.svg

Das BIP-Wachstum ist in der Bundesrepublik Deutschland über die Jahre gefallen. 6


1. Das Bruttoinlandsprodukt Das Wachstum wurde spätestens mit der Ölkrise 1972 gebremst und hat 1975 sogar zu einem deutlichen „Minus-Wachstum“, also zu einer deutlichen wirtschaftlichen Schrumpfung geführt. In dieser Zeit erschien auch der noch heute diskutierte Bericht an den Club of Rome „Vom Ende des Wachstums“. In Deutschland kam es bedingt durch die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten in den 1990er Jahren zu einem starken Wachstum, welches jedoch schnell wieder abflachte. Seither sind deutlich niedrige Wachstumsraten von im Schnitt unter drei Prozent „normal“ geworden. Entwickelte Volkswirtschaften nehmen nach einigen Dekaden einen solchen Verlauf, weil hohe Wachstumsraten nur in einem „Aufholprozess“ zu erzielen sind. Bei einer allgemeinen Sättigung der Nachfrage sind geringe Wachstumsraten zu verzeichnen. c) Das Wirtschaftswachstum in den Bundesländern 1991 bis 2012

In den Jahren nach der deutschen Einigung hatten die Menschen in der Bundesrepublik enorme wirtschaftliche und soziale Herausforderungen zu bestehen. Nach dem Boom der Jahre 1990/91 schienen die Wachstumskräfte lange Zeit wie gelähmt. Erst ab 2006 kam eine kräftigere Aufwärtsbewegung in Gang, die durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 allerdings bereits wieder unterbrochen wurde. Betrachtet man die wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Bundesländer, fällt die Bilanz sehr unterschiedlich aus. Für die ostdeutschen Flächenländer markierte das 7


1. Das Bruttoinlandsprodukt Jahr 1991 den Tiefpunkt nach dem Zusammenbruch der DDR-Planwirtschaft. Davon ausgehend, verzeichneten sie bis Mitte der 1990er Jahre einen steilen Aufschwung, der zu einem großen Teil durch staatliche Transferleistungen angetrieben wurde. Von der Nulllinie des Jahres 1991 aus gesehen machten die ostdeutschen Länder dennoch einen großen Sprung nach vorn: Bis 2012 steigerten sie ihre reale Wirtschaftsleistung von 65% in Sachsen-Anhalt bis 94% in Thüringen. Im früheren Bundesgebiet ist Bayern das wachstumsstärkste Bundesland. Sein Bruttoinlandsprodukt stieg zwischen 1991 und 2012 real um 46%. Hamburg (+31%) und Baden-Württemberg (+30%) folgen in deutlichem Abstand. Das von Strukturproblemen geplagte Land Nordrhein-Westfalen produzierte 2012 22% mehr als 1991 und rangiert damit im unteren Drittel der Bundesländer. Schlusslicht im Ländervergleich ist der Stadtstaat Bremen (+15%), der zwar über eine relativ starke wirtschaftliche Basis verfügt, aber nur geringe Dynamik entwickelt. 7

2 Die Kritik am Bruttoinlandsprodukt Es klang bei der Beschreibung des Bruttoinlandsprodukts bereits an. Das BIP kann die wirtschaftliche Leistungskraft einer Volkswirtschaft gut bemessen. Es kann die ma teriellen Werte einer Gesellschaft summieren und ein Vergleichsmaßstab zu anderen Volkswirtschaften schaffen. Vor der „Großen Depression“ von 1929 gab es diese Messgröße nicht und die Regierungen hatten keinen messbaren Überblick über den Umfang der wirtschaftlichen Aktivitäten in ihrem Land. Seitdem sind wirtschaftliche Theorien besser zu verstehen und wirtschaftspolitische Maßnahmen können zumindest in ihrem Ansatz besser abgeschätzt werden. Etliche Aussagen, die für eine Beurteilung einer Volkswirtschaft nötig wären, liefert das BIP natürlich nicht. Vom BIP wird also oft etwas verlangt, was es einfach nicht leisten kann. Es gibt keine einfache Summe oder Prozentzahl, die auch qualitative Aussagen oder politische Wertungen beinhaltet. Die Kritik am BIP ist zunächst auch eine Kritik an denjenigen, die das gemessene Wirtschaftswachstum zum alleinigen Mantra der eigenen Politik verwenden. In der Wissenschaft ist nicht geklärt, ob und wie viel Wirtschaftswachstum es für die positive Entwicklung einer Gesellschaft bedarf. Das ist immer auch abhängig vom jeweiligen 7

Genaue Zahlen aus: http://www.vgrdl.de/Arbeitskreis_VGR/tbls/tab.asp?lang=de-DE&tbl=tab01

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2. Die Kritik am Bruttoinlandsprodukt Ausgangspunkt. Und: Soll der Wohlstand nur erhalten bleiben oder soll der Wohlstand gemehrt werden? Wie ist eine Wohlstandsmehrung unter demographischen Problemen wie in Deutschland überhaupt möglich? Es gibt aber auch Kritik am Berechnungsmodell des BIPs selbst. Amartya Sen, verdeutlichte dies im Jahr 1998 an einem simplen Beispiel: Ein Verkehrsstau steigert das Bruttoinlandsprodukt, weil deswegen mehr Sprit verbraucht und daher verkauft wird. Aber die im Stau Stehenden werden das kaum als Wohlfahrtsgewinn empfinden, die Auspuffabgase schädigen zudem unseren Lebensraum, und ein endlicher Rohstoff wird nutzlos verbraucht8. Gleiches gilt für ein Verkehrsunfall. Dieser steigert das BIP, weil Rettungsdienst, Krankenhausdienstleistung, Bergungsdienstleistung, Verschrottung des Autos etc. sowie ein möglicher Neuwagenkauf das BIP zum Wachsen bringt. Die Unfallbeteiligten werden diesen Unfall sicher nicht als Steigerung der eigenen Wohlfahrt ansehen. Auch die Havarie eines Öltankers vor einer Küste führt zur Steigerung des BIPs. Die Schäden für die Umwelt und die horrenden gesellschaftlichen Kosten werden aus Sicht des BIPs ausschließlich positiv betrachtet. Das Bruttoinlandsprodukt bildet insofern nicht das natürliche menschliche Daseinsprinzip ab, das Leben so zu gestalten, dass man den eigenen Nachkommen nicht die Überlebenschancen nimmt. Mehr ist nicht unbedingt besser. Es finden sich noch mehr Facetten, die den dringenden Reformbedarf der Messung von Wachstum und gesellschaftlichem Fortschritt anzeigen. Zum Beispiel die nachlassende Aussagekraft eines statistischen Mittels bei zunehmender Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen und Vermögen oder die Bedeutung von Freizeit – es macht ja einen Unterschied, ob jemand für denselben Lebensstandard 1500 oder 2000 Stunden im Jahr arbeiten muss. „Der entscheidende Paradigmenwechsel steckt aber in der Betrachtung von Nachhaltigkeit statt Wachstum und von Wohlergehen statt Wirtschaft. Nettovolksbefinden statt Bruttoinlandsprodukt“ 9. 8 9

Die Zeit vom 20.02.2011 ebd. Ebd.

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2. Die Kritik am Bruttoinlandsprodukt

Im Grunde ist die Kritik am BIP und dessen Verwendung als dominante wirtschaftspolitische Messgröße eine Systemkritik am Kapitalismus. Die Mehrung des volkswirtschaftlichen Wohlstandes führt eben nicht zu mehr gesellschaftlichem Wohlergehen. Nach soziologischen Erhebungen hat sich die Zufriedenheit der Deutschen seit den 1970er Jahren nicht mehr vergrößert. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Mehrung der materiellen Dinge zur Mehrung von Glück und Zufriedenheit führen. Das kapitalistische Wirtschaftswachstum hat in den letzten zweihundert Jahre die Gesellschaft rasant verändert. Erschreckende Ausbeutung von Menschen und Umwelt sind gerade am Anfang von sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaften zu beobachten. Historisch betrachtet, wird diese Ungleichheit irgendwann nivelliert. So war das in Europa und in Nordamerika. Ob diese Erfahrungen jedoch in autokratischen Regierungssystemen, in Diktaturen auch Gültigkeit besitzen ist fraglich. Ein chinesischer Kapitalismus kann sich ganz anders entwickeln. Aber spätestens wenn alle Menschen auf diesem Planeten den Wohlstand erreicht haben, den sich die Europäer und Nordamerikaner seit Jahrzehnten leisten, werden wir merken, dass Wachstum und Wohlstand wie wir ihn messen, zum Ende unseres Planeten geführt haben. Schon auf den Weg dort hin wird es zu den entscheidenden Verteilungskämpfen geben. Allein die Spannungsverhältnisse und existenziellen Fragen unseres Wirtschaftens und Lebens, stellen das BIP als einzige volkswirtschaftliche Messgröße in Frage.

3 Die Diskussionen über eine Reform des BIPs 3.1

Vorschlag der EU-Kommission 2009

Auf europäischer Ebene fand bereits im November 2007 eine erste hochrangige Expertensitzung statt, um über die Grenzen der Aussagefähigkeit des Bruttoinlandsprodukts zu beraten und über ergänzende Kenngrößen zu diskutieren. Nach weiteren Beratungen veröffentlichte die EU-Kommission im August 2009 eine Mitteilung mit dem Titel „Das BIP und mehr - Die Messung des Fortschritts in einer Welt im Wandel“. In 10


3. Die Diskussionen über eine Reform des BIPs der Mitteilung heißt es: „Allgemeines Ziel ist es, umfassendere Indikatoren zu entwickeln, die eine zuverlässigere Wissensgrundlage für eine bessere öffentliche Diskussion und eine sachgerechtere Entscheidungsfindung schaffen. Die Kommission möchte (…) Indikatoren erarbeiten, die international anerkannt und angewandt werden.“10 In dieser Mitteilung wird die Bedeutung des Bruttoinlandsprodukts als bewährtem Wirtschaftsindikator hervorgehoben. Gleichzeitig wird moniert, dass das Bruttoinlandsprodukt häufig als genereller Indikator für den gesellschaftlichen Fortschritt verwendet wird. Für Fragen zum gesellschaftlichen Fortschritt und zur Nachhaltigkeit werden aber vielmehr ergänzende Indikatoren benötigt. Bei der Mitteilung der Europäischen Kommission handelt es sich um ein Verwaltungsdokument, das Maßnahmen enthält, die kurz- bis mittelfristig umgesetzt werden sollen. Fünf konkrete Maßnahmen werden in der Mitteilung beschrieben: a) Umfassender Umweltindex: Dieser Index soll die wichtigsten Bereiche der Umweltpolitik einbeziehen und deren Entwicklung in einer Kennzahl zusammenfassen. Abgedeckt werden sollen Klimawandel und Energieverbrauch, Natur und Artenvielfalt, Luftverschmutzung und Auswirkungen auf die Gesundheit, Wasserverbrauch und -verschmutzung sowie Abfallerzeugung und Ressourcenverbrauch. b) Aktuellere Informationen für die Entscheidungsfindung: Während Wirtschaftsstatistiken inzwischen einen hohen Aktualitätsgrad erreicht haben, liegen Umwelt- und Sozialdaten häufig erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung vor. Um die Entscheidungsgrundlagen zu verbessern, wird eine Erhöhung der Aktualität der Umweltüberwachung angestrebt, bei der auch neue Technologien, wie Satelliten oder automatische Messstationen, genutzt werden sollen. c) Genauere Daten über Verteilung und Ungleichheiten: Der soziale und wirtschaftliche Zusammenhalt sowie das Armutsrisiko der Bevölkerung sind wichtige Themen in der Europäischen Union. Bessere Daten zu Verteilungsfragen werden als Grundlage für die Analysen zu Armut, sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung benötigt. d) Nachhaltigkeitsanzeiger/-armaturenbrett: Geprüft werden soll die Möglichkeit, einen Anzeiger bzw. ein Armaturenbrett für nachhaltige Entwicklung in der Europäischen Union (EU) zu erstellen. Geplant ist, von den EU-Indikatoren für nachhaltige Entwicklung auszugehen und diese weiterzuentwickeln. 10

Mitteilung der EU-K vom 20.08.2009

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3. Die Diskussionen über eine Reform des BIPs e) Einbeziehen von ökologischen und sozialen Anliegen in die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen: Um ein konsistentes Datenset bereitstellen zu können, sollen die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen durch umweltökonomische Gesamtrechnungen ergänzt werden. Längerfristig sollen außerdem soziale Aspekte mit den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen verbunden werden.

3.2

Französische Regierungskommission – Stiglitz-Sen-Fitoussi 2009

Der Abschlussbericht der „internationalen Kommission zur Messung der wirtschaftlichen Leistung und des sozialen Fortschritts“, der sogenannten Stiglitz-Sen-FitoussiKommission, enthält Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen und der statistischen Berichterstattung. Der Bericht wurde der Öffentlichkeit am 14. September 2009 in der Pariser Sorbonne-Universität präsentiert, nach etwa anderthalbjähriger Beratungszeit. Mitglieder dieser Kommission waren 25 renommierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, darunter fünf Nobelpreisträger. Die Vorschläge beziehen sich auf die drei Themenbereiche Wirtschaftsindikatoren, Lebensqualität sowie Nachhaltigkeit/Umwelt11. Kritisiert wird von der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission die häufige Fokussierung auf das Bruttoinlandsprodukt als alleinige Kennzahl für die wirtschaftliche Entwicklung, obwohl das Bruttoinlandsprodukt auf die Messung der Produktion abzielt. Auch wenn das Bruttoinlandsprodukt ein weltweit verbreiteter Wirtschaftsindikator ist, der sich vor allem für die Konjunkturanalyse bewährt hat, sieht die StiglitzSen-Fitoussi-Kommission Bedarf an zusätzlichen Indikatoren, um den materiellen Wohlstand statistisch besser abzubilden. So ist zum Beispiel das Wachstum des BIP kein ausreichender Indikator, wenn zugleich die Ungleichheit zunimmt und ein wesentlicher Teil der Bevölkerung vom Wachstum nicht profitiert. Zur Aufbereitung der Themen hat die Kommission drei Arbeitsgruppen gebildet. Die Schwerpunkte waren: Fragen der klassischen Messung des Sozialprodukts, Lebensqualität und Nachhaltigkeit. Als Ergebnis ihrer Arbeit spricht die Kommission zwölf

11

Vgl. „ Stiglitz, Sen und “GDP and Beyond” in Wirtschaft und Statistik 7/2010

12


3. Die Diskussionen über eine Reform des BIPs grundsätzliche Empfehlungen aus. Einige wichtige Empfehlungen sollen hier wiedergegeben werden. Beim Messen des Wohlbefindens (well being) sollten anstelle der bisherigen Messung der Produktion, das Einkommen und der Konsum erfasst werden. Die Kommission betont, dass das Wohlbefinden (Well being) mehrdimensional zu bestimmen ist. Als Dimensionen, die nicht allein durch das Einkommen ausgedrückt werden können, nennt sie z.B. materiellen Lebensstandard (Einkommen, Konsum, Vermögen), Gesundheit, Bildung, persönliche Tätigkeiten einschließlich Arbeit, politische Stimme und Gouvernance, soziale Verbindungen und Beziehungen, Umwelt (gegenwärtige und künftige Bedingungen) und Unsicherheit (sowohl ökonomisch als auch physisch) 12. Die Lebensqualität hängt von den objektiven Bedingungen und den Verwirklichungschancen (capabilities) der Menschen ab. Es sollen Schritte unternommen werden, um die Kennziffern über Gesundheit, Erziehung, persönliche Aktivitäten und Umweltbedingungen der Menschen zu verbessern. Vor allem sollen sich nennenswerte Bemühungen darauf richten, robuste und zuverlässige Kennziffern für soziale Verbindungen, politische Stimmrechte und Unsicherheit, die Aussagen über die Lebenszufriedenheit ermöglichen, zu entwickeln und einzuführen 13. Die Bewertung der Nachhaltigkeit bedarf eines wohl identifizierten Armaturenbretts an Indikatoren. Das unterscheidende Merkmal der Komponenten dieses Armaturenbretts soll darin bestehen, dass sie als Abweichungen von einem bestehenden „Vorrat“ („stock“ = vorhandene Vermögenswerte) interpretiert werden können. Ein monetärer Index der Nachhaltigkeit hat seinen Platz in einem solchen Armaturenbrett, aber nach derzeitigem Stand der Aussagefähigkeit (state of the art) soll er im wesentlichen auf monetäre Aspekte der Nachhaltigkeit konzentriert bleiben 14. Das Messen und Bewerten der Nachhaltigkeit ist für die Kommission ein Aspekt mit herausragender Bedeutung. Dies ist aber aufgrund der Komplexität des Themas schwierig und wird noch stärker erschwert, weil zwischen den verschiedenen Ländern noch keine Einheitlichkeit zur Bestimmung der Nachhaltigkeit vorliegt.

12 13 14

Vgl. FFU Berlin „Synopse aktuell diskutierter Wohlfahrtsansätze und grüner Wachstumskonzepte“ 03/2012 Ebd. „Zur Wachstums- und Wohlstandsmessung, Wirtschaft und Statistik 07/2010

13


3. Die Diskussionen über eine Reform des BIPs Der Umweltgesichtspunkt der Nachhaltigkeit benötigt eine gesonderte Folgeuntersuchung, basierend auf einer wohl ausgewählten Anzahl physikalischer Indikatoren. Vor allem besteht Bedarf für einen klaren Indikator, der die Nähe zu gefährlichen Graden der Umweltbelastung (zum Beispiel Klimawandel oder Überfischung) beschreibt. Mehr Aufmerksamkeit auf die Einkommensverteilung, die Vermögensverteilung und die Verteilung von Konsum. Durchschnitts- oder Gesamtgrößen sind nicht ausreichend, die bestehenden Verhältnisse zu beurteilen. So kann ein durchschnittliches Wachstum des Einkommens ohne Wirkung bei einem Teil der Bevölkerung verbunden sein. Hierzu sind mehr Informationen über die Verhältnisse in den unteren und oberen Bereichen der Bevölkerung nötig.

3.3

Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages 2013

Auf Initiative von SPD und Bündnis 90 DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag wurde im Dezember 2010 die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“ eingesetzt. Im Mai 2013 erfolgte der Abschlussbericht (Deutscher Bundestag,

Drucksache

17/13300).

Enquete-Kommissionen

sind

„Findungskommissionen“, die gleichberechtigt von Mitgliedern des Deutschen Bundestages und von Sachverständigen besetzt sind. Sie erarbeiten Berichte zu komplexen und langfristigen Fragen und geben dem Bundestag Empfehlungen. Die zentrale Botschaft des Abschlussberichts der 17 Abgeordneten und 17 Wissenschaftler lautet: Die Politik soll sich nicht mehr allein an der Steigerung der Wirtschaftsleistung, sondern verstärkt auch an ökologischen Erfordernissen und der sozialen Balance ausrichten. Stützen soll sich ein solches Umdenken auf das von der Enquetekommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" entworfene "W3 Indikatoren"-Modell, das Lebensqualität nicht nur über das am Wachstum orientierte Bruttoinlandsprodukt (BIP) definiert und misst, sondern auch anhand der Kriterien "Ökologie" sowie "Soziales und Teilhabe". Das Gremium schlägt vor, dass sich Parlament und Regierung künftig regelmäßig mit der Entwicklung der auf diese Weise ermittelten Lebensqualität befassen15. 15

Vgl. Bundestags-Drucksache 17/13300

14


3. Die Diskussionen über eine Reform des BIPs Angesichts von Umweltzerstörungen, Finanzkrisen und Verteilungsungerechtigkeiten wollte die Kommission Wege hin zum nachhaltigen Wirtschaften weisen und deshalb das BIP als traditionelle Rechengröße für Wohlfahrt durch ökologische wie soziale Aspekte ergänzen. Das Gremium unter Vorsitz von Daniela Kolbe (SPD) zeigte sich zwar in der Problemanalyse weithin einig, etwa über Grenzen bei der ökologischen Belastbarkeit des Planeten oder über die vom Finanzsystem ausgehenden Gefahren. Umstritten waren hingegen des Öfteren die Konsequenzen aus diesen Betrachtungen, etwa Strategien zur Senkung des Ressourcenverbrauchs. Gleichwohl wurde der Bericht einstimmig verabschiedet. Grund: Die rund 1.000 Seiten enthalten nicht nur die von der Koalitionsmehrheit geprägten Passagen, sondern auch zahlreiche Sondervoten von Oppositionsfraktionen und einzelnen Parlamentariern, so dass sich alle Seiten in der Expertise wiederfinden können. Wichtigstes Ergebnis der über zweijährigen Arbeit ist das "W3"-Konzept, dessen Größen: "Materieller Wohlstand", "Soziales und Teilhabe" sowie "Ökologie" Auskunft geben sollen, wie es um die Wohlfahrt im Land steht. Aufgeschlüsselt werden diese drei Kriterien durch zehn "Leitindikatoren" wie etwa BIP, Einkommensverteilung, Beschäftigungsquote, Artenvielfalt oder Emissionen von Treibhausgasen sowie durch neun "Warnlampen" und eine "Hinweislampe" - wobei es sich bei Letzterer unter anderem um Arbeitsqualität oder Weiterbildung dreht. Die Politik soll eingreifen, sobald "W3" Alarm schlägt - wenn beispielsweise das Beschäftigungsniveau sinkt, der materielle Wohlstand abnimmt oder sich der Zustand der Umwelt wegen der Treibhausgase verschlechtert16. Der Bericht offenbart, dass auch weiterhin umstritten bleiben wird, welchen Stellenwert Wachstum konkret haben soll. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP bestehen auf einem positiven Verständnis von Wachstum: Dieses schaffe finanzielle und technisch-innovative Mittel, um Nachhaltigkeit zu fördern, Umwelt- und Finanzkrisen zu meistern oder Schuldenabbau, Sozialleistungen und Beschäftigung zu ermöglichen. Für die Opposition ist indes die Wachstumspolitik mitverantwortlich für ökologische und wirtschaftliche Krisen, weswegen eine "Neujustierung der sozialen Marktwirtschaft" mit einer aktiven Rolle des Staats nötig sei. Die Oppositionsparteien sahen in den hochentwickelten Industriegesellschaften das Ende der Periode eines hohen 16

Vgl. http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2013/44090234_kw16_pa_enquete_wachstum/index.html

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3. Die Diskussionen über eine Reform des BIPs Wachstums, mit dem in der Vergangenheit die Alltagsprobleme gelöst wurden und von dem sich eine gute Zukunft versprochen wurde. Zwischen 1950 und 1975 ermöglichte das Wachstum großen Verteilungsspielraum und Korporatismus, die die soziale Marktwirtschaft geprägt haben17. Mit der Idee einer "sozio-ökologischen Transformation" scheiterten Abgeordnete von SPD, Linken und DIE GRÜNEN an der Koalition. Von diesem Gegensatz ist auch das Kapitel über "Nachhaltig gestaltende Ordnungspolitik" geprägt. Union und FDP befürworten eine pragmatische Anpassung der sozialen Marktwirtschaft, die ihre "Anpassungsfähigkeit" schon häufig bewiesen habe, an die Erfordernisse der Nachhaltigkeit. Die Opposition hingegen hält weitreichende Änderungen für nötig. Der Staat solle nicht alles dekretieren, aber entsprechende Regulierungsrahmen setzen. Bei den dramatischen Krisen handele es sich "nicht nur um einen Betriebsunfall", weshalb "kleinere pragmatische Anpassungen" nicht genügten. Konsens herrscht, dass die Politik die ökologischen Grenzen des Planeten akzeptieren müsse. In manchen Bereichen wie dem Ausstoß von Klimagasen, dem Rückgang der Artenvielfalt oder der Überlastung des Stickstoffkreislaufs seien diese Grenzen schon heute überschritten. Deshalb müsse der Umwelt- und Ressourcenverbrauch gesenkt werden. Über konkrete Forderungen zur Reduzierung des Rohstoffkonsums konnte man sich jedoch nicht einigen. Die Koalition sieht dies als Aufgabe der künftigen Regierung an. Ein Sondervotum der Opposition macht zahlreiche Vorschläge, etwa ein Wertstoffgesetz, eine effizientere Kreislaufwirtschaft mit höheren Recyclingquoten oder eine Abgabe auf Stickstoff. Auch zu einer zukunftsfähigen Arbeitswelt war "ein fraktionsübergreifender Konsens nicht herzustellen". Der Bericht präsentiert lediglich als Basis künftiger Debatten drei unterschiedliche Modelle. Ein Konzept, das Union und FDP zuzuordnen ist, macht sich für eine Ausdehnung der Erwerbsarbeit und für mehr Flexibilisierung stark. Ein von der SPD favorisierter Entwurf zielt auf "qualitativ wertvolle Arbeit", lehnt eine Ausdehnung des gesamten Arbeitsvolumens ab und will die Arbeitszeit zwischen Frauen und Männern ausgeglichener verteilen. Linke und Grüne verlangen, soziale Sorgearbeit und bürgerschaftliches Engagement stärker mit Erwerbsarbeit zu verknüpfen. 17

Vgl. Michael Müller „Die Große Transformation – Zweiter Teil“ in Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte 10/2013

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3. Die Diskussionen über eine Reform des BIPs Einhellig plädiert die Kommission für eine Ausweitung der Erwerbstätigkeit von Frauen und deshalb für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Zum umstritte nen Mindestlohn nimmt der Bericht nicht Stellung. Lediglich ein Sondervotum dreier Sachverständiger aus dem Oppositionslager setzt sich für den Mindestlohn ein 18.

4 Zusammenfassung Knapp Jahrzehnte nach dem Scheitern des Kommunismus und dem Sieg des kapitalistischen Wirtschaftsmodells, ist eine Systemdebatte über dieses System entbrannt. Es stellt den Kapitalismus nicht im Grundsatz in Frage, aber durch die Finanz- und Bankenkrise sind die kritischen Stimmen in Wissenschaft und Politik lauter geworden. Die Frage nach dem BIP als wichtigste Kennzahl des Wirtschaftens einer Gesellschaft ist im Kern eine politische Frage, wie Fortschritt in Zukunft noch möglich ist und welche gesellschaftlichen und ökologischen Kosten dafür bezahlt werden müssen. Es ist eine zweite Welle das Wachstumskritik nach 1972 entbrannt. Wachstum als alleinige Steigerung der Produktion wird mittlerweile als unsozial und ökologisch schädlich angesehen. Die in zahlreichen Ländern und multinationalen Organisationen angestoßene Debatte über Wohlstand und dessen Indikator in den entwickelten Industrienationen findet jenseits der bekannten politischen Rechts/Links-Schemata statt. Alle Diskussionen sind jedoch in der Analyse, die nicht immer einhellig betrachtet wurden, stecken geblieben. Für einen neuen Wohlstandsbegriffs wurden neben dem BIP als Wachstumsindikator einer volkswirtschaftlichen Produktion weitere Indikatoren für eine gesellschaftliche Entwicklung definiert. Deren Auslegung ist jedoch nicht objektiv, sondern ist dem jeweiligen politischen Blickwinkel zuzuordnen. Ein objektiver Indikator, der den Entwicklungsstand einer Gesellschaft definiert, wird es nicht geben können. So hat die internationale Debatte um das BIP in erster Linie die notwendige grundsätzliche Debatte über Wirtschaftswachstum und Fortschritt in einer globalisierten Welt 18

Vgl. Zeit Online vom 28.01.2013, http://www.zeit.de/wirtschaft/2013-01/wohlstand-wachstum-bundestag-kommission

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4. Zusammenfassung ausgelöst. Die Debatten haben gezeigt, dass es Alternativen zum „Wachstums-Mantra“ gibt. Diese Alternativen sind nicht leicht umzusetzen, weil es die Sichtweise auf unsere Art zu Leben und zu Wirtschaften verändern muss. Andernfalls wird es erbitterte Verteilungskämpfe um die noch wenigen Ressourcen geben und die Kosten für unsere nicht nachhaltige Politik werden für künftige Generationen immens sein. Wollen wir den späteren Generationen also mehr hinterlassen als Wachstumsraten – gemessen am BIP!

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5. Literaturverzeichnis

5 Literaturverzeichnis

1.

Dipl-Ökonom Albert Braakmann, „Zur Wachstums- und Wohlstandsmessung“, Wirtschaft und Statistik 07/2010, S. 609-614

2.

Bundestags-Drucksache Nr. 17/13300, Deutscher Bundestag

3.

Kommission der Europäischen Union, „Beyond the BIP“, Mitteilung vom 20. August 2009 (KOM(2009) 433

4.

Freie Universität Berlin, FFU-Report 03/2012 „ Synopse aktuell diskutierter Wohlfahrtsansätze und grüner Wachstumskonzepte“

5. Dr. Hans-Joachim Haß, „Stiglitz, Sen und GDP and Beyond“, Wirtschaft und Statistik 7/2010, S. 694 - 699 6.

Hagen Krämer, „Wen beglückt das BIP?“, WISO direkt – Analysen und Konzepte zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, Friedrich-Ebert-Stiftung, Dezember 2009

7.

N. Gregory Mankiw, Makroökonomik, 4. Auflage 2000, Schäfer-Poeschel Verlag Stuttgart

8.

Michael Müller, „Die Große Transformation – Zweiter Teil“, Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte Ausgabe 10/2013, S. 62-64

9.

Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus, Volkswirtschaftslehre – Das internationale Standardwerk der Makro- und Mikroökonomie, 3. aktualisierte Auflage 2007, mi-Fachverlag, Redline GmbH, Landsberg am Lech

10. Paul A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre – Eine Einführung, Band I, BUND-Verlag Köln, 2. Auflage 1965 Internetquellen: 1.

Website Deutscher Bundestag, http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2013/44090234_kw16_pa_enquete_wachs tum/index.html (abgerufen am 13.10.2013)

2.

Website Zeit Online vom 28.01.2013, http://www.zeit.de/wirtschaft/2013-01/wohlstand-wachstum-bundestag-kommission (abgerufen am 13.10.2013)

3.

Website Zeit Online , http://www.zeit.de/2011/08/Debatte-Wachstum-Wohlstand/komplettansicht (abgerufen am 13.10.2013)

4. Website Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/BIP#Arten_der_Berechnung (abgerufen am 13.10.2013

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