Das Klettern in diesem idealen Gelände freut mich ungemein! lch spüre, daß ich die Schwierigkeiten, die sich fallweise bieten, einfach beherrsche. Da gibt es kein Hasten und „Zaubern“, aber mit der Kraft heißt es sparen, und ich verbrauche auch sehr wenig davon. Katzengleich schleiche ich mich aufwärts und freue mich an meinen abgerundeten Bewegungen. Ich beherrsche diese Wand – unter der Führung des trefflichen Karl Jansenberger, wohlgemerkt – und nicht sie mich. Mein Führer strahlt überlegene Ruhe, Sicherheit und stille Heiterkeit aus, die sich auf mich übertragen. Das Leben kann schön sein! Unglaublich rasch, so will es mir scheinen, haben wir den unteren Plattenschuß,das erste Wanddrittel,hinter uns.Ich schaue mich ausgiebig um und genieße die Schönheit einer Bergwelt, wie man sie sich weltabgeschiedener nicht vorstellen kann. Zu Füßen schon eine Tiefe von mehreren hundert Metern. Schräg über uns der obere Plattenschuß in drohender Steilheit. Da geht also unser Weg durch! Schwer zu glauben, denn von hier aus ist kaum eine Gliederung zu erkennen.Was für ein Abenteuer liegt da vor mir! Entzückt bin ich vom Blick auf den Peternpfad, der sich von dieser Wand aus wie ein aufgeschlagenes Buch präsentiert. Ich bringe ihn mehrmals auf den Film, an den Bildern wird man unser Höherkommen erkennen. Der obere Plattenschuß. Natürlich ist auch er nur ein „Dreier“, ganz überraschend eröffnen sich immer wieder passable Durchstiege. Wer sich allerdings hier verhaut – er muß schon ein Meister im Fels sein, soll er nicht in arge Schwierigkeiten geraten. Einige heikle Querungen gibt es da, die Gefühl erfordern; sehr eindrucksvoll, wenn sie sich in luftiger Position befinden. Ja, und dann kommt die „Fuge“, die Schlüsselstelle, ein Quergang nach links.Tatsächlich ist hier eine Unterbrechung im Weg, die es zu überwinden gilt. Man hat sie mit einem Haken beehrt, was ich fürwahr nicht als überflüssig bezeichnen möchte. Selbst Bergführer Jansenberger findet es nicht unter seiner Würde, hier einzuhängen und sich von mir von unten her sichern zu lassen.Von meinem Standplatz aus sehe ich nicht viel, was dort oben los ist, nur daß auch der Meister hier etwas länger braucht als anderswo. Und dann bin ich dran.An Kampfgeist mangelt es mir nicht. Ich blicke kurz hinauf und gehe los. Gleich bin ich beim Haken, befreie den Karabiner und befinde mich nun mit „ihr“ Auge in Auge. Eine glatte Platte ohne Griff und Tritt. Bis zu einigen Metern unterhalb noch eine Neigung von vielleicht 70 Grad, dann lotrechtes Nichts. Über mangelnde Luftigkeit braucht man sich
Karl Jansenberger in der Hochtor-NW
ÖTZ August/September 2010
also nicht zu beklagen. Ein guter Griff und ein winziges Trittchen vor der Platte, dann weit hinübergereicht, ich erwische mit der Linken eine Hangelleiste, mit den Füßen auf Reibung, so gut es geht, und geschafft ist die Stelle. 3? 3+? Nun, zu Hause, im Gebiet von Rax, Schneeberg und Hoher Wand, würde man ihr schon einen ehrenvollen unteren Vierer verleihen. Oder täuscht nur die enorme Ausgesetztheit? Quién sabe! Karl erzählt mir, daß er hier oft schon seinen Schützlingen Trittschlingen legen mußte; mit mir hingegen ist er sehr zufrieden. Nun haben wir auch gleich den oberen Plattenschuß hinter uns, es folgt das letzte Wanddrittel. Da ist es schon sonniger, und die Gliederung nimmt zu.Was gibt es hier doch für traumhafte Kanzeln und Bänder, hoch über dem Kar, Adlerhorsten gleich. Und saftig grünes Gras mit farbigen Blüten mitten in der Riesenwand aus grauem Kalk – mir ist ein Sterntag beschieden … Nun folgt der Buchplatz, und es kommen auch noch einige schwierigere Stellen, so ein kleiner Überhang mit einem Haken, der aber von uns nicht benützt wird: etwa wie der Einstieg zum Teufelsgrat, nur ein wenig schwieriger, eine richtige Dreierpassage; geht aber recht gut. Schließlich sind wir beim großen Ausstiegsblock, den man vom Kar aus schon gesehen hat. Dann gibt es nur noch schrofiges Gelände bis zum Grat, der zum Ödstein leitet. Das letzte Stück ist schweißtreibende Arbeit; wir gehen schon länger wieder gleichzeitig. Um halb drei schließlich reichen wir einander auf dem Hochtor zum Gipfelgruß die Hände. Die schönste und großartigste Tour meines Lebens liegt hinter mir. Es war ein packendes Abenteuer, ein Abenteuer im idealen Sinn des Wortes, ohne negatives und abträgliches Beiwerk. Ich habe eine Wand bezwungen, von der ich vor einem Jahr noch erst zaghaft zu träumen begann; ich war ihr gewachsen und habe sie genossen in vollen Zügen, Seillänge für Seillänge. Und ich werde die Erinnerung an sie mittragen bis ans Ende meiner Tage. Gipfelrast in ungetrübter Höhensonne. Schauen, ein paar Bissen und die letzten Wassertropfen aus der Flasche. Um halb vier wird aufgebrochen, und gemächlich steigen wir über den Gugelgrat talwärts. Um fünf sind wir schließlich bei der Heßhütte. Dort lasse ich mir eine Flasche Bier trefflich schmecken, und eine halbe Stunde später nehme ich Abschied von meinem Führer und seiner Familie. Ich strebe dem Wasserfallweg zu; ich verspüre keinerlei Müdigkeit.Trotzdem lasse ich mir Zeit und bin so erst um halb acht bei der Haltestelle Kummerbrücke, wo mich wenig später der Zug nach Gstatterboden abholt. So war ich heute also vierzehn Stunden unterwegs, davon zwölf auf den Beinen. Ein randvoller Tag! Samstag, wieder Schönwetter. Man wird es mir nicht verübeln, wenn ich es mir heute gemütlich mache, um dabei Neuland zu entdecken.Auf der einsamen Goferalm unter dem Reichenstein verträume ich den Tag, im unmittelbaren Antlitz der wilden Nordabstürze des majestätischen Berges. Sonntag, der letzte Urlaubstag: zum Abschied abermals Sonne. Es zieht mich schon wieder zur Höhe. Der Reichenstein wäre ein lohnendes Ziel, ist aber vielleicht zu viel für den zur Verfügung stehenden Zeitrahmen; ich bin ja nicht früh aufgestanden. Da ich auch schon zwei stolze Gipfel erobert habe, begnüge ich mich mit Bescheiderem und wende mich dem Gstatterstein zu. Über die Hochscheibenalm geht es gemächlich bergan, und von der Ostseite her führt dann der Weg auf das weitläufige, vorwiegend waldige Plateau. Nun bin ich inmitten meiner mächtigen Freunde und genieße an den Rändern der Hochfläche den Blick bald auf diesen, bald auf jenen Riesen. Ein absolut einsames Stück Welt ist das hier, selbst zum Wochenende kaum von eines Menschen Fuß betreten. Es dämmert vor sich hin im Schatten seiner mächtigen Nachbarn, die es himmelhoch überragen. Um halb sechs entführt mich der Zug wieder in die Großstadt. Ich kehre leichten Herzens heim, habe ich doch so viel Schönes erleben dürfen, daß mir der Abschied von meinen geliebten Bergen nicht schwerfallen kann … ❑ 113