Vorwort
Vorwort
Am 26. Oktober 1962 durchsuchten und besetzten Polizist*innen in Hamburg die Räume des Nachrichtenmagazins Spiegel. Dieser Zugriff staatlicher Behörden mani festierte für die Öffentlichkeit sichtbar die bis dato schwerste Krise und größte Bedrohung der Pressefreiheit der noch jungen Bonner Republik. Der Tatvorwurf: Landesverrat. Das verdächtigte Medium: Das führende Nachrichtenmagazin der da maligen Zeit. Die sogenannte Spiegel-Affäre, deren Ausgang mit der Einstellung der Ermittlungen bis heute als nachhaltige Stärkung der Pressefreiheit in Deutschland gewertet wird, stieß damals auch international auf großes Interesse. Über 50 Jahre später erregte in der Berliner Republik ein Fall wieder große Aufmerksamkeit, in dem die deutsche Justiz abermals gegen Journalist*innen wegen des Verdachts des Landesverrats ermittelte. Wieder folgten massive Proteste deutscher und internati onaler Journalist*innen, und wieder wurden die Ermittlungen eingestellt. Im Visier stand dieses Mal jedoch kein etabliertes Leitmedium, sondern das recht junge Blog netzpolitik.org – ein Medium, das nur über ein Bruchteil der Ressourcen des Ham burger Magazins verfügt. Nicht zuletzt zeigt auch dieses Beispiel der Netzpolitik-Org.-Affäre exemplarisch, dass die Bedeutung von Blogs für die Öffentlichkeit stetig gestiegen ist und inzwi schen einen relevanten Faktor in der Medienwelt darstellt. Ihr Wachstum und Erfolg fußen einerseits auf neuen technischen Möglichkeiten, andererseits tragen sie ver änderten Lesegewohnheiten und Informationsbedürfnissen des Publikums Rech nung. Manche sehen darin eine längst notwendige Pluralisierung und Ausdifferen zierung der Medienangebote. Themen wie Digitalisierung, europäische Krisenpolitik oder kritische Reflektionen der Entwicklungen in der Medienbranche selbst erleben aus dieser Perspektive durch die Blogger*innen-Szene einen kräftigen Aufschwung. Nicht zuletzt deshalb, weil „Eigeninteressen, redaktionelle Befindlichkeiten oder mangelnder Bereitschaft zu Selbstkritik“ die „etablierten“ Medien in diesen Fragen zum Stillstand gebracht haben, wie das bekannte medienkritische Blog übermedien schreibt. Andererseits scheint, zumindest im eher „traditionalistischen“ journalis tischen Lager, die kritische bis ablehnende Haltung der „Blogosphäre“ deutlich zu überwiegen. Von unkritischen Jubelartikeln zu den neuesten Modeprodukten und Automodellen bis zur Verbreitung kruder Verschwörungstheorien im Politikbereich leisten Blogs aus dieser Sicht einer Publizistik Vorschub, die mit ernstgemeintem Journalismus nichts am Hut hat – und im bekannten Zitat von Blogs als „Klowänden des Internets“ gipfelt. Beide Bewertungen verbindet, dass sie auf erstaunlich dünnen Fakten beruhen. Wie und ob sich Journalist*innen und Blogger*innen in ihrem Selbstverständnis
1