obacht_ #3

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studierendenmedium

#3

6

studieren drogenhandel als nebenjob

geld

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leben nur bares ist wahres

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medien Ăźberleben als journalist

29

feuilleton soho house berlin


Wir gratulieren der obacht_ zur dritten Ausgabe!

Master Deine[r] Karriere M.A. Wirtschaftspsychologie M.A. Kommunikationsdesign M.A. Konvergenter Journalismus E You‘re fluent in English? Study at HMKW Berlin! Oder doch lieber auf Deutsch? Dann HMKW Köln.

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editorial lobgesang auf die realkeeper der journalisten-cypher:

Welch Ironie des Schicksals! Gestern noch belächelten wir taz-Geschäftsführer Andreas Bull, der das Militär »nicht grundsätzlich als militaristisch« bewertet, während Leser ernsthaft zweifeln, ob man noch »ganz bei Trost« sei. Heute scheitern wir bei der Akquise für die dritte obacht_ fast selbst am schnöden Mammon – und hätten nur allzu gerne einen kontroversen Mäzen hergezaubert. Unsere Mägen knurrten voller Neid beim Anblick der zwangsbesteuerten Fresstöpfe von ARD/ZDF, die zur Fußball-EM zehn Millionen Euro in die Volksbelustigung gestopft und sich rund 500 Vor-Ort-Mitarbeiter gegönnt haben. Raubtierkapitalismus im deutschen Medienzirkus, ganz ohne Springer und Burda. Heiner Geißler kommentierte einst neoliberale Perversitäten mit den Worten: »Es gibt Geld wie Dreck. Es haben nur die falschen Leute.« Sei’s drum – als Berliner Studierendenmagazin sind wir nicht nur arm, sondern auch sexy, weil wir unsere Auflage auf 2.000 erhöhen. Obwohl der Flughafen verwaist, die Staatsoper womöglich bald zusammenkracht und der Innensenator 500 Polizisten anberaumt, um verlauste Hippies aus einer Bude zu prügeln – die Leserschaft von obacht_ vergessen wir nie. Deshalb gibt es in dieser Ausgabe spannende Texte rund um Zaster, Taler, Gulden, Rubel und Bitcoins dieser Welt. Viel Freude bei der Lektüre wünscht

Thorsten Gutmann, Chefredakteur


inhalt

foto tim kirchner bearbeitung tabea otto

studieren 6

drogenhandel ist kein zen-buddhismus

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was ist das für 1 life?

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robert schlösser & tom reed

shana koch & tabea otto

personaler schauen sich nicht dein facebook-profil an

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thorsten gutmann, tim kirchner & tom reed

der zoff um den dosenverein robert rienass & tobias peil

datenkraken sollte man nicht streicheln / daten als kapital

leben

feuilleton

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legal, illegal, scheißegal

16

20

wie du als freier journalist überlebst

laura kirsten, oliver przybilka & bastian ötken

trash-facts aus den tiefen des nets

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18

ciara mac gowan & daniel schreck

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&

medien

keshia luna biedermann & leyla demirhan

amir & leyla demirhan

nur bares ist wahres alina boie & leyla demirhan

pokerface roxanne franz, trad burmawi & tim kirchner

was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu paulina noah & tom reed

#damitnichtnurwirselbstunserepostsliken facebook.com/obachtmagazin

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von luftballons und drachen vivien krüger & lisa hildebrandt

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fernab des mainstreams

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aufgeraucht

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vorsicht parallelgesellschaft!

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robert rienass & tina kamyab

patrick volknant & xenia katharina kapp

paula lou riebschläger & xenia katharina kapp

impressum

#obachtgoessocial #sorrynotsorry instagram.com/obacht_magazin


umfrage

studieren

wie wichtig ist geld für dich? text alina boie & laura kirsten layout daniel schreck

Sophie, 19, Grafikdesign »Geld allein macht auch nicht glücklich. Da sind mir andere Werte wie Familie und Beziehung viel wichtiger. Davon hab ich wenigstens was.«

unterstützen dich deine eltern finanziell ?

Kai, 22 , Eventmanagement »Mir ist Geld nicht wichtig. Und finanziell geht's mir so wie meinem Portemonnaie.«

Jacqueline, 20, Grafikdesign »Geld ist für mich nur nebensächlich. Eigentlich ist es mir nicht so wichtig.«

Hannah, 20, Eventmanagement »Anscheinend ist Geld mir wichtig genug, dass ich das ganze Wochenende dafür arbeiten gehe.«

Sonja, 19, Grafikdesign »Der materielle Wert des Geldes ist mir nicht so wichtig. Solange es zum Leben ausreicht, ist das in Ordnung.«

wie finanzierst du dir dein studium? arbeitest du neben dem studium ?

nein ja 21,4% 78,6%

beziehst du einen Studienkredit ?

online-umfrage Diese Umfrage wurde im Juni 2016 an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft durchgeführt.

ja nein 64,3% 35,7%

beziehst du BAföG ?

nein 83,9%

ja 30,4%

ja 16,1%

nein 69,6%

was studierst du ? Journalismus 14,3% Grafikdesign 17,8%

Eventmanagement 16,1% Wirt.-psychologie Keine Angabe 21,4% 30,4%


studieren

interview

drogenhandel ist kein zen-buddhismus text robert schlösser illustration katharina conrad layout tom reed

Man muss kein Harvard-Absolvent sein, um zu wissen, dass der gemeine Student nicht zur bruttosozialproduktfördernden Gesellschaftsschicht gehört. »Lehrjahre sind keine Herrenjahre.« Bei solch einer bauernschlauen und völlig abgedroschenen Floskel mag der ein oder andere vielleicht die Augen verdrehen und sich wünschen, sie nie gelesen zu haben. Das Problem jedoch ist, dass man dieser Aussage nicht widersprechen kann. Und wenn der Moment gekommen ist, in dem kein Geld mehr aus dem Automaten kommt, obwohl man die PIN korrekt eingetippt hat, wird es hässlich. Die Konsequenz ist so banal wie einleuchtend: Man muss arbeiten gehen. Zum Beispiel als Kellner im Restaurant. Als Kassierer im Supermarkt. Oder etwas unkonventioneller: Als Drogendealer. Ich habe mich mit Boris getroffen, der genau letzterer Tätigkeit nachgeht, und ihn gefragt, wie das so läuft zwischen Hörsaal und Clubtoilette.

Mit kleinen Augen, aber sichtlich gut gelaunt, öffnet mir Boris die Tür. »Letzte Nacht war steil.« Dutzende Sneaker stehen pedantisch aneinandergereiht im langen Flur – wie in einer Footlocker-Filiale.

genau machen möchte. Ich habe angefangen Jura zu studieren. Mittlerweile widme ich mich einem technischen Studiengang.

Unser Gespräch findet in der Küche statt, wo gerade gekocht wird. Ob es sich dabei um das Abendessen handelt, bezweifle ich.

Seit Anfang 2013, also etwa dreieinhalb Jahre.

Guten Abend, Boris. Vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview genommen hast.

Das ist gar kein Problem. Seit wann studierst du?

Ich habe 2012 mein Abitur gemacht und hatte weder Zukunftspläne noch eine Idee, was ich

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Und seit wann verkaufst du Drogen?

Wie bist du zum Drogenhandel gekommen?

Während der Schulzeit habe ich Gras verkauft, um es selber kostenlos zu rauchen. Ich habe nicht besonders viel Taschengeld von meinen Eltern bekommen. Nach dem Abitur bin ich in der Clubszene aktiver geworden. Da werden natürlich andere Drogen konsumiert. Um Geld zu sparen, habe ich für meine Freunde und mich immer bei einem Großde-

aler eingekauft. Irgendwann dachte ich mir, wenn ich ständig solch große Mengen hole, dann kann ich auch anfangen, es selber zu verkaufen. Was verkaufst du?

Ich habe angefangen, Ecstasy zu verkaufen. Mit der Zeit kamen alle möglichen Substanzen hinzu. Mittlerweile verkaufe ich alle gängigen Party- bzw. Designerdrogen. Wie lässt sich das mit dem Studium vereinbaren?

Am Anfang ging das noch relativ gut. Das Geschäft hat sich jedoch rapide vergrößert. Somit konnte ich es immer schlechter mit der Uni vereinbaren. Das liegt vor allem an dazugehörigen sozialen Interaktionen. Man muss ständig


interview

irgendwelche Leute treffen. Es kommt immer etwas dazwischen. Das macht es oft unmöglich, um acht Uhr in der Vorlesung zu sitzen. Was war das Absurdeste, das dir in deiner Laufbahn als Dealer je passiert ist?

Ein Kurier hat sich mal vor einer Übergabe eine zu hohe Dosis GHB zugeführt, und ist mit einem Kilo Ketamin im Rucksack am Kottbusser Tor in einen substanzinduzierten Schlaf gefallen. Er wurde von der Polizei hochgenommen. Das Zeug war weg. Macht das Ganze nicht etwas paranoid?

Das kommt darauf an, was ich selbst konsumiert habe (lacht). Was wirklich paranoid macht, ist, das Zeug bei sich zu Hause zu haben. Warum kellnerst du nicht einfach?

Ich habe es mit ehrlicher Arbeit im Niedriglohnsektor probiert. Die Bezahlung ist schlecht und die Arbeitszeiten lassen sich noch schwerer mit der Uni vereinbaren. Wenn man mir 50 Euro die Stunde für's Kellnern bietet, würde ich es mir vielleicht nochmal überlegen (grinst). Wie viel Geld machst du denn?

Auf jeden Fall genug, um zu leben. Hast du schon mal Drogen in der Uni verkauft?

Nicht direkt in der Uni, aber auf dem Campus. Es ist ja nichts Neues, dass viele Studenten gerne Drogen nehmen. Was sagen deine Freunde dazu?

Fast alle meine Freunde nehmen Drogen. Die erfreuen sich an den guten Preisen und der Qualität. Ich habe mir Freunde ausgesucht, die es akzeptieren und respektieren. Vertrauen ist alles. Berlin ist versaut... Du verdienst momentan wahrscheinlich mehr Geld als ein Berufseinsteiger nach dem Studium. Was motiviert dich dazu, einen Abschluss zu machen?

Ich will nicht in zehn Jahren immer noch Drogen auf Clubtoiletten verkaufen und auf diese

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Weise eine Familie ernähren. Das ist keine Perspektive. Daher ist meine Motivation sehr hoch. Was erhoffst du dir von einem Studienabschluss?

Kompetenzen, um ohne Drogen Geld zu verdienen. Du hast erwähnt, selber zu konsumieren. Lernst du besser mit oder ohne Drogen?

Auf Speed lerne ich ziemlich gut. Das soll jetzt aber keine Empfehlung für andere sein. Denkst du an die Konsequenzen deines Handelns?

Ich bin ein Adrenalinjunkie. Manchmal träume ich davon, hochgenommen zu werden. Aber noch bin ich jung und ungebunden. Es ist schnelles und einfaches Geld. In jeder Branche gibt es auch schlechte Zeiten…

Drogenhandel ist kein Zen-Buddhismus. Wenn es schlecht läuft, stelle ich alles in Frage. Warum mache ich das? Warum tue ich das meiner Familie an? Kann ich nicht wie jeder andere in die Uni gehen und einem normalen Job nachgehen? Aber wenn das Geld fließt, bin ich wieder in einer Blase, in einer Parallelgesellschaft. Es ist ein Teufelskreis. Was hält deine Familie davon?

Meine Mutter macht sich Sorgen und mein Vater will mein Geld haben. Was ist für dich am Wichtigsten im Leben?

Meine körperliche Unversehrtheit. Kollidiert das nicht mit der Branche und dem Konsum?

Das wiederum ist ein Gewissenskonflikt, mit dem jeder selbst klarkommen muss. Da kann mir keiner helfen. Wenn du die Zeit nochmal zurückdrehen könntest, würdest du etwas verändern?

Es ist ja noch nicht vorbei. Es geht gerade erst richtig los. __

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studieren

porträt

was ist das für 1 life? Auf den ersten Blick wirkt Linda wie eine normale junge Frau. Sie ist 21 Jahre alt, sportlich gekleidet und ständig auf dem Sprung. Seit drei Semestern studiert sie Fotografie an einer privaten Hochschule in Berlin und arbeitet nebenher. Was zunächst nach einem typischen Studentenleben klingt, sieht in der Realität ganz anders aus. text shana koch layout & illustration tabea otto

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porträt

Nachdem Linda mit Abschluss der neunten Klasse die Schule verließ, holte sie 2015 ihren erweiterten Realschulabschluss nach. Derzeit absolviert sie ihr Abitur per Abendschule. Lindas Familie wohnt in der Nähe von Stuttgart. Sie lebt vom Existenzminimum, sodass sie ihrer Tochter nicht einmal die nötigsten finanziellen Leistungen wie Unterhalt oder Kindergeld zahlen kann. Das Verhältnis ist jedoch gut. Daher käme Linda nie auf die Idee, die Leistungen einzuklagen. Ihr Motto ist simpel: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Wenn der Unterricht in der privaten Hochschule beendet ist und die Studierenden nach Hause gehen, fängt für Linda der Arbeitsalltag erst an. Neben Studium und Abendschule hat sie drei Jobs. Am Nachmittag führt ihr Weg von der Hochschule direkt in eine Kanzlei, in der sie als studentische Hilfskraft angestellt ist. Nach dem Feierabend um acht Uhr macht sie sich auf den Weg in ihre Wohnung nach Berlin-Köpenick. Viel Zeit zum Ausruhen bleibt nicht, denn zwei Stunden später beginnt ihre Schicht hinter der Theke einer belebten Berliner Bar.

Selbst am Wochenende kennt Linda keine Pausen. Jeden Samstag steht sie als Verkäuferin in einem Modegeschäft in Berlin-Mitte. Sie erfüllt in etwa das dreifache Arbeitspensum eines durchschnittlichen Studierenden. Jedoch ist es illegal, mehrere Minijobs gleichzeitig auszuüben. Konkret bedeutet das, Arbeitgeber finden zu müssen, die Schwarzarbeit tolerieren. Damit entfallen offizielle Arbeitsverträge. Der Arbeitgeber kann im schlimmsten Fall von heute auf morgen fristlos kündigen. »Wenn ein Café nicht so gut läuft und Personal abgebaut werden muss, fliegen natürlich zuerst die Schwarzarbeiter raus«, erzählt Linda.

wenn ein café nicht gut läuft, fliegen zuerst die schwarzarbeiter raus. Eigentlich gibt es keinen Bereich, in dem sie noch nicht gearbeitet hat, sagt sie. Wirft man einen Blick auf ihre Arme, fallen sofort ein paar Brandnarben ins Auge. Diese stammen vom letzten Sommer, als sie für ein paar Monate in einem Burger-Imbiss jobbte.

studieren

Linda kann keinen Studienkredit aufnehmen, da ihre Hochschule nicht staatlich anerkannt ist. Mit drei Jobs finanziert sie das Privatstudium, die kostenpflichtige Abendschule und die Miete ihrer Wohnung. Oft reichen die Gehälter nicht, um unbesorgt zu leben. Linda schmunzelt und erzählt von Monaten, in denen sie sich verspekuliert hat. Es kann passieren, dass ihr das Geld für die BVG-Monatskarte fehlt, wenn sie sich eine Tasche oder ein neues Paar Schuhe kauft. Wo andere verzweifeln würden, bewahrt das drahtige Mädchen einen kühlen Kopf und holt das Mountainbike aus dem Keller. Dann radelt sie von Köpenick nach Mitte, was für viele ein Horrorszenario wäre. Für Linda bedeutet das jedoch, ein bisschen Zeit für sich zu haben, um Musik zu hören und nachzudenken. Trotz des permanenten Stresses wirkt sie stets motiviert und gut gelaunt. Der größte Ansporn ist ihre Leidenschaft für die Fotografie und die Aussichten auf eine erfolgreiche Selbstständigkeit. Wenn sie über ihre Arbeiten spricht, leuchten ihre braunen Augen und ein Lächeln legt sich über ihr Gesicht. Es bleibt sowieso kaum Zeit, sich zu beklagen. Die nächste Schicht steht an. __

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interview

»personaler schauen sich nicht dein facebook-profil an.« text ciara mac gowan layout daniel schreck

Tim Meyerdierks ist Head of Human Resources der Bonial International Group. Das Unternehmen bietet mit ihrer deutschen App kaufDA Händlern die Möglichkeit, Werbeprospekte zu digitalisieren. Mittlerweile ist die Gruppe mit 330 Mitarbeitern in elf Ländern vertreten. Ihre Apps haben weltweit monatlich 22 Millionen Nutzer. obacht_ sprach mit dem 36-Jährigen, der die globalen HR-Strukturen von Bonial verantwortet, über Gehaltsverhandlungen, Karriere-Netzwerke und Elite-Hochschulen.

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interview

Tim, was hast Du studiert?

Soziologie, davor eine Weile Philosophie und Geschichte. Die meisten Personaler haben BWL, Psychologie oder eben Soziologie studiert. Ich habe mich im Studium mit System- und Organisationstheorie beschäftigt. So bin ich zur Personalarbeit gekommen. Worauf achtest Du bei einem Bewerbungsschreiben?

Das kommt ganz auf die Stelle an. Bei Entwicklern achte ich auf Technologien und wie lange sie diese benutzt haben. Bei jemandem, der kreativ arbeitet, interessiert mich vornehmlich das Portfolio. Das kann also man nicht verallgemeinern. In welcher Abteilung hat man das größte Einstiegsgehalt?

Gute Einstiegsgehälter gibt es grundsätzlich nach Studiengängen wie Maschinenbau und Ingenieurswissenschaften, sprich bei Mangelberufen. Bereiche wie Finanz- oder Unternehmensberatung bieten das auch. Das heißt nicht, dass man in anderen Bereichen nicht genauso viel Geld verdienen kann. Es dauert in der Regel nur etwas länger. Ein klassischer Weg ist es, zwei Jahre lang in einer Unternehmensberatung zu arbeiten. Bestenfalls mit einer einschlägigen Universität im Rücken. Damit kann man erwarten, schneller Karriere zu machen und schneller höhere Gehälter zu beziehen. Ob das immer fair ist, ist eine andere Frage. Welche sind die größten Bewerbungsmythen?

Der größte Mythos ist, dass Lücken im Lebenslauf Hindernisse seien. Solange es keine Fünf-Jahres-Lücken sind, ist das egal. Wenn man eine Lücke von drei oder sechs Monaten im Lebenslauf hat, ist das okay. Zumindest in den meisten Organisationen. Es ist völlig überflüssig, deshalb Kosmetik zu betreiben oder nervös zu sein. Ein anderer Mythos ist es, jedes Praktikum, auch wenn es nur einen Monat ging, als Berufserfahrung im Lebenslauf anzuführen. Es fällt mir schwer, so etwas richtig ernst zu nehmen. Um eine Organisation kennenzulernen und sinnvolle Aufgaben zu übernehmen, die nichts mit Kaffeekochen zu tun haben, ist alles ab drei Monate wirklich interessant. Welche Rolle spielen Karrierenetzwerke wie LinkedIn und Xing für Studierende?

studieren

Absolut wichtig. Personaler schauen nicht dein Facebook-Profil an. Dafür fehlt einfach die Zeit. Wir schauen allerdings gerne LinkedIn- oder Xing-Profile an, um Kontakt zu Kandidaten aufzunehmen. Die meisten Bewerbungssysteme, die Unternehmen nutzen, fordern dazu auf, sich mit seinem Xing- oder LinkedIn-Profil zu bewerben. Daher würde ich diese genauso pflegen wie den Lebenslauf.

Verhandeln Männer besser als Frauen?

Lohnt sich eine Bewerbung, wenn nicht alle Anforderungen erfüllt werden?

Jein. Es gibt in Organisationen die Tendenz, dass Eliten sich selbst rekrutieren. Wenn diese zu einem hohen Prozentsatz aus Männern bestehen, liegt der Verdacht nahe, dass es eine Benachteiligung von Frauen in Führungspositionen gibt. Ich glaube allerdings, dass sich die Situation an vielen Stellen bessert.

Absolut! Jede Stellenausschreibung ist eine Wunschliste und nicht immer realistisch. Man kommt für den Job infrage, wenn man 70 bis 80 Prozent der Qualifikationen erfüllt. Es kann aber auch sein, dass man 90 Prozent erfüllt, aber genau eine Voraussetzung fehlt, die tatsächlich wichtig für das Unternehmen ist. Ich würde mir um Absagen keine Gedanken machen, weil Stellenausschreibungen eine unsichere Art der Kommunikation sind. Man weiß nicht, was das Unternehmen wirklich sucht. Man weiß noch nicht mal, ob die Stelle jemals besetzt wird. 20 Prozent der Stellen werden ausgeschrieben, aber niemals besetzt. Das ist jedoch eine Grauziffer. Warum werden die Stellen nicht besetzt?

Das kann unterschiedliche Gründe haben. Es kann sein, dass das Unternehmen für eine gute Außendarstellung viele Stellenausschreibungen auf ihrer Website haben will. Oftmals verändern sich die Voraussetzungen für die Stelle. Man findet nicht die Kandidaten, die man sich erhofft hat und stellt die Suche ein. Oder die Rahmenbedingungen ändern sich und die Stelle ist nicht mehr notwendig. Das ist gar nicht so selten. Wie verhandle ich mein Traumgehalt?

Es ist wichtig zu wissen, was man selber will. Und man sollte sich bei Verhandlungen in die Lage des Gegenübers hineinversetzen. Wird die Stelle gebraucht? Werde ich gebraucht? Welches ist ein angemessenes Gehalt? Umso besser ich verstehe, welche Interessen meine Vorgesetzten verfolgen, desto eher werde ich mich sicher durch Verhandlungen bewegen. Am Anfang der Karriere ist man in einer schwachen Situation, weil man wenig Erfahrung hat. Diese muss man sammeln, um gut darin zu werden. In der Regel gibt es Spielräume. Auch wenn gesagt wird, dass es sie nicht gibt. Ein Unternehmen hat ein Interesse daran, Verhandlungen erfolgreich abzuschließen. Das heißt auch, dass sie für vernünftige Konditionen sorgen.

Aus eigenen Erfahrungen kann ich das nicht bestätigen. Ich kenne Frauen, die sehr gut und hart verhandeln können. Doch Statistiken sprechen eine andere Sprache. Glaubst Du, Frauen werden beim Recruiting benachteiligt?

Welche Rolle spielen Noten und renommierte Hochschulen im Bewerbungsprozess?

Wenn private Hochschulen oder berühmte Universitäten viel Wert darauf legen, sich als Elite zu generieren, helfen sie ihren Studenten enorm. Noten spielen nur zum Teil eine Rolle. Die Frage ist, was man anhand von Noten ablesen kann. War die Person ein Streber oder besonders engagiert? Spätestens nach einem Jahr Berufserfahrung geht es viel mehr um Erfahrungen, nicht um Noten. Haben Studierende einer privaten Hochschule bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt?

Das hängt vom Wissen des Personalers ab. Oft weiß der Recruiter nicht, ob eine Hochschule privat oder öffentlich ist. Ich empfehle Bewerbern, dem Unternehmen genau zu erklären, was man an der Hochschule macht. Nach einer gewissen Zeit wissen Personaler, welche Hochschulen für bestimmte Fachrichtungen einen guten Ruf haben und welche nicht. Hast Du Tipps für Studierende, wie sie in Führungspositionen kommen?

Die einfachste Art ist es, sich dafür zu interessieren, was ein Unternehmen tatsächlich macht, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und die Arbeit nicht an der Schreibtischkante ruhen zu lassen. Wenn man über die eigene Arbeit hinausdenkt, lässt es sich kaum verhindern, dass man Karriere macht. Vielen Dank für das Gespräch. __

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leben

statistik

trash-facts aus den tiefen des nets text keshia luna biedermann, robert rienass layout leyla demirhan

3.000 US$ Britney Spears gibt für speziell angefertigte Haarscheren, die aus Japan importiert werden, pro Lieferung 3.000 US-Dollar aus. Das entspricht zwei Brutto-Monatsgehältern einer Berliner Friseurin. Für 3.000 Euro könntest du aber auch dem Barbier deines Vertrauens viereinhalb Jahre lang täglich eine Currywurst ohne Darm spendieren.

18.000€

Das Internet ist randvoll mit Erfahrungsberichten, die uns verbinden und Emotionen, die wir teilen möchten. Und dann gibt es da noch den Cybermüll. Den wirst du bestimmt länger im Kopf behalten als die Info, dass der türkische Parlamentspräsident eine islamische Verfassung fordert. Wir zeigen euch ein paar dieser trashigen Fakten aus den Tiefen des Internets.

Im vergangenen Jahr brachte Apple eine neue Smart Watch heraus. Die teuerste Version aus 18 Karat Gold kostet 18.000 Euro. Kein Blingbling für dich? Für 18.000 Euro könnten zwei Personen 81-mal beim Fusion Festival fürstlich abfeiern. Alternativ kannst du für diese Summe dreimal um die Welt reisen oder einfach mit deinen 462 besten Freunden jeweils eine Flasche Moët-Champagner genießen.

2009 wurden weltweit 860.000 Euro-Blüten aus dem Verkehr gezogen.

Er ist ehrgeizig, gutaussehend und verkörpert den gesamten Stolz der Portugiesen: Cristiano Ronaldo, halb Mensch, halb Gott. Wusstest du schon, dass er zehn Millionen Euro höher gehandelt wird als der Markenwert der gesamten slowakischen Fußballmannschaft?

14.000.000.000 D-Mark sind heute noch im Umlauf.

Wusstest du, dass du für das Spenden einer einzigen Niere (wachsen die nicht nach?) das neueste MacBook bekommen kannst? Während des nächsten Asia-Trips einfach beim Organhändler deines Vertrauens vorbeischauen, Niere operativ entfernen lassen und umgerechnet etwa 3.000 Euro kassieren.

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Hans-Jürgen Kuhl blieb lange Zeit ein unbekannter und finanziell ruinierter Künstler, bis er auf die Idee kam, amerikanische Banknoten zu fälschen. Ein lukratives Geschäft, mit dem er über mehrere Jahre hinweg ein sorgenfreies Leben führte. 2007 überführte ihn das Kölner BKA während einer Übergabe von

6,5 Millionen Fake-Dollar. An all die »Selfiestick-Geilen«, an alle sich selbst promotenden Duckface-Babes all around the world: Seid gewarnt! Im vergangenen Jahr sind beim Versuch, ein ganz besonderes Selfie zu machen, mehr Menschen ums Leben gekommen als bei einem Haiangriff.

Das Wiener Schnitzel ist zweifellos eines der leckersten Gerichte weltweit. Vielleicht war genau das der Grund, weshalb sich ein paar Wiener Drogenschmuggler für den Verkauf von 2,5 Kilogramm Heroin ca. 29.000 Schnitzel holen wollten. Yummiyummi.


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text alina boie layout leyla demirhan

Wer mit Bargeld anstatt einer Geldkarte bezahlt, gibt nachweislich weniger Geld aus. Der

2. wer bar bezahlt, spart.

Bargeld funktioniert immer und überall. Verkäufer und Kunden sind nicht auf Kartenlesegeräte und deren Funktionsfähigkeit angewiesen. Bei einer Kartenzahlung werden zudem Ort und Art des Einkaufs dokumentiert. In den meisten Fällen hat es keinen kriminellen Hintergrund, dass viele Kunden diese Informationen nicht preisgeben möchten. Den meisten Menschen ist es einfach unangenehm, Sexspielzeug oder Antidepressiva per Karte zu bezahlen.

1. bargeld bedeutet autonomie und freiheit.

Doch Vorsicht: Bei der Debatte um die Zukunft des Bargelds geht es um weit mehr als nur den Bezahlvorgang an sich. Es geht um unsere Autonomie und unsere Privatsphäre. In Dänemark müssen Restaurants, Tankstellen und kleine Läden kein Bargeld mehr annehmen. Die Notenbank hat angekündigt, dass sie von Ende 2016 an keine neuen Banknoten drucken wird. Falls neuer Bedarf entsteht, muss ein externer Dienstleister einspringen. Deutschland sollte sich jedoch aus diversen Gründen unbedingt gegen das bargeldlose Modell entscheiden:

»Warum brauchen wir denn heute noch Scheine und Münzen? Geht doch alles über die EC-Karte!« Der Bezahlvorgang erscheint einfacher und bequemer, wenn man nur ein kleines Kärtchen im Portemonnaie trägt. Der Stress entfällt, vor dem Restaurantbesuch via Google Maps noch schnell den nächsten Bankautomaten zu suchen.

Nicht zuletzt wird die Zukunft des Bargelds auch deshalb so stark diskutiert, weil es ein emotionales Thema ist. Geld ist ein Kulturgut, das wir nicht leichtfertig hergeben sollten. Deswegen: obacht_ bei der Bezahlung. __

Unsere Daten sind das Kapital der Zukunft. In einer digitalen Welt wird alles aufgezeichnet und ausgewertet. Wir liefern Unmengen privater Informationen, aus denen konkrete Kaufprofile erstellt werden können. Durch unser Kaufverhalten schließen Unternehmen ganz leicht auf die Art und die Größe unseres Haushalts. Reicht das Einkommen für Bio-Produkte? Warum werden plötzlich keine Kondome mehr gekauft? Ist eine Beziehung gescheitert oder gibt es einen Kinderwunsch? Mit der Abschaffung des Bargelds geben wir auch ein großes Stück Privatsphäre und das Recht an unseren Daten auf.

4. stichwort big data.

Auch wenn es verheißungsvoll klingt: Mit der Abschaffung des Bargelds ist der Kampf gegen den Terror noch lange nicht gewonnen. Wer denkt, es gebe in der digitalen Welt keine Kriminalität und keinen Terror, der informiere sich über das (immer noch existierende) Darknet, wo Waffen, Drogen und Falschgeld zum Verkauf stehen.

3. kartenzahlung ist kein heilmittel gegen den terror.

Grund dafür ist einfach: Bargeld ist übersichtlicher. Das Geld verschwindet in dem Moment, in dem man es ausgibt und wird nicht zu einem späteren Zeitpunkt vom Konto abgebucht, dessen Stand man sowieso nicht genau kennt.

Wird das Bargeld in Zukunft abgeschafft? Das deutsche Finanzministerium plant bereits eine Grenze für die Zahlung mit Scheinen und Münzen. Warum Bargeld viel mehr als nur eine Zahlungsart ist. Ein Kommentar.

nur bares ist wahres

Nein. Tatsächlich werden Offshore-Konten häufig für illegale Aktivitäten verwendet. Doch nicht alle Besitzer von Offshore-Konten sind zwangsläufig in der organisierten Kriminalität zu Hause. Auf der einen Seite stehen Kriminelle und Despoten, die dasselbe Ziel verbindet. Sie wollen verhindern, im Falle eines politischen Wandels oder einer strafrechtlichen Verfolgung in die finanzielle Bedeutungslosigkeit zu rutschen. Auf der anderen Seite stehen Großkonzerne und Privatpersonen, die den Haupt-

ist das konzept zwingend illegal?

Der Aufbau einer Briefkastenfirma ist relativ simpel. Man nehme ein Unternehmen X, das in Deutschland steuerpflichtig ist und seinen offiziellen Firmensitz in Berlin hat. Dieses Unternehmen setzt einen Strohmann ein, der in Panama eine Scheinfirma Y auf seinen Namen eröffnet. Diese neue Firma erstellt fiktive Rechnungen für nicht erbrachte Leistungen, um Geld aus dem in Berlin ansässigen Mutterkonzern nach Panama zu transferieren. Auf diese Weise wird der Gesamtgewinn und die somit zu entrichtende Steuerlast verringert, während das Geld in Panama Kapitalerträge generiert.

aufbau einer briefkastenfirma

kommentare

leben

Der Feind der Finanzwirtschaft sind nicht einzelne Staaten und deren Finanzminister. Vielmehr sind es diejenigen, die den Investoren den schmalen Grat zwischen Steuerhinterziehung und Steuervermeidung ermöglichen und aufzeigen. __

Auch Deutschland ist ein Steuerparadies für ausländische Investoren und Despoten. Deutsche Banken verwalten drei Billionen Euro von ausländischen Personen, auf die keine Quellensteuer erhoben wird. Das bedeutet konkret, dass der deutsche Staat keine Steuern auf Zinseinkünfte von ausländischen Geldern einfordert. Da Deutschland Kapitalgewinne nur in seltensten Fällen an das Heimatland übermittelt, bleiben sie steuerfrei. Somit landen wir wieder bei der angesprochenen Scheinheiligkeit.

deutschland – ein traumdomizil für steuervermeidung

wohnsitz nach Panama verlegen, um Doppelbesteuerung zu umgehen.

Panama Papers, Briefkastenfirmen, Mossack Fonseca. Nach den hochstilisierten SZ-Recherchen über zwielichtige Steuerpraktiken folgte ein Aufschrei, der zwischen Causa Böhmermann und Ägäis schnell in einer Debatte der Scheinheiligkeit versunken ist. Die Crux: Kaum jemand versteht, um was es eigentlich geht. Ein Crashkurs für Finanz-Noobs.

text amir layout leyla demirhan

steuervermeidung: legal, illegal, scheißegal


ressort reportage leben art

pokerface text roxanne franz illustration trad burmawi layout tim kirchner

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reportage

leben

Regungslos sitzt Uwe auf seinem Stuhl. Die Finger stützt er auf dem samtüberzogenen Tisch vor sich ab. Sein Körper wirkt unnatürlich steif. Uwes Blick ist auf Til gerichtet, der seit zwei endlos langen Minuten nach vorne starrt. Im Raum ist es still. Til greift nach dem kleinen goldenen Chip und legt ihn sanft, beinahe bedächtig, in die Mitte des Tisches. Noch immer sieht er niemanden an. Noch immer sagt keiner einen Ton. Auf dem Chip steht: »All in.«

Uwe und Til sind Pokerspieler. Jeden Freitag treffen sie sich in kleiner Runde in ihrem Vereinsheim im Norden Berlins, um zu trainieren. Zwei Pokertische, ein Beamer und eine Vitrine mit Pokalen zieren den Raum. Lars, der Gründer des Vereins, holt sich eine Cola aus der Küche. »Mehr brauchen wir hier nicht«, sagt er und grinst sichtlich stolz. Rund 130 Pokervereine entstanden in den letzten zehn Jahren in Deutschland. Poker ist mittlerweile das beliebteste Kartenspiel der Welt. Als der Amateurspieler Chris Moneymaker 2003 mit einem Buy-in von 39 Dollar 2,5 Millionen Euro gewann, erlebte der Denksport einen enormen Aufschwung. In der Pokerszene brach Goldgräberstimmung aus. »Angefangen habe ich in privater Runde mit Freunden«, erzählt Lars. »Viele meiner Mitspieler haben aufgehört. Deswegen habe ich diesen Verein gegründet.« faszination pokerspiel Manche Menschen machen aus ihrem Hobby eine ganze Lebensaufgabe. Sie wälzen sich durch Fachliteratur, tauschen monatelang Erfahrungen auf Internetforen aus und gehen immer wieder das Risiko ein, den Pokertisch mit erheblichen Verlusten zu verlassen. Doch es ist nicht nur das Geld, das lockt. Für die Mitglieder des Vereins in Berlin-Reinickendorf geht es um mehr. Ein weiterer Mitspieler sagt: »Es klingt vielleicht banal, aber beim Pokern kannst du für’s Leben lernen. Du lernst, Chancen und Risiken besser einzuschätzen, und wie du dich in schwierigen Situationen am besten entscheidest. Du schulst deine Menschenkenntnis.« Vereine müssen sich laut Gesetz ausdrücklich von kommerziellen Zwecken distanzieren. Sie bieten Spielern wie Uwe und Til einen Rahmen für ihr Hobby. »Leute, wir spielen heute Pokercocktail! 25 Minuten Texas Hold’em, danach geht es weiter mit Omaha. Los, auf geht’s, jeder auf seinen Platz«, fordert Lars seine Mitspieler auf. Vor der Partie ist die Stimmung locker, fast familiär. Dann wird es plötzlich ernst. Die Musik ist aus, der Timer an, die Zeit läuft. Til schweigt. Nach ein paar Runden stapelt er die Chips wie kleine Hochhäuser vor sich. Den Kopf auf seine Hand gestützt, verschwindet er fast unter dem Tisch. Sein verschlossenes, schwammiges Gesicht ist unter Cap, Brille und Schal kaum zu erkennen. Gekonnt hat er seine Körpersprache auf ’s Mindeste reduziert, einzig und allein seine Finger spielen immer und immer wieder mit den Chips. Er gewinnt die vierte Runde in Folge mit einem Drillingspärchen. der bluff »Als unerfahrener Spieler musst du dich auf dein Glück verlassen. Ich überlasse nichts dem Zufall. Wenn ich im Casino ein Turnier spiele, trage ich immer Anzug und Krawatte. Das wirkt

sofort seriöser, tighter, einfach gefährlicher«, berichtet ein Spieler des Vereins. Das Image am Tisch sei beim Pokern das Entscheidende. Hat ein Spieler zum Beispiel den Ruf, zurückhaltend und vorsichtig zu agieren, kann er im richtigen Moment seine Gegner mit einem aggressiven Zug überrumpeln. Darüber hinaus greifen erfahrene Spieler gerne in die Trickkiste, um ihr Gegenüber mit Bluffs in die Irre zu führen. »Das nachlässige Schmeißen von Chips soll den anderen suggerieren, dass einem die Höhe des Einsatzes egal ist. Und natürlich demonstriert es Stärke«, sagt Til. Auch der Augenkontakt ist ein psychologisches Instrument, um den Spielverlauf zu beeinflussen. Üblicherweise deutet es auf ein gutes Deck hin, wenn ein Spieler nach Auffür mich hat deckung der Gemeinschaftskarten zuerst auf seine Chips blickt - doch poker sehr wenig genau diese Verhaltensweise könnte ein Bluff sein. mit glück zu tun. können oder glück? Aber auch erfahrene Spieler können sich nicht nur auf ihre Fähigkeiten verlassen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Universität Bremen, die 2012 im Fachblatt »Journal of Gambling Studies« erschienen ist. Erfahrene Zocker gewinnen demnach nicht mehr Geld als durchschnittliche Spieler. Entscheidend sei maßgeblich die Verteilung der Karten. Schon 2009 kam das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zu einem ähnlichen Urteil: »Das Pokerspiel ist ein überwiegend von nicht steuerbaren Zufallselementen abhängiges Glücksspiel; an diesem Charakter ändert sich auch nichts, wenn es im Rahmen eines Turniers gespielt wird.« Lars dagegen ist von dieser Einschätzung genervt. »Für mich hat Poker sehr wenig mit Glück zu tun«, sagt er. Mit dieser Meinung ist er nicht allein. In einem bekannten Pokerforum kommentiert ein User: »Schon krass, dass Leute behaupten, Poker wäre nur Glück. Ich behaupte dann auch mal was: Diese sind keine Winningplayer!« der showdown Als es schließlich zum Showdown zwischen Uwe und Til kommt, herrscht Hochspannung. Uwe, ein Spieler mit aggressiver Taktik, erhöht den Einsatz. Dann bohrt sich sein Blick durch die Maske des Gegners. Das monotone Rasseln der Chips ist das einzige Geräusch im Raum. Bis auf Uwe, der Til anstarrt, blicken sich die Spieler kaum an. Minuten vergehen. Die Stimmung ist bedrückend. Til geht »All in« und verliert alles. Heute Abend ist das Spiel für ihn vorbei. Kaum hat er seine Chips an Uwe abgegeben, hellt sein Gesicht auf. Lachend drückt er ihn an sich. __

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obacht_ #3


leben

essay

text paulina noah layout tom reed

Mit 17 Jahren bist du im Idealfall Papas Liebling. Als sein kleines Mädchen genießt du unantastbaren Schutz. In der Regel ist dein Vater aber auch mehr auf der Arbeit als zu Hause – es folgt sein schlechtes Gewissen. Das Prinzip »sagt Mama nein, frag’ ich Papa« geht dadurch meistens auf. Mit 17 waren meine Eltern bereits seit drei Jahren getrennt. Deshalb falle ich bei all diesen Punkten durch das Raster. Ab dem Zeitpunkt der Trennung hatte ich aufgehört, mit meinem Vater zu reden. Ich war so wütend und verletzt über die Scheidung, dass ich ihm genau dasselbe antun wollte. Leider weiß ich erst heute, dass es damals nur ein verzweifelter Ruf nach Aufmerksamkeit war. Vor vier Jahren wollte ich nichts lieber, als so schnell wie möglich erwachsen werden, auf eigenen Beinen stehen und mit meinem Vater nie wieder etwas zu tun haben. Verletzt durch mein Schweigen reagierte mein Vater auf seine ganz eigene Weise – er strich mir meinen Unterhalt. Anfangs war mir das Geld egal, denn meine Freiheit war mir wichtiger. Ich wollte unabhängig sein. Was ist schon Geld, wenn ich es es schaffe, meinen Schmerz zu kompensieren und den anderen mindestens genauso leiden zu lassen?

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Doch jeder rebellische Gedanke findet seine Grenzen. Ich merkte, dass das Gehalt meines Minijobs nicht zum Überleben reichte. Obwohl mir die Zahlungen meines Vaters zustanden, blieb mein Konto leer. Ich hatte bisher nichts unternommen, weil ich ihm nichts schulden wollte. Hätte ich ihn angerufen, um darüber zu sprechen, würde eine Bedingung daran geknüpft sein. Meine Liebe sollte nicht käuflich sein. Keine Liebe sollte käuflich sein. Die Liebe der Eltern sollte bedingungslos sein. Als ich vor der Tür stand, starrte ich die Klingel an. Der Schritt über die kleine Schwelle am Eingang fühlte sich in meinem Herzen an wie der endgültige Abschied. Als hätte ich aufgegeben. Der Boden knarrte, als ich zum ersten Mal die Kanzlei betrat. Sie lag in einem dieser schönen Altbauten, in denen das Geländer im Treppenhaus kunstvoll verziert ist. Ich dachte immer: »Wenn du in einer Anwaltskanzlei bist, fühlst du dich klein und hilfsbedürftig. Die großen Männer im Anzug zeigen dir, wie das Leben läuft.« Doch ich hatte mir anscheinend eine Kanzlei ausgesucht, die nur aus Frauen bestand. Bis auf den Golden Retriever, der mir direkt in die Arme lief. Zu meiner Überraschung trugen die Angestellten auch keine Anzüge. Die Kanzlei war groß, offen und hell, die einzelnen Büros verglast und meine Anwältin eine ältere Dame, die mir eher wie eine entfernte Bekannte vorkam, als die Frau, die für mein Recht kämpfen sollte. Sie unterbrach mich nicht ein einziges Mal, während ich erzählte, warum ich hier saß. Danach erklärte sie mir, wo meine Rechte liegen, ob ich meinen Vater verklagen kann und welche Paragraphen für mich sprechen. Sie erzählte mir von ähnlichen Fällen und versuchte, Parallelen zu ziehen.

Doch in meinen Augen war es unmöglich, etwas Vergleichbares zu finden. Mir ging es nie um das Geld. Vielmehr ging es von Anfang an um Schmerz. Es ging um Verlustangst und Verletzlichkeit, die kein Ventil zum Entweichen fanden. Ich habe es nicht meiner Anwältin zu verdanken, dass ich heute meinen Unterhalt beziehe. Sie war höchstens die Brücke, die ich brauchte, um zu verstehen, dass es nichts bringt, Schmerz mit Schmerz zu bekämpfen. Als wir das erste Schreiben aufsetzten, wusste ich schon nicht mehr, wieso ich jemals an der Tür geklingelt hatte. Ich habe kein Problem damit, meinen Mund aufzumachen und jedem Menschen zu sagen, was ich denke. Warum sollte meinem Vater ein Gespräch erspart bleiben? Die Anwälte konnten nie nachvollziehen, um was es wirklich ging. Ihr Verständnis beschränkte sich auf Gehaltsnachweise und Düsseldorfer Tabellen. Ich bin vielleicht nicht unabhängiger geworden, indem ich zu einer Anwältin ging, aber ein Stück erwachsener, als ich anfing, zu realisieren: Manchmal sind Erwachsene unbeholfener in ihrem Umgang mit Kindern, als ihre Kinder mit ihnen. Ganz unabhängig davon, wie alt die Kinder sind. Und manchmal müssen wir als Kinder lernen, zu verzeihen und unseren Eltern eine Chance geben. Denn ab wann sind wir schon erwachsen? Sind wir nicht auch junge Erwachsene, die eigenen Erwartungen nicht gerecht werden? Was bedeutet es, erwachsen zu sein? Für mich bedeutete es zunächst einmal, mein Telefon in die Hand zu nehmen und meinen Vater anzurufen. __


essay

leben

was du das fĂźg nicht auch willst keinem dass man andern dir tu zu 17

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medien

ratgeber

wie du als freier journalist überlebst text thorsten gutmann layout tim kirchner & tom reed

»Heute würde ich jedem davon abraten, in den Journalismus einzusteigen«, warnt mich ein langjähriger Spiegel-Redakteur. Der Spiegel-Verlag streicht bis Ende 2016 rund 150 Vollzeitstellen. Gruner + Jahr wirft zwischen 2014 und 2017 bis zu 400 Mitarbeiter raus. Die Westfälische Rundschau verzichtet seit 2013 komplett auf Journalisten und druckt nur noch Texte von Fremdredaktionen. Mit dem Platzen der Dotcom-Blase sind üble Zeiten für Journalisten angebrochen. Besonders hart trifft es Berufsanfänger. Wir werden kaum respektiert, sind unter­ bezahlt und gleichzeitig immer härteren Anforderungen ausgesetzt. Crossmedialität, Nischenkompetenzen, der strenge Berufsethos – wie überleben junge Menschen auf diesem Schlachtfeld? Aus Beobachtungen meines Umfelds weiß ich, dass nicht alle Hoffnung verloren ist. Wenn

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du Ehrgeiz zeigst, strukturiert arbeitest und Redaktionen mit Textangeboten nervst, kannst du dich über Wasser halten. Sollte dir keine Vollzeitstelle vergönnt sein, hangelst du dich gemeinsam mit ca. 26.000 freien Journalisten (DJV, 2012) über den Abgrund. Doch im Mediendschungel lauern überall Gefahren. Wenn du als freier Journalist über­ leben willst, gilt es einige Spielregeln zu beachten. Jeder will dir an den Kragen: Die Konkurrenz klaut Themen, das Finanzamt bettelt um Almosen und auf kritische Berichte reagieren Unternehmen mit einer Armada von bösartigen Anwälten. Ich habe für diesen Artikel sowohl Newbies als auch erfahrene Kollegen befragt, wie sie als freie Journalisten mit dem Berufsdruck umgehen. Dabei habe ich einige nützliche Ratschläge erhalten, die ich euch nicht vorenthalten möchte. __


ratgeber

überlege gut, welche art  von journalismus zu   dir passt Welche Themen passen zu dir? Schärfe dein Profil und suche dir eine Nische. Überlege eine Standard-Antwort auf die Frage, welchem Beruf du nachgehst.

medien

erstelle einen  wirtschaftsplan   sorge dich um deine zukunft

Als freier Journalist bist Du ein Existenzgründer. Lass dich bei der Erstellung des Wirtschaftsplans von Berufsverbänden beraten und überprüfe, wo du Zuschüsse beantragen kannst.

Mit der Künstlersozialversicherung werden Publizisten in den Schutz der gesetzlichen Sozialversicherung einbezogen. Informiere dich unbedingt über die Angebote der Künstlersozialkasse (KSK).

sei multimedial   dokumentiere

deine ausgaben Miete, Lebensmittel, Versicherungen – ohne Kostenüberblick verlierst Du schnell die Kontrolle über dein Leben.

lass dich nicht verarschen Verkaufe deine Arbeit niemals unter Wert. Verhandle jedes Honorar. Befrage Kollegen nach ihren Honoraren und erstelle ein Verhandlungsskript, dass dich bei der Argumentation unterstützt.

vermarkte dich selbst Pflege deine Auftritte in den sozialen Netzwerken (Xing, Twitter, Facebook) und erstelle ein Exposé auf Journalisten-Netzwerken wie torial (www.torial.com) oder kressreport (www.kress.de).

trenne zwischen beruf  und privatleben Es ist wichtig, sowohl zu Hause abzuschalten als auch konzentriert zu arbeiten. Besorge Dir ein Büro! Wenn Du dir kein eigenes Office leisten kannst, dann teile es mit anderen Kollegen und informiere dich über Coworking-Spaces in deiner Umgebung.

schließe berufliche kontakte  Sei aktiv! Besuche Berufsmessen, Podiumsdiskussionen und Fachveranstaltungen. Schreibe E-Mails und triff dich mit Kollegen zum Abendessen.

Erlange Kompetenzen in den Bereichen Text, Foto, Video und Online. Als freier Journalist musst Du alle Kanäle bedienen und querverwerten.

such dir mentoren  Bitte die alten Hasen um Unterstützung. Nachwuchsjournalisten haben oft die Möglichkeit, Mentoring-Programme in Anspruch zu nehmen. Überprüfe die Angebote von politischen Stiftungen, Berufsverbänden und dem Zentrum für angewandte Kompetenz.

kläre deinen status  Es gibt große Unterschiede zwischen Gewerbetreibenden, Freiberuflern und Kleinunternehmern. Überlege dir im Vorfeld, welche Rechtsform zu deinem Job passt.

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» DER medien bericht

ZOFF UM DEN DOSENVEREIN

Er ist einer der reichsten und zugleich meistgehassten Fußballclubs in Deutschland. Die Rede ist nicht vom FC Bayern München, sondern von RB Leipzig. 2009 gegründet, gerät der Verein aufgrund des Engagements und der Investitionen von Red Bull bundesweit in Ungnade. Fans anderer Mannschaften prügeln verbal auf den Club ein, verschmähen und despektieren ihn. Sportexperten und Journalisten warnen gar vor dem Untergang des deutschen Fußballs. Sieben Jahre später scheint der Frust vergessen. Die sportlichen Erfolge von RB Leipzig bereichern nicht nur den ostdeutschen Fußball, sondern auch die Wirtschaftskraft Sachsens. Gegner des neuartigen Fußballprojekts gibt es dennoch. text robert rienass layout tobias peil

Rückblick: 13. Juni 2009. Der neugegründete Fußballverein RB Leipzig übernimmt das Spielrecht vom SSV Markranstädt und startet kurze Zeit später den Spielbetrieb in der fünften Liga. Die Übernahme und der Einstieg Red Bulls in den deutschen Fußball ist für viele traditionsreiche Fans ein Schlag ins Gesicht. Aus Neid und Missgunst beschädigen Anhänger des SSV Markranstädt die Werbebanden von RB und zerstören den Spielfeldrasen mit Unkrautbekämpfungsmittel. Testspiele gegen Union Berlin und Hessen Kassel müssen aufgrund von Fanprotesten abgesagt werden. In den Medien warnen Fußballexperten immer wieder vor der Kommerzialisierung des deutschen Fußballs und dem Rückgang der Fankultur. Tobias Kollmann, Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger Präsident von Viktoria Köln redet gar von einem »sportpolitischen Erdbeben«. Das Projekt RB wäre der letzte Beweis dafür, dass das Geld nun vollkommen den Fußball regiere, so die Kritiker. Doch wie stehen Fans und Medien sieben Jahre nach der Gründung des Clubs zum führenden Leipziger Fußballverein? In der kommenden Saison spielt RB Leipzig erstmals in der Fußballbundesliga. Fans und Experten prognostizieren dem Verein am Ende der kommenden Spielzeit eine Platzierung im Mittelfeld, manche sogar den Einzug in einen europäischen Wettbewerb. Die Vorwürfe, Red Bull würde den Verein für eigene Wirtschafts- und Marketingziele missbrauchen, verstummen langsam, denn mit dem sportlichen Erfolg des Vereins wächst auch die Zahl der Arbeitsplätze in Sachsen. Bundesweit haben Bürger erkannt, dass das Engagement von Red Bull nicht nur dem Unternehmen selbst, sondern auch dem ostdeutschen Fußball und dem wirtschaftlichen Aufstieg der Region dient. Auch in den Medien geht die Kritik an RB Leipzig spürbar zurück. Viele Journalisten mahnen vor Hetzkampagnen gegen den Fußballclub und fordern mehr Gelassenheit. »Es geht bloß um Fußball - nicht um Leben und Tod«, schreibt Sportredakteur Jens Hungermann auf welt.de. Dennoch richten sich die Stimmen einiger Fans weiterhin hartnäckig gegen RB. 2014 schließen sich Fangruppen mehrerer deutscher Vereine zu-

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sammen und gründen die Initiative »Nein zu RB«. Die Organisation versteht sich als eine Fanprotestbewegung, die sich explizit gegen das Leipziger Fußballmodell richtet. Sie kämpft gegen die Kommerzialisierung des deutschen Fußballs und gegen die Akzeptanz RB Leipzigs in der Gesellschaft. Im Sommer 2014 erreicht die Organisation mit ihrem Banner »Wir scheißen auf RB« große mediale Aufmerksamkeit. Die Welt beschreibt die Aktion als »organisierten Hass«, auch der Spiegel missbilligt die Aktion von »Nein zu RB«. Immer wieder feinden Anhänger der Initiative Spieler von RB Leipzig offenkundig an und initiieren Hetzkampagnen bei Fußballduellen und Karnevalsumzügen. Die Kritik gegen das Engagement von Red Bull habe neuartige und beschämende Ausmaße angenommen, die man nicht einfach so hinnehmen könne, schreibt ein Spiegel-Redakteur. Die Verantwortlichen von »Nein zu RB« nehmen ihre Anhänger in Schutz und relativieren den negativen Medienhype um ihre Organisation. Man sei eine Initiative, die RB auf sachlicher Ebene begegnen wolle, heißt es. Außerhalb der Stadien argumentiert die Initiative durchaus mit konstruktiven Beiträgen für einen deutschen Fußball ohne Red Bull. Auf ihrer Internetseite betonen die Mitglieder der Organisation unter anderem, dass RB Leipzig gegen die Gesetze des deutschen Fußballbundes verstoße. So verweisen sie auf § 15 Abs. 2 der DFB-Satzung, in der es heißt: »Änderungen, Ergänzungen oder Neugebungen von Vereinsnamen und Vereinszeichen zum Zwecke der Werbung sind unzulässig.« Gleichzeitig beklagt die Initiative mangelnde Demokratie bei der Wahl der Vereinsführung von RB. Ein juristisches Vorgehen gegen den Leipziger Fußballverein hält die Organisation jedoch für zu gewagt. Die Verantwortlichen von »Nein zu RB« wissen, dass sie vor Gericht kaum Aussichten auf einen Erfolg hätten. Deswegen setzen sie auf Aufklärungsarbeit. »Wir möchten die Leute eher wachrütteln, ihnen die Lücken und Graubereiche im deutschen Fußball aufzeigen und dazu animieren, diese zu schließen. Wir möchten nicht, dass die Leute das Modell RB Leipzig akzeptieren.« __


n e t a d n e k a kr essay

medien

Big Data – Gabeln vermessen die Essgeschwindigkeit, während Forscher mit der Dynamik des Tippens auf Charaktereigenschaften schließen. Unternehmen verwerten und analysieren große Datenmengen. Aber was passiert mit unseren Informationen?

Wir leben in einer computerisierten Gesellschaft, in der nahezu jedes internetfähige Gerät die Daten seines Nutzers sammelt. Die Auswirkungen der digitalen Überwachung sind für jeden einzelnen spürbar. Nicht etwa in Form eines Spionageakts, sondern eher in der Gestalt eines Virus im Körper. Zu Beginn der Infektion nehmen wir den Virus nicht bewusst wahr. So breitet er sich schnell und unbemerkt aus. Wenn unser Immunsystem die veränderten Zellen erkennt und aktiv bekämpft, folgen Symptome, die wir schließlich bemerken.

text laura kirsten layout bastian ötken

So ähnlich verhält es sich auch mit der Überwachung unserer digitalen Daten. Immer mehr Alltagsgegenstände werden mit Sensoren ausgestattet, die persönliche Daten wie Puls oder Atmung messen. Aber wir wissen nicht, auf welche Daten zugegriffen wird. Und genau in diesen Bereichen werden Unternehmen wie die Deutsche Post oder Arvato aktiv. Dabei werden die großen Unternehmen immer intransparenter.

über diesen text Ein Artikel - zwei Autoren. Die beiden Texte beschäftigen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Thema "Big Data". Du musst das Magazin nur im richtigen Moment drehen!

Installieren wir beispielsweise eine App auf unserem Smartphone, müssen wir bestimmte Zugriffe bestätigen. Meistens tun wir das auch. Schließlich wollen wir die App nutzen. Eine Untersuchung ergab jedoch, dass 31 Prozent der 1.200 populärsten Apps auf Daten zugreifen, ohne dass es für ihre Funktion nötig wäre. Wir ketten unsere Fahrräder aus Schutz vor Diebstahl an Betonpfähle und Metallstangen, öffnen aber Unternehmen bereitwillig die Tür zu unserer Netzidentität. Unternehmen erfassen im Internet jede unserer Handlungen, jede Suche und jede Aktivität. Sie analysieren diese gesammelten Daten und erstellen Persönlichkeitsprofile. Im Rahmen einer Schweizer Studie untersuchten Forscher 2011 den Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit eines Menschen und seiner Smartphone-Nutzung. Anhand der Daten konnten sie mit einer Genauigkeit von bis zu 76 Prozent auf die Charaktere der Probanden schließen. Die Studie betrachtete Daten, die jeder Mobilfunknetzbetreiber aufzeichnet: Das Verhältnis zwischen Kontakten und Interaktionen, die Antwortrate auf Nachrichten und Anrufe sowie den Zeitabstand zwischen Anrufen und Nachrichten. Anhand dieser Werte konnten sie auf Gewissenhaftigkeit, Offenheit oder Neurotizitismus der Nutzer schließen. Aus der Dynamik des Tippens beim Schreiben einer Nachricht leiteten sie emotionale Zustände ab. So schlussfolgerten sie, ob der Nutzer nervös, zuversichtlich, unschlüssig, entspannt oder traurig ist.

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a m e t l l so t h c i n e h c i e r t s essay

Unternehmen verwenden die gespeicherten Daten in unterschiedlichen Bereichen und zu unterschiedlichen Zwecken. Beispielsweise um Marketingstrategien zu entwickeln, mit denen die Kauflust der Kunden erhöht wird, oder um Einsparungen zu tätigen. Dies funktioniert, indem sie den Aufenthaltsort von Personen anhand von GPS-Daten tracken. Somit haben die Unternehmen die Möglichkeit, gezielter zu werben. Auch Personalentscheidungen lassen sich durch das Datensammeln vereinfachen: Startups wie ConnectedCube können die zukünftige Arbeitsleistung von Angestellten voraussagen - und das nur mithilfe digitaler Daten. Doch wer interpretiert unsere Datenmengen unter welchen Aspekten? Schlussfolgerungen führen zu Kategorisierungen. Wir haben keinen Einfluss darauf, in welche Schublade wir gesteckt werden.

Bertelsmann, Otto und die Deutsche Post sind Marktführer im Handel mit Adressen und Persönlichkeitsprofilen.

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Viren sind ansteckend. Sie bleiben nicht bei ihrem Wirt, sondern suchen sich bereits nach kurzer Zeit ein neues Opfer. Auch Big Data wird erweitert und bleibt nicht in seiner ursprünglichen Form erhalten. Ein Beispiel dafür ist die Kommunikation von Objekten mit dem Internet. Vor einigen Jahren war diese technische Neuerung kaum greifbar, mittlerweile gibt es Blumentöpfe, die Pflanzen autonom bewässern, einen Roboter Ray, der am Flughafen in Düsseldorf Autos selbstständig einparkt und vernetzte Gabeln, welche die Essgeschwindigkeit messen. Natürlich haben Viren auch eine positive Seite. Jene, die Magen-Darm-Entzündungen auslösen, können gleichzeitig helfen, eine zerstörte Darmflora wieder aufzubauen. Big Data eröffnet Unternehmen und Einzelpersonen eine neue Welt. Eine schnelle Datenverarbeitung und Datenverwertung erleichtert die Kommunikation, vereinfacht Analysen, schafft Wettbewerbsvorteile und macht das tägliche Leben bequemer. Big Data greift dabei in fast alle Bereiche, von Logistik bis Gesundheitswesen, und verringert zeitliche und räumliche Distanzen. In der Forschung, speziell in der Entwicklung von künstlicher Intelligenz, ist Big Data unerlässlich.

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medien

Verantwortungsvoll eingesetzt, kann Datensammeln das Leben der Menschen aufwerten, vereinfachen und organisieren.

Wichtig ist es, sich nicht lähmen zu lassen, denn Big Data kann den eigenen Horizont schnell mit Informationen überschwemmen. Wir können nicht alles verstehen, aber wir können eine Sensibilität für unsere persönlichen Daten entwickeln. Viele unserer Daten sollten wir wahren, ehe wir sie leichtfertig der Öffentlichkeit zugängig machen. Denn dann besteht die Möglichkeit, dass Unternehmen diese falsch interpretieren. Für die Zukunft ist es wichtig, Transparenz zu schaffen. Bürger müssen Einsicht in ihre Daten und deren Analysen erlangen, sie müssen wissen, welche Informationen gespeichert werden und die Möglichkeit erhalten, diese zu kontrollieren. Denn auch ein Virus kann nicht ohne seinen Wirt überleben. Zudem sollten die digitalen Kompetenzen der Bürger erhöht und die europäische Datenschutzverordnung an die aktuellen Entwicklungen angepasst werden, um vor Datenmissbrauch und Manipulation zu schützen. Der Einzelne sollte sich genau überlegen, welche Daten er preisgibt. Verharmlosen sollte man die niedlich erscheinenden Datenkraken jedenfalls nicht. __


medien

aten a kapit

essay

text oliver przybilka layout bastian ötken

Daten als Kapital – Facebook im Selbsttest.

Ich klicke mit der Maustaste auf »Bestätigen«. Ein kleines Pop-upFenster springt auf – der Download startet. Die blaue Leiste bewegt sich langsam. Zu langsam. Wie viel Zeit kann es schon in Anspruch nehmen, ein einfaches Dokument herunterzuladen? Mark Zuckerberg und seine »soziale Mission für eine offenere und verbundenere Welt« belehren mich eines Besseren: Es kann sehr lange dauern.

Das Bundesdatenschutzgesetz regelt in § 9, dass Nutzern Auskunft über die zu ihrer Person gespeicherten Daten, die Empfänger, an welche die Daten weitergegeben werden, sowie den Zweck der Speicherung gewährt werden muss. Mit wenigen Klicks kann ich meine gesamte Facebook-Historie einsehen und tiefe Einblicke in meine digitale Vergangenheit gewinnen. Die Ausmaße der von Facebook gesammelten Daten zu meiner Person sind erstaunlich, aufschlussreich, aber vor allem eines: erschreckend! Ich bin neugierig und scrolle langsam durch die ersten fünf bis zehn Seiten. Zuerst sehe ich Werbeanzeigen, die ich auf Facebook angeklickt habe. Manche spiegeln meine Interessen wider. Bei anderen wiederum schlage ich die Hände vor mein Gesicht: »Sensation: Kollegah & Fler treten im Oktober im Ring gegeneinander an!« Ich überfliege die nächsten Seiten, auf denen alle Veranstaltungen aufgelistet werden, für die ich mich interessiert habe oder auf denen ich tatsächlich zu Gast war. Meine Gedanken driften ab und ich schwelge in Erinnerungen, als Geburtstagfeiern, Unipartys oder das »Electronic Summer Beats Open Air« an meinen Augen wie im Zeitraffer vorbeiziehen. Jeder Eintrag löst ein Gefühl in mir aus, bringt längst vergessene Erlebnisse für einen Sekundenbruchteil zurück in mein Gedächtnis und verschwindet durch ein kurzes Drehen an dem Rädchen meiner Maus schnell wieder in einer tief verborgenen Schublade meines Gehirns.

Zu dem FacebookKonzern gehören mittlerweile ebenfalls Instagram, sowie WhatsApp.

Inzwischen bin ich bei Seite 60 angelangt. Ich klicke auf die Kategorie »Messages« und ein neues Dokument öffnet sich auf meinem Bildschirm. Wie gebannt sitze ich vor meinem Laptop, als mir bewusst wird, dass vor mir ein Berg aus 4.230 Seiten persönlicher Nachrichten liegt. Von meiner ersten Nachricht bis zu meiner letzten, sortiert nach Freunden und Datum. Eine Datenmenge, die ausgedruckt einen halben Meter hohen Papierstapel ergeben würde. Ich versuche, mich zu orientieren und durchstöbere zunächst die alten Nachrichten, beginnend bei Sonntag, 27 März 2011 um 12:07 UTC+02.

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Ein Freund erzählt mir von einem Beziehungsstreit, ein anderer von psychischen Problemen und eine Unterhaltung zeigt, dass Facebook einen tragischen Moment für immer konserviert hat: Einen Todesfall. Intime Gespräche und Gedanken, die man nur mit seinen engsten Vertrauten teilt oder in ein Tagebuch schreibt, um es anschließend an einem geheimen Ort zu verstecken, kann Facebook jederzeit von seinen riesigen Serverfarmen abrufen. Ich bin fassungslos. Nach dem NSA-Skandal spielte ich oft mit dem Gedanken, mein virtuelles Ich von der Plattform zu verbannen. Am Ende siegte immer das gleiche Argument, das vermutlich ebenso ignorant wie weitläufig ist: Ich veröffentliche in sozialen Netzwerken nur, was ich mit meinem virtuellen Freundeskreis teilen will. Also habe ich nichts zu verbergen. Für wen sollen meine Daten schon einen Wert haben, außer für die Werbewirtschaft?

an t n l e

Ich möchte Edward Snowden nicht als Wendepunkt für mein Verhältnis zum Datenschutz und zur Vorratsdatenspeicherung bezeichnen. Es wäre eine Lüge. Viele meiner Freunde sahen in dem tragischen Fall den Ursprung für ihren persönlichen Paradigmenwechsel. Ich konnte es nachvollziehen, aber nicht nachempfinden. Seien wir ehrlich: Das Sammeln und Auswerten von Nutzerdaten ist nichts Neues. Trotzdem sitze ich nun in der Dunkelheit vor meinem Laptop, der den Raum mit künstlicher Helligkeit erfüllt. Ich lese Zeile für Zeile, starre gebannt auf alte Gesprächsverläufe. Wie ein spannendes Buch fesseln mich manche Passagen, lassen mich den weiteren Verlauf des Frage-Antwort-Spiels freudig erwarten, um am Ende doch zu hoffen, dass alles ein gutes Ende findet. Doch das tut es nicht immer, denn die Gespräche des biergetränkten Protagonisten, der sich mit jugendlich albernen Wortgefechten durch Satzgefüge schlängelt, sind nicht die einer Kunstfigur: Es sind meine eigenen. Inzwischen wünsche ich mir, dieses Buch, das mit seinen 4.230 Seiten eine unendliche Geschichte erzählt, nie aufgeklappt zu haben. Das Problem ist nicht nur, dass Vergessenes ins Hier und Jetzt geholt wurde. Sondern auch die neue Gewissheit, dass jemand Unbekanntes all das lesen kann. »Ich veröffentliche in sozialen Netzwerken nur, was ich mit meinem virtuellen Freundeskreis teilen will« – ein Argument, das auf immer hinfällig ist. Mark Zuckerberg sagte einst:

»The question isn't, 'What do we want to know about people?', it's 'What do people want to tell about themselves?‘«

Jeder muss selbst wissen, was er von sich preisgibt. Überwacht werden wir sowieso. __


ressort

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von luftballons und drachen text vivien krĂźger layout & illustration lisa hildebrandt

ich fĂźhle mich wie in einer anderen stadt, in einem anderen land, ja fast sogar wie auf einem anderen planeten.

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reportage

das white trash – ein erlebnis für sich Lichter spiegeln sich im Wasser. Mein Weg führt mich an der Spree entlang, bis ich Industriegelände betrete. Musik dröhnt aus der Ferne. Vereinzelt stehen dunkle Gestalten im Schatten der gedämpften Lichter. Ich schnappe Gesprächsfetzen von zwei Frauen auf, die sich leise auf Englisch unterhalten. Ein süßlich-herber Duft liegt in der Luft. Über meinem Kopf funkeln rote Lichter. Der Mond wirft ein silbernes Licht auf die Graffitis an der Wand und lässt sie bedrohlich erscheinen. Eine warme Brise streicht durch mein Haar und ich bekomme Gänsehaut. Plötzlich höre ich ein Kreischen hinter mir, das sich in schrilles Lachen verwandelt und die magische Atmosphäre unterbricht. Ich drehe mich um und sehe einen Mann, der sein Bier abstellt, durch die Beine einer Frau springt, auf den Asphalt klatscht und in Gekicher verfällt. Ich lasse den Gang mit den Graffitis und den roten Lichtern hinter mir und gelange zu den Überresten eines heruntergekommenen Wohnanhängers. Umrahmt von Jannowitz- und Oberbaumbrücke verbergen sich rote, mit chinesischen Serifen geschmückte Buchstaben, die auf dem Anhängerdach thronen: »White Trash Fast Food.« Alle paar Sekunden steigen Flammen hinter dem Schild in die Nacht – Dramatik pur. Als ich den Anhänger passiere, eröffnet sich mir ein Garten mit Holzbänken, über denen Lampions und Girlanden in allen Farben schweben. Ich stehe vor dem Eingang des White Trash, der von einem riesigen, sich windenden Drachen bewacht wird. Als ich eintrete, strömen zu viele Eindrücke auf mich ein: Das asiatisch angehauchte Inventar, das an die frühere Location in der Schönhauser Allee erinnert, die rot-weiß-karierte Tischdecke, Kerzenlicht, die schrille Karaokemusik und das bunte Getümmel von einzigartigen und außergewöhnlich aussehenden Menschen. Ich fühle mich wie in einer anderen Stadt, in einem anderen Land, ja, fast sogar wie auf einem anderen Planeten. Die Speisekarte reicht von Entrecôte und Curry­ wurst über Veggie-Burger bis hin zu Fuck-YouFries und hausgemachten Öko-Eistees. »Exotisches Essen nach Hausfrauenart«, wie sie es selbst bezeichnen. Der Laden scheint zu boomen. Doch wieso kursieren Gerüchte, das White Trash sei pleite? Anfang 2014: Vor knapp zwei Jahren war das White Trash aufgrund von Lärmbeschwerden und steigenden Mietkosten gezwungen, seinen Standort von Prenzlauer Berg nach Treptow zu

verlegen. Doch wegen Bauverzögerungen wurde das Budget gesprengt. Geschäftsführer Walter Potts war gezwungen, Insolvenz anzumelden. Ein Schock für alle Berliner. Der Szene-Club ist mit seinem 15-jährigen Bestehen ein Urgestein und zum festen Bestandteil des Berliner Nachtlebens und jedes Reiseführers geworden. Doch wird das auch so bleiben? Das formelle Insolvenzverfahren wurde im Juni eingeleitet – wie es ausgehen wird, bleibt abzuwarten. Es gibt noch Hoffnung für das White Trash. Wie Potts der Berliner Morgenpost mitteilte, hat der Insolvenzverwalter bereits einen Plan ausgearbeitet. Außerdem könnten die Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten. Potts sieht optimistisch in die Zukunft und betont, dies sei lange nicht das Ende. Vor mir steht ein Teller mit knackigem Salat und knusprigem Bacon. Auf dem Holztisch liegt eine Liste mit Songs aus verschiedensten Genres – denn heute ist Karaokenacht. Der Andrang ist riesig, die Schlange zieht sich bis nach draußen. Ich bin froh, reserviert zu haben. Wie ich von unserem Kellner erfahre, besuchen jedes Wochenende rund 700 Gäste das White Trash. Menschen laufen quer durch das Restaurant in Richtung Konzertbühne. Ein Mann mit Glatze, orangenem T-Shirt und einer Kette aus Zähnen, gefolgt von einer Frau mit roten Dreadlocks und Lederfransenkleid, läuft an mir vorbei. Wenig später folgen ein älterer Herr mit Hut und Fliege und eine blonde Frau in Jeans und Bluse. Manche machen einen kleinen Abstecher zum Tattoostudio, das direkt ans Restaurant anschließt. Über dem Eingang steht in großen, leuchtroten Lettern »Tattoo«. An der Wand hängen Bilder, die Totenköpfe, Engel und eine menschliche Frau mit einem Hundegesicht zeigen.

innen erkenne ich sehr außergewöhnliche motive wie ineinander verschlungene organe. »Bewacht« wird das Studio von einem Mann mit Cowboyhut und langen Haaren in Lederjacke und Stiefeln. Er erzählt mir, dass sich hier schon der eine oder andere Prominente ein Tattoo hat stechen lassen. Im ganzen Restaurant sind Monitore angebracht, die das Geschehen auf der Bühne zeigen.

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Ob Prince-Tribute, Rock-, Pop- oder Burlesque-Songs – im White Trash ist alles vertreten; auch die Mitarbeiter warten jedes Mal sehnsüchtig auf das Ende ihrer Schicht, um noch die eine oder andere Performance auf die Bühne zu bringen. Unser Kellner allen voran. Zwei wirklich bunte Vögel in pinken Leggings und hautengen Tanktops moderieren und bereichern jeden Künstler mit ihren Tanzeinlagen. Nach vollbrachter Leistung werden die Gäste kniend mit einem Schluck Jägermeister belohnt und vom jubelnden Publikum beklatscht. Englische Wortfetzen fliegen durch den Raum. Das Szene-Restaurant ist dafür bekannt, dass sich fast ausschließlich auf Englisch verständigt wird. Diese Tatsache ist höchstwahrscheinlich auf die hohe Rate ausländischer Angestellter zurückzuführen. Auch Walter »Wally« Potts selbst stammt gebürtig aus den USA. Vor über 25 Jahren kam er nach Deutschland, um Kunstzu studieren. Derzeit beschäftigt er unteranderem Personal aus Spanien, Bulgarien,Skandinavien und Amerika.

das white trash zieht mich sofort in seinen verrückten bann.

Als ich meinen Tisch verlasse, um mir einen Platz an der Bühne zu suchen, tippt jemand auf meine Schulter. Ich drehe mich um und sehe gerade noch, wie ein Mann mit schwarzen langen Haaren, Eyeliner und einem roten Luftballon in der Hand die Flucht ergreift. Kurz bevor er verschwindet, dreht er sich mit einem Grinsen auf den Lippen zu mir um. Mir bleibt keine Zeit, zu reagieren, denn in diesem Moment betritt DJ »Dirty« die Bühne. Ein etwa 50-jähriger, komplett in Schwarz gekleideter Mann, der sein Hündchen unter dem Arm trägt und zu einem verrückten Punksong singt. Schließlich endet die Perfomance mit einer Stripeinlage. Die Menge jubelt und ist nicht mehr zu halten. Das waren mehr als genug Eindrücke für einen Abend. Es ist tief in der Nacht, als ich den letzten Schluck von meinem Cocktail nehme und bezahle. Ich werfe einen letzten Blick in diese verrückte Welt und versuche, mir so viele Details wie möglich einzuprägen. Etwas wehmütig trete ich meinen Heimweg an, während mir tausend Gedanken durch den Kopf schwirren. Wird dieser Besuch mein erster und zugleich letzter gewesen sein? Ich hoffe es nicht. __

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steckbrief

fernab des mainstreams Simon Schneckenburger und Isaac Nabwana sind gefeierte Filmregisseure. Beide verbindet die Kunst, mit wenig Budget große Streifen zu produzieren. Simons Werke sind jedoch kaum bekannt, Isaac hingegen ist der Star seines Landes. Was macht einen deutschen Newcomer und den ugandischen Filmgott so interessant? Zwei Steckbriefe. text robert rienass layout & illustration tina kamyab

Name Simon Schneckenburger Alter 25 Jahre Wohnort Freiburg im Breisgau Beruf Studiert Medien, Gestaltung und Produktion Größte Erfolge Deutscher Jugendvideopreis, Dreifacher Gewinner des Video-Grand-Slam

Draußen ist es kalt. Graupelschauer fallen vom Himmel. Simon Schneckenburger ist auf dem Weg zu einem Interview beim Film-Fest-Spezial. Er trägt ein kariertes Hemd, eine graue Hose und eine Cappy. Er wirkt ruhig und doch aufgeschlossen. Freundlich grüßt er die Moderatorin. Er muss lachen, als diese ihn auf die vielen Regenszenen in seinem Film »Den Regen im Blick« anspricht. »Das Setting passt zum Titel«, scherzen beide. In »Den Regen im Blick« erzählt Simon die Geschichte vom jungen Felix, der sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzieht. Statt sich mit Freunden zu treffen, eine nette Unterhaltung mit den Nachbarn zu führen oder ausgelassene Partys zu feiern, schlendert er lieber einsam durch die Straßen der Großstadt oder verkriecht sich in seinem Bett. Einzig der Kontakt zu seiner Mitbewohnerin Sarah bringt etwas Licht in seine triste Welt. »Viele junge Leute wissen nicht, welchen Weg sie gehen sollen, weil sie unglaublich viele Möglichkeiten haben. Die Suche nach dem Selbst kann einen auf Dauer sehr belasten. Einige fangen an, sich zurückzuziehen«, sagt Simon. »Der Film spiegelt die Mentalität unserer teilweise überforderten Generation wider«, fügt er hinzu. Anders als der Protagonist in »Den Regen im Blick« scheint Simon seinen Weg gefunden zu haben. In Freiburg aufgewachsen, studiert der 25-Jährige heute im neunten Semester Medien, Gestaltung & Produktion. 2013 debütiert er als Filmemacher und veröffentlicht im gleichen Jahr seinen ersten Kurzfilm »Herr Olsson und die Einsamkeit.« Insgesamt vier Streifen hat er seitdem gedreht. Bereits drei Mal hat Simon den Freiburger Video-GrandSlam gewonnen. Im Juni diesen Jahres räumt er den Jugendvideopreis ab. Trotz des Erfolges kann Simon nicht von seinen Filmen leben. Im Gegenteil. Die Produktion seiner Streifen kostet ihn Unsummen. Um sich finanziell über Wasser zu halten, arbeitet er neben

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dem Studium als Filmvorführer im Kino und als Assistent in einer Produktionsfirma. »Ich hoffe, dass ich irgendwann mit meinen Streifen Geld verdienen kann. Bislang ist das Filmemachen ein sehr teures Hobby.« In seinen Werken thematisiert Simon die Probleme der Jugend, liefert gesellschaftspolitischen Diskussionsstoff und konfrontiert mit melancholischen Sujets. »Ich bin sehr neugierig und suche im Gewöhnlichen stets das Besondere«, sagt er. »Wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, findet man gerade im Alltagsleben interessante Dinge, die als Stoff für einen neuen Film gut geeignet sind.« Wenn Simon eine Idee hat, bringt er sie sofort zu Papier. Er liebt das Schreiben, seine Drehbücher verfasst er oft selbst. Es ist seine Leidenschaft, Konzepte für einen Film zu entwickeln, den Charakteren Eigenschaften zu verleihen und sie zum Leben zu erwecken. »Die Charakterzüge der Personen im Film sind mit das Wichtigste. Nur wenn sie interessant sind, ist auch der Film spannend«, sagt er. Angefangen hat Simon als Hobbyfilmer mit einem kleinen Video-DV-Recorder und wenig Know-how über das Drehen und Schneiden. Heute beherrscht er Dramaturgie und Kameraführung nahezu perfekt. Er weiß, worauf es ankommt, wie man Bild und Ton richtig einsetzt und wie man die Aufmerksamkeit des Zuschauers weckt und hält. Die richtige Balance zwischen ausdrucksstarken Szenen und einprägsamen Dialogen ist sein Geheimrezept. Simon sucht sich nie die ganz großen Themen, sondern versucht mitunter selbst erlebte Geschichten abgewandelt zu erzählen. Er ist nah am Zuschauer, seine Filme sind greifbar und fernab des Mainstreams. Er ist das große Talent der deutschen Low-Budget-Movie-Szene, ähnlich wie Isaac Nabwana in Uganda, den seine Fans liebevoll als »Tarantino der Armen« bezeichnen. __


steckbrief

Low-Budget-Movies stammen ursprünglich aus Hollywood und wurden als B-Filme der eigentlichen Blockbuster gedreht. Ab den 1940er Jahren spezialisieren sich unabhängige Firmen wie American International Pictures auf die Produktion solcher Filme. Um Kosten zu sparen, verwenden sie gebrauchte Kulissen und wählen einen engen Zeitraum für die Dreharbeiten. Während die Qualität der günstig produzierten Streifen früher problematisch war, zählen viele Low-Budget-Movies heute zur hohen Filmkunst. Der Begriff umfasst mittlerweile eine eigene Filmart und bezieht sich nicht mehr nur auf die Form der Produktion. Low-Budget-Movies sind häufig gesellschaftskritisch, folgen nicht immer einem linearen Handlungsstrang und sind realitätsnäher als große Blockbuster.

Name Isaac Nabwana Alter 43 Jahre Wohnort Kampala, Uganda Beruf Filmproduzent, ehemaliger Arbeiter in einer Ziegelfabrik, hat bereits über 40 Filme gedreht

Isaac ist der Star seines Landes. Anders als in Deutschland sind Low-Budget-Movies in Uganda wahre Hollywoodstreifen. Mit seinen Filmen füllt er Kinos und Kassen, die Nachfrage nach seinen Werken ist immens. Trotzdem kann er es sich nicht leisten, Millionen für Settings und Schauspieler auszugeben. Er greift auf einfaches Equipment und Laiendarsteller zurück. Den Erfolg mindert das nicht. Sein Actionfilm »Who Killed Captain Alex?« aus dem Jahre 2010 kostete beispielsweise 200 US-Dollar, spielte jedoch rund 1.500 US-Dollar ein. Aufgewachsen in den Slums von Kampala träumt Isaac schon als Kind vom Filmemachen. Nach der Schule arbeitet er in einer Ziegelfabrik, um Geld für Filmequipment zu verdienen. Zehn Jahre muss er sparen, ehe er sich die erste Kamera leisten kann. 2005 produziert er seinen ersten Film. Seitdem hat er über 40 Streifen gedreht. Kaum jemand traut Isaac anfangs Erfolg zu. Heute sind die meisten Einwohner Ugandas jedoch anderer Meinung. Sie lieben ihren Regisseur, gerade für die jungen Leute ist er ein Idol. »Ich freue mich, meinem Traum, Filme zu drehen, nachgegangen zu sein. Ich bin stolz, dass ich mich nicht von meinem Weg abbringen ließ«, erzählt Isaac.

Seine Filme sind mitunter weltweit gefragt, die deutsche Neon nennt ihn ein »Genie«. Er selbst bleibt jedoch bescheiden. Isaac besitzt weder ein großes Haus noch einen großen Wagen. Er wohnt noch immer in einer armen Gegend von Kampala, ist verheiratet und hat drei Kinder. Genau hier, zwischen notdürftig errichteten Hütten und dem stinkenden Abfall der Stadt, verfilmt er auch seine selbst geschriebenen Drehbücher. »Die Filme, die ich als Kind und Jugendlicher in meinem Kopf hatte, sind die Filme, die ich heute mache«, sagt er. Isaac träumt davon, eines Tages eine eigene Filmakademie zu gründen. »Wenn ich etwa 3000 Dollar zusammen bekommen würde, könnte ich ein echtes Filmstudio bauen und Kameras und Computer kaufen. Ich könnte die ganze Jugend ausbilden und ihnen das Filmemachen beibringen«, erzählt er stolz. Aktuell dreht er einen neuen Film, der ebenso wie seine anderen Werke bald in den ugandischen Kinos laufen wird. Worum es in dem neuen Streifen geht, möchte Isaac nicht verraten. Sein Tipp: »Soldaten und Kannibalen«. __

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glosse

aufgeraucht »Und wisst ihr, womit man damals zu Kriegszeiten bezahlt hat?«, röchelte mein früherer Geschichtslehrer mindestens einmal im Monat der Klasse entgegen. Auch wenn man an seinem nikotingelben Preußenschnauzer die Antwort eigentlich schon ablesen konnte, zog er zur Verdeutlichung die stets griffbereiten HBs aus seiner Hemdtasche: »Zigaretten.« Heute habe ich Zweifel daran, ob sich die qualmenden Sargnägel im – laut seriöser YouTube-Quellen unlängst geplanten – Dritten Weltkrieg noch einmal als Währung etablieren könnten. Schon seit Längerem lässt sich beobachten, wie unter jungen Deutschen der Trend weg von der Kippe und hin zur Sellerie führt (siehe so oder so ähnlich: Studien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung). Die dramatischen Folgen erschüttern meinen Alltag: Von Kommilitonen, die nicht in der Lage sind, sich ihre Ausnahmswei-

se-Zigarette selbst zu drehen, bis hin zu komplett rauchfreien Studenten-Partys und Dorffesten, auf denen man nicht einmal mehr von verzweifelten Minderjährigen angeschnorrt wird. Spätestens jetzt, beim greisenhaften Sinnieren über die alten Zeiten, wird offensichtlich, dass aller Widerstand swaglos ist. Tabak ist out. Wo einst auf dem Pausenhof coole Raucher-Jungs mit ihren weiblichen Eroberungen prahlten, schaut man jetzt als Außenseiter traurig zu, wie die Ökos gemeinsam laszive Yoga-Übungen einstudieren. Schon beim Denken daran muss ich spontan Bröckchen husten. All diese eingebüßte Lebenszeit, um wenigstens noch bis 30 irgendwie halbwegs hip zu wirken - und dann sowas. Es wird Zeit, neu zu investieren. Das Longboard habe ich bereits bestellt. _

vorsicht parallelgesellschaft!

text patrick volknant layout & illustration xenia katharina kapp

text paula lou riebschläger layout xenia katharina kapp

ein besuch im soho house berlin Die selbsternannte Kreativ-Elite konspiriert im Soho House in Berlin-Mitte. Das geschichtsträchtige Eckgebäude in der Torstraße 1 wurde Ende der 1920er Jahre von den Architekten Gustav Bauer und Siegfried Friedländer im Stil der Neuen Sachlichkeit entworfen. Heute ist das Bauwerk denkmalgeschützt und beherbergt die Möchtegerns im Soho-Schnösel-House. Beeindruckt stehe ich an diesem frühsommerlichen Abend vor dem siebenstöckigen Soho House, einem exklusiven Privatclub, der seine Mitglieder mit Rooftop-Bar, Restaurant, Spa-Bereich, einem kleinen Kino und einem Fitnessstudio lockt. Hier soll sich nach Angaben der Betreiber die Berliner Kreativszene tummeln. Auf den finanziellen Status werde laut Website keinen Wert gelegt. Zu schön, um wahr zu sein! Eine Tram klingelt und erlöst mich von meinem Staunen. Ich bin hier, um die Atmosphäre des Privatclubs unvoreingenommen auf mich wirken zu lassen. Jeder hat schon Verrisse über dieses Konzept gelesen und Gerüchte über die Soho-Gesellschaft gehört. Aber sind die kritischen Stimmen vielleicht einfach nur neidisch auf die Freigeister, die den Sprung in die High Society geschafft haben?

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reportage

Meine Neutralität wird schon vor Betreten des Berliner Soho auf eine harte Probe gestellt: Hipstereske Gestalten stehen mit Champagnergläsern auf dem Balkon im ersten Stock und beobachten das Treiben in der realen Welt. Fußgänger schauen zu ihnen hinauf, die Gestalten blicken herab. Dann betrete ich die Lobby mit dem gefühlt größten Kronleuchter der Welt. Einmal einen riesigen Heiligenschein über dem Kopf haben, allein dafür hat sich mein Abstecher ins Soho House bereits gelohnt. Es folgt die Begrüßung an der Rezeption, natürlich auf Englisch, wie sich das gehört. Zum Glück ist mein Name auf der Gästeliste vermerkt – sonst bliebe mir der Zutritt zum Soho-House-Kosmos verwehrt. rooftop-bar im stil der hamptons Mein Weg führt mich in den Fahrstuhl, wo das Licht gedimmt und das soziale Upgrade noch nicht einmal mit anstrengendem Treppensteigen verbunden ist. Einzig Verbotszeichen mindern das Freiheitsgefühl des stufenlosen Aufstiegs. Keine Fotos! Keine Handygespräche! Neben mir im Aufzug befindet sich ein Pärchen ungleichen Alters. Sie debattieren theatralisch darüber, ob es sinnvoller sei, zuerst für einen Aperitif in die Rooftop-Bar im achten Stock zu fahren, oder lieber direkt im Restaurant zu dinieren. Die junge Frau setzt sich durch und wir betreten gemeinsam die Dachterrasse. Ich bin entsetzt. Überall grau. Der Altersdurchschnitt liegt an diesem Abend bei etwa 45 Jahren, sodass sich die Köpfe vieler männlicher Besucher perfekt in das Stadtbild Berlins einfügen. Habe ich nicht irgendwo etwas von jungen Kreativen gelesen? Von diesem kurzen Moment der Verwunderung lenkt mich der schimmernde Pool ab, der ganzjährig auf 26° C beheizt ist. Um das Becken herum stehen Tischchen und grün-weiß gestreifte Liegen. Es ist rappelvoll. Der Rand der Dachterrasse wird von einer durchgehenden Liegefläche flankiert, auf der sich kleine Grüppchen um »Club-Sandwiches«, Tapas und Moscow-Mules versammelt haben. Ich quetsche mich etwas verlegen in eine freie Nische der grün-weißen Spielwiese und nippe an meinem Peroni (0,3 l für 5,50 Euro). Neben mir lümmelt ein stoffschuhbesohlter Mann um die 30. Sein Man Bun wippt zu Ibiza-Strandbar-Vibes. Wenn er noch lange an seinem Zahnstocher kaut, macht er einem ausgewachsenen Biber Konkurrenz, denke ich still. Ich bestelle ein zweites Bier, vorher ein kurzer Blick in meinen Geldbeutel. Nach einer gefühlten und auch tatsächlichen Ewigkeit erhalte ich ein Craft Bier. Um Heineken zu trinken, bin ich schließlich nicht hergekommen. der lauschangriff Auf geht’s ins Getümmel, auch wenn mich die bequeme Fläz-Atmosphäre sofort angesteckt hat und die weichen Polster langsam aber sicher von meinem Körper Besitz ergreifen. Puh, geschafft, aufgestanden. Mein Plan ist es, mich unauffällig neben mir völlig Unbekannte zu stellen, um deren Gespräche zu belauschen. Mal schauen, worüber sich Künstler und Kreative im Soho House unterhalten. Schließlich existiert der Privatclub dem Betreiber nach, »um Menschen aus der internationalen Kreativszene ein zweites Zuhause zu bieten«. Ach so, na dann. Leicht angeschwipst und mittlerweile beim dritten Bier laviere ich mich durch die Menge und spitze die Ohren. Eine verwandtschaftliche Verbindung zu Miss Marple und Sherlock Holmes kann ich nach diesem Auftritt wohl nicht mehr leugnen. Ach ja, die Charaktere gibt’s ja gar nicht wirklich – so wie die Kreativen im Soho House. Die meisten Gespräche, die ich aufschnappe, drehen sich ums Feiern, um die Schnitzel im Borchardt und um wirklich

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die meisten gespräche, die ich aufschnappe, drehen sich ums feiern, um die schnitzel im borchardt und um wirklich heftige lästereien heftige Lästereien. Das Soho House Berlin könnte in dieser stylischen Umgebung Mobbing-Kurse für Rütli-Schüler anbieten. Kann man das vielleicht als Charity vermarkten? die mitglieder Entgegen allem, was ich vorher zu Recherchezwecken gelesen hatte, konnte ich heute Abend keinen einzigen Prominenten sichten. Wirklich keinen. Stattdessen viele Möchtegerns, Menschen, die sich einen Ort errichtet haben, an dem sie sich vor dem Pöbel verstecken, der sie in Wahrheit gar nicht sucht. Auch von meinen acht Facebook-Freunden, die Mitglieder im Soho Club sind, haben nur zwei entfernt etwas mit Kunst oder Kultur zu tun. Außerdem wären da ein Medizintechniker, eine ehemalige Angestellte in einer PR-Agentur (momentan arbeitslos), eine Schwester eines Bloggers, ein Einzelhandelskaufmann und einer, den man getrost als Erben bezeichnen kann. Wie wird man eigentlich Teil dieser Bande? Erst einmal benötigt man zwei Mitglieder als Bürgen, die bestätigen, dass man die SohoHouse-DNA hat. Dann müssen natürlich ein aktuelles Foto, Fragen zum Beruf und eine ausführliche Begründung eingereicht werden, warum gerade man selbst einen Platz im Soho-House verdient. Fertig. Im ersten Soho House in London klappt das gut, ebenso in New York City. Diese Häuser stehen für Eleganz und eine Art von Exklusivität, die nicht notwendigerweise an den prall gefüllten Geldbeutel der Mitglieder geknüpft ist. Mittlerweile gibt es weltweit 14 Häuser, von Toronto bis Istanbul. Vielleicht liegt es am Flair der deutschen Hauptstadt, dass das Soho House Berlin häufig belächelt wird. Vielleicht ist hier ein Verständnis von Kunst und Kreativität gewachsen, das untrennbar mit Inspirationsquellen von außen verbunden ist. Vielleicht ist Abschottung bei echten Kreativen in Berlin kein notwendiger Teil des schöpferischen Arbeitsprozesses. Stattdessen sonnen sich die Töchter von … und die Stylisten von … im privaten Club, in dem sie von keinem belästigt werden. Hier entfalten sie die kreativen Pläne, die den heutigen Abend legendär machen werden. Man muss an dieser Stelle zugeben, dass sich wohl der ein oder andere VIP von Zeit zu Zeit ins Soho House Berlin verirrt. Aber auch Brad Pitt sitzt manchmal lieber beim Italiener um die Ecke. zurück ins normale leben Völlig erschöpft vom Sehen und Gesehenwerden geht es am Ende dieses Abends per Fahrstuhl wieder abwärts. Ich steige auf mein Fahrrad und radle in die Nacht hinaus. Das Freiheitsgefühl, das ich gerade empfinde, ist echt. Genauso echt wie die Normalos im Späti vor meinem Haus. Fest steht, der Abou-Chaker-Klan aus Neukölln kann sich beim Thema Abschottung eine Scheibe von der Berliner Soho-Gesellschaft abschneiden. Es wird jedoch gemunkelt, dass man bei denen mehr Geld verdienen kann, als durch Business-Meetings im Soho-Universum. __

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die sprache ist eine waffe. haltet sie scharf ! Kurt Tucholsky

Die besten Journalisten starten ihre Karriere in der Schule oder in der Universität. Mach mit: redaktion@obacht-magazin.de

Dieter Stein (*1967) Gründete 1986 die Schüler- und Studentenzeitung »Junge Freiheit«. Heute ist die Wochenzeitung (Auflage: 28.251, IVW 1/2016) eine der beliebtesten Informationsquellen bei Konservativen, Rechtsextremen und Neonazis.

Rudi Dutschke (1940 – 1979) Gab als Student die anarchistische Zeitschrift »Anschlag« heraus. Wortführer der Studentenbewegung in den 1960ern. 11. April 1968: Anschlag auf Dutschke. Drei Kugeln in Kopf und Brust. Verstarb 1979 an den Spätfolgen der Verletzungen.

Herrmann L. Gremliza (*1940) War Herausgeber der Studentenzeitung »Notizen« an der Universität Tübingen. Arbeitete als leitender Redakteur im Spiegel-Politikressort. Seit 1974 Herausgeber der Monatszeitschrift »konkret« (Verfassungsschutz: »undogmatischer Linksextremismus«), die seinerzeit für die zustimmende Haltung zum Irak-Krieg kritisiert wurde.

Ulrike Meinhof (1934 – 1976) Gründete 1955 die Schülerzeitung »Spektrum« an einem Gymnasium in Weilburg. Sprachakrobatin und Mitgründerin der Roten Armee Fraktion. Später Selbstmord in der JVA Stuttgart-Stammheim.

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impressum Das Studierendenmagazin der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin. Es ist interdisziplinär und selbstorganisiert. Berichterstattung über Medien, Campus und Zeitgeschehen. Erstmals seit 2016.

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Die nächste Ausgabe von obacht_ erscheint im Dezember 2016. Die Artikel und Beiträge spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wider. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird keine Haftung übernommen. Nachdruck und Vervielfältigung nur nach vorheriger Genehmigung.


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