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Günter Verheugen: Im Zentrum des sozialen Liberalismus

Günter Verheugen

Im Zentrum des sozialen Liberalismus

Meine erste Begegnung mit Gerhart Baum verlief etwas einseitig: Er hat mich überhaupt nicht wahrgenommen. Wir befinden uns im Jahr 1960. Die Szene ist ein Ausflugslokal in Mehlem bei Bonn, direkt am Rhein. Es tagt dort der Landesrat der nordrhein-westfälischen Jungdemokraten. Ich war frisch in stallierter Kreisvorsitzender der Jungdemokraten in Köln-Land, und die Tagung in Mehlem war für mich das erste überörtliche politische Treffen meines Lebens. Aber es ist nicht nur deshalb in meiner Erinnerung geblieben. Auf der Tagesordnung stand der Antrag, ein Ausschlussverfahren gegen einen gewissen, mir völlig unbekannten, Gerhart Baum zu eröffnen. Die «Anklage» wurde vom Vorsitzenden des Gremiums, einem gewissen, mir ebenfalls völlig unbekannten, Dr. Burkhard Hirsch vertreten. Was Baum im Einzelnen vorgeworfen wurde, weiß ich nicht mehr genau, aber es muss mit Äußerungen zu tun gehabt haben, die er im Hinblick auf den massiven Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten in der nordrhein-westfälischen FDP gemacht hatte.

Da Gerhart Baum sechs Jahre später Bundesvorsitzender der Jungdemokraten wurde, hat es mit dem Ausschlussverfahren wohl nicht geklappt. Wenn ich heute darüber nachdenke, fallen mir an dem Erlebnis in Mehlem drei Dinge auf: Erstens, dass die politischen Lebenswege von Gerhart Baum und Burkhard Hirsch sich schon sehr früh gekreuzt haben und dass nicht vorherzusehen war, dass die beiden einmal ein wahrhaftiges DioskurenPaar im Kampf für den Rechtsstaat sein würden. Zweitens, dass es Gerhart Baum immer mit Widersachern zu tun hatte. Er musste immer kämpfen und sich behaupten, und dabei ist er von Natur aus kein Streithammel, sondern eher auf Harmonie bedacht. Drittens fällt mir auf, dass er, der 1945 schon alt genug war, die Schrecken des Krieges und der Flucht bewusst zu erleben, den unheilvollen Ideen und Taten der NS-Diktatur nicht die geringste neue Chance in Deutschland mehr erlauben wollte.

Unsere gemeinsame Zeit bei den Jungdemokraten war relativ kurz, tatsächlich nur acht Jahre. Das waren allerdings Jahre, in denen sich in der Bun-

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desrepublik ein fundamentaler Wandel Bahn brach. Der Mief der AdenauerÄra wich dem sozialliberalen Projekt. Am Ende dieser acht Jahre war auch die politische Jugendorganisation, der wir angehörten, eine andere geworden. Ebenso aber auch die sogenannte Mutterpartei, die FDP. Die Jungdemokraten in NRW waren Anfang der 1960er-Jahre in ihrem Selbstverständnis nicht die programmatische Avantgarde der FDP, sie waren ihre Nachwuchsorganisation. In ihren Spielregeln, Ritualen und Verfahren waren sie eine getreuliche Kopie der NRW-FDP mit ihrer massiven national-liberalen Schlagseite. Man trug Anzug und Krawatte, man redete sich selbstverständlich mit «Sie» an, und wenn man mit über 30 noch dabei war, hatte man die politische Jugendarbeit schon längst als Sprungbrett für die eigene politische Karriere entdeckt. Bei Gerhart Baum war das nicht so. Er sah sich selbst in der freisinnigen, linksliberalen Tradition, die in anderen Landesverbänden der FDP durchaus lebendig und einflussreich war. In NRW war Baums Haltung lange Jahre eine Minderheitenposition, die von den Parteigranden mit größtem Misstrauen beobachtet wurde. Lange bevor das Schlagwort aufkam, hatte er sich bereits für den Marsch durch die Parteigliederungen entschieden. Auf mich, den deutlich Jüngeren – nach Jungdemokraten-Maßstäben waren wir eine ganze Generation auseinander –, hat Gerhart Baum großen Einfluss gehabt. Er wies mich ein in die Lage des politischen Liberalismus in der Bundesrepublik und verankerte in mir als zentralen gesellschaftlichen Wert das Ideal der Freiheit. Es war Gerhart Baum, der mir klarmachte, dass die großen Volksparteien nicht die Bannerträger der Freiheit sein konnten, sondern dass sie der Konkurrenz einer durch und durch liberalen Partei bedurften. Aber genau da, in der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, lag das Dilemma. Die Mende-FDP der 1960er-Jahre erfüllte den hohen liberalen Anspruch von Gerhart Baum und seinen Freunden eben nicht. Er hielt es deshalb für notwendig, und ich schloss mich dieser Auffassung an, dass zwei Dinge getan werden mussten, um diesen Zustand zu ändern. Die FDP musste sich erstens befreien von der Rolle des Mehrheitsbeschaffers für die Konservativen, sie musste koalitionsfähig auch mit der SPD werden, und sie musste dazu ihre programmatische Verengung auf die materiellen Interessen des Mittelstandes überwinden. Im Lauf der 1960er-Jahre kam zweitens dann immer dominierender noch die Außen- und Deutschland-Politik als Feld der Abgrenzung gegenüber der CDU/CSU und als Annäherung an die

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SPD hinzu. Dieses Politikfeld erwies sich schließlich als ausschlaggebend für die Neuausrichtung der FDP ab 1968 mit der Übernahme der Parteiführung durch Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher. Gerhart Baum gehörte zu den Ersten in der FDP, die erkannt hatten, dass die sogenannte deutsche Frage nur lösbar sein würde, wenn die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Grenzen nicht infrage gestellt werden würden.

Szenenwechsel. Es ist Ende März 1967. Auf dem Standstreifen der Autobahn irgendwo zwischen Bielefeld und dem Ruhrgebiet steht ein nicht mehr ganz neuer, leicht ramponierter Ford mit Kölner Kennzeichen. In der Autobahnböschung liegen lang ausgestreckt Gerhart Baum und ich, beide so erschöpft, dass die gemeinsame Heimfahrt vom FDP-Parteitag in Hannover für ein Nickerchen unterbrochen werden musste. Dieser Parteitag war die erste große Machtprobe zwischen dem stärker gewordenen progressiven Flügel der FDP und der Parteiführung mit ihrem rechten Anhang. Das Streitthema war die Deutschland- und Außenpolitik. Dass es zu einer geradezu dramatischen Zuspitzung kam, lag nicht nur an den Jungdemokraten, es lag auch an Beiträgen aus der Führungsgruppe und aus der liberalen Öffentlichkeit. Hier ist vor allem Hans-Wolfgang Rubin zu nennen mit seinem Artikel «Die Stunde der Wahrheit» in der Zeitschrift liberal. Es lag aber auch an veränderten Zeitumständen. Mächtige Publizisten wie Rudolf Augstein und Henri Nannen, beide unübersehbar präsent auf dem Hannoveraner Parteitag, und viele andere spürten den Wind des Wandels. In der SPD hatte Egon Bahr bereits vor längerer Zeit die Formel vom «Wandel durch Annäherung» geprägt. Wir Jungdemokraten verstanden diese Formel nicht als Bereitschaft zu einer gesellschaftlichen oder gar ideologischen Anpassung, sondern ganz wörtlich als die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, über gemeinsame In teressen zu reden und wenn möglich gemeinsame Lösungen zu finden. Uns war klar, dass dies nur langsam und Schritt für Schritt gehen würde, uns war aber auch klar, dass zwei zentrale Hindernisse überwunden werden mussten: Die Nichtanerkennung der DDR als deutscher Staat und die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze als endgültige polnische Westgrenze. Aus diesem Grunde legten die Jungdemokraten für den Parteitag in Hannover einen entsprechenden Antrag vor. Gerhart Baum hatte ihn zu vertreten. Er war ein Jahr vorher in Mölln zum Bundesvorsitzenden der Jungdemokraten gewählt worden, gegen einen sehr starken, demagogisch hochbegab-

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ten Mitbewerber. Die leidenschaftliche Diskussion auf diesem Parteitag fand ein überraschendes Ende durch einen Kompromissvorschlag, den HansDietrich Genscher vom Krankenbett aus an den Parteitag schickte. Er besagte, dass die Lösung der deutschen Frage nicht an territorialen Fragen scheitern dürfte. Gerhart Baum glaubte damals, dass dieser Kompromiss eine Niederlage der Jungdemokraten auf dem Parteitag verhinderte. Tatsächlich war es aber auch so, dass diese Formel den Streit nicht zum Erliegen brachte. Der zog sich noch weitere drei Jahre hin und endete erst mit dem Austritt des Mende-Flügels aus der FDP im Jahr 1970.

Während seiner Amtszeit als Bundesvorsitzender der Jungdemokraten war die Zusammenarbeit zwischen Gerhart Baum und mir sehr eng. Als Chefredakteur der Jungdemokraten-Monatszeitschrift Stimmen der jungen Generation hatte ich das wichtigste publizistische Instrument der Jungdemokraten in den Händen und machte davon auch ungeniert Gebrauch. Gerhart Baum war als Herausgeber der Zeitschrift mein Vorgesetzter, aber er sah seine Verantwortung nicht in der Lenkung der Redaktion, sondern er bemühte sich ständig, uns den Rücken freizuhalten. Ich weiß nicht, ob er immer einverstanden war mit den gelegentlich sehr unkonventionellen Positionen, denen wir in den Stimmen Raum gaben, aber sein Anliegen war die Meinungsvielfalt. Natürlich waren wir uns in den großen Linien einig. Damals ging es vor allem darum, die inhaltliche und personelle Erneuerung der FDP so schnell voranzutreiben, dass im Jahr 1969 nach der Bundestagswahl die Große Koalition von einer sozialliberalen Koalition abgelöst werden würde. Das ist gelungen, wenn auch die FDP dabei haarscharf am Untergang vorbeischrammte.

An dieser Stelle eine Beobachtung, die Gerhart Baum machte und die ich teile: Die zeitgeschichtliche Forschung, aber auch die publizistische Be arbeitung im Hinblick auf die Vorgeschichte der sozialliberalen Koalition blendet regelmäßig die Rolle der Progressiven in der FDP aus. Der Erneuerungsprozess der FDP ging im Wesentlichen von den Jungdemokraten aus. Sie wurden zur programmatischen Vorhut, unterstützt von den auch vorhandenen fortschrittlichen Kräften in der FDP. Das führte zu einem neuen Selbstverständnis, mit einem neuen Programm und neuer Führung, und schuf die Koalitionsfähigkeit mit der SPD. Das war eine Politik des langen Atems, an die leider nur selten oder nie erinnert wird, für die aber Gerhart Baum ganz exemplarisch steht.

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Nach der Regierungsbildung 1969 trennten sich zunächst unsere Wege. Gerhart Baum arbeitete weiter in seinem Beruf und stieg in der nordrheinwestfälischen FDP langsam auf. Ich ging mit Genscher ins Innenministerium und war dort unter anderem sein Verbindungsmann zum linken Flügel in der FDP. Nach der Bundestagswahl 1972 trafen Gerhart Baum und ich uns im Bundesinnenministerium wieder. Baum war über die Landesliste der FDP in den Bundestag gekommen und Genscher ernannte ihn, für viele, auch für Gerhart Baum selbst, überraschend, zu seinem Parlamentarischen Staatssekretär. In dieser Funktion wuchs Gerhart Baum sehr schnell in die Rolle eines engen Beraters und Vertrauten von Genscher hinein, was wohl auch damit zusammenhing, dass Baum aus Dresden und Genscher aus Halle stammte. Ich glaube, dass die Nähe zu Hans-Dietrich Genscher für Gerhart Baum prägend wurde. Baum zeigte Genscher gegenüber bis zum Ende der sozialliberalen Koalition immer äußerste Loyalität. Ich konnte auch beobachten, dass Genscher später das dezidiert linksliberale Profil des Bundesinnenministers Baum ausdrücklich guthieß.

Von 1978 bis 1982 saßen Gerhart Baum als Bundesminister und ich als Generalsekretär der Partei zusammen im Präsidium der FDP. Nicht alle in diesem Gremium fanden Baums Rolle als Repräsentant eines liberalen, toleranten, aber auch streitbaren Rechtsstaates wirklich gut. Tatsächlich war er im personellen und programmatischen Gesamttableau der FDP ein Eckpfeiler. Es ist ganz interessant, dass das Unbehagen an seinem betont liberalen Kurs über die FDP hinausging. Ich war dabei, als es im Koalitionsgespräch 1978 um die Nachfolge von Werner Maihofer als Innenminister ging. Bundeskanzler Helmut Schmidt war überhaupt nicht angetan von dem Vorschlag, Gerhart Baum zu ernennen. Schmidt wollte Graf Lambsdorff auf diesem Posten sehen, biss aber bei Genscher auf Granit. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Gerhart Baum der einzige der FDP-Bundesminister war, der bis zum Ende der Koalition zuverlässig zu Helmut Schmidt stand.

Gerhart Baum hatte manchen Sturm in der Öffentlichkeit auszustehen, zum Beispiel als er es gewagt hatte, eine öffentliche Diskussion mit dem früheren RAF-Terroristen Horst Mahler zu führen. Von viel weitreichenderer Bedeutung war allerdings eine ganz andere Auseinandersetzung. Der uralte Richtungsstreit zwischen dem sozialliberalen und dem wirtschaftsliberalen Flügel der FDP hatte sich ab 1976 erneut zugespitzt. Gerhart Baum leitete eine

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sogenannte Perspektivkommission, die einen Vorschlag zur programmatischen Weiterentwicklung machen sollte. Das Projekt war aber von Anfang an infrage gestellt, weil gleichzeitig eine sogenannte Wirtschaftskommission eingesetzt wurde, die von Lambsdorff angeführt wurde. Beide Kommissionen legten damals unterschiedliche Vorschläge vor. Wäre es nach Gerhart Baum und seiner Kommission gegangen, hätte die FDP ein attraktives Angebot für die Umweltbewegung, die Anti-Kernkraftbewegung, die Frauenbewegung und die Friedensbewegung werden können, denn sie schlug eine Erweiterung und Aktualisierung der berühmten Freiburger Thesen von 1971 vor. Das deutsche Parteiensystem hätte sich möglicherweise ganz anders entwickelt, wäre die FDP damals diesem Vorschlag gefolgt. Aber der Wirtschaftsflügel setzte sich durch, und die Entscheidung mit der größten Symbolkraft war die Zustimmung zum weiteren Ausbau der Kernenergie. Ich erinnere mich, dass Gerhart Baum damals sehr niedergeschlagen war, denn er ahnte bereits, dass damit der Beginn des Niedergangs der sozialliberalen Koalition markiert wurde, und fürchtete, dass wesentliche Politikfelder der Zukunft nun anderen zum Zugriff überlassen wurden, was sich später bewahrheitete.

In der Endphase der sozialliberalen Koalition belastete eine schwere Vertrauenskrise in den Führungsgremien der FDP die Handlungsfähigkeit der Partei aufs Äußerste. Es war kaum mehr zu erkennen, wer mit wem welche Pläne verfolgte. Gremiensitzungen wurden belanglos, weil keiner mehr zu sagen wagte, was er wirklich dachte, weil alles sofort an die Medien durchgestochen wurde. Jahre später erzählte mir ein Bonner SPIEGEL-Redakteur, dass DER SPIEGEL nicht nur einen oder zwei, sondern gleich fünf Informanten im FDP-Präsidium hatte. In dieser Krisenzeit rückten Gerhart Baum und ich noch enger zusammen. Zusammen mit dem Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, Wolfgang Mischnick, versuchten wir, eine Art Stabilitätsachse innerhalb der FDP zu sein, da der Zustand der FDP die sozialliberale Koalition ins Taumeln brachte. Deshalb waren wir beide auch wie vor den Kopf geschlagen, als Mischnick im Juni 1982 seinem heimatlichen Landesverband Hessen auf der Landesebene einen Koalitionswechsel hin zur CDU empfahl.

Gerhart Baum und ich sahen damals keine vernünftige Alternative zur bestehenden Bonner Koalition. In der SPD gab es ähnliche Sorgen, und das führte dazu, dass mit Wissen und Billigung von Willy Brandt der SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz und ich an einem Konsenspapier arbeiteten,

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das für die Koalition einen neuen Vorrat an Gemeinsamkeiten aufzeigen sollte. Dabei spielten die Themen, die Gerhart Baum repräsentierte, eine zentrale Rolle. Mit seiner liberalen Rechtsstaatspolitik und seinem Bestehen auf den Vorrang des Umweltschutzes vor Gewinnstreben und ökonomischem Nutzen repräsentierte Gerhart Baum wie kaum ein anderer neue Wählerbedürfnisse und darunter insbesondere die der jungen Generation, die inzwischen die Grünen für sich entdeckt hatten. Letztlich führte der Plan, die Koalition inhaltlich neu zu beleben, zu keinem Ergebnis, weil sehr schnell klar wurde, dass eine solche Neuorientierung mit Helmut Schmidt nicht zu machen war. Erst im Nachhinein ist Gerhart Baum und mir klar geworden, dass wir in unserem Denken zu sehr auf die FDP fixiert waren. Wir hatten das ganze Ausmaß der Konflikte und Querelen in der SPD schlicht unterschätzt.

Gerhart Baum wusste genau, dass ein Koalitionswechsel das Ende seiner Politik bedeuten würde. Er war längst zum Hassobjekt der CSU und der CDU geworden. Der Hauptgegner war Franz Josef Strauß, der keine Gelegenheit ausließ, Gerhart Baum auch in persönlich herabsetzender Weise zu attackieren. Baum wurde ständig mit Rücktrittsforderungen aus dem Strauß-Lager konfrontiert, und uns fiel auf, dass im Lauf der Zeit der Widerspruch aus der FDP immer leiser wurde und in Teilen der Partei ganz ausblieb. Im Sommer 1982 war klar, dass die Koalition wohl nicht mehr zu retten war. Uns war, als befänden wir uns in einem Nebel, der immer dichter wurde. Selbst jetzt, 40 Jahre später, hat sich der Nebel noch nicht völlig gelichtet. Wir wissen beide immer noch nicht, ob es in der FDP einen geheimen Plan gab, die Koalition zu beenden, oder ob das Agieren der FDP eine nicht mehr steuerbare Eigendynamik bekam. Jedenfalls wurde in keinem einzigen Bundesgremium der FDP damals je über einen möglichen Koalitionswechsel gesprochen. Auch das Ende der Koalition ist bis heute nicht ganz klar: Hatte Schmidt die FDP-Minister entlassen oder waren sie zurückgetreten? Jedenfalls gelang es Schmidt damals, öffentlich die Verantwortung für das Scheitern der Koalition allein bei der FDP abzuladen und so die Erosion seiner eigenen Machtbasis zunächst zu verbergen.

Die auf das Ende der sozialliberalen Koalition folgende interne Auseinandersetzung in der FDP war so heftig und unversöhnlich, dass die Existenz der Partei auf dem Spiel stand. In einer ersten Phase waren sich die Gegner des Koalitionswechsels, die sich um Gerhart Baum und einige andere schar-

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ten, einig: Die Entscheidung über mögliche Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU sollte von einem Parteitag getroffen werden, und es sollte zu einem Wechsel in der Parteiführung kommen. Aber es kam anders. Auf dem Berliner Parteitag wurde Genscher als Parteivorsitzender bestätigt und der Koalitionswechsel gebilligt. Damit standen die Sozialliberalen in der Partei vor der Frage, bleiben oder gehen, und wenn Letzteres, wohin. Jeder musste diese Entscheidung für sich selber treffen. Gerhart Baum entschied in dem Augenblick, als er die Wahl zum stellvertretenden Parteivorsitzenden an nahm. Ich glaube nicht, dass er sich hätte anders entscheiden können, ob wohl ihn die Parteiführung in den Koalitionsverhandlungen längst fallen gelassen hatte. Die Entscheidung, einem Mann wie Baum einen Friedrich Zimmermann (CSU) als Innenminister folgen zu lassen, bestätigte eindrücklich, dass mehr als ein bloßer Koalitionswechsel stattgefunden hatte: Es war ein vollständiger Bruch mit der sozialliberalen Vergangenheit. 1982 entschied ich mich für einen anderen Weg als Gerhart Baum. Aber uns beide eint bis heute, dass wir Sozialliberale sind.

Abbildung 5: Mit William Borm, Helga Schuchardt und Günter Verheugen auf der Konferenz «Noch eine Chance für die Liberalen» in Köln, 27.–28.02.1982