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Franz und Sonja Negele: Ein Schulfreund seit Jugendtagen

Franz und Sonja Negele

Ein Schulfreund seit Jugendtagen

Lieber Gerhart,

anlässlich Deines 90. Geburtstages im Oktober dieses Jahres gehen die Gedanken an unsere gemeinsame Jugendzeit im Tegernseer Tal in die Jahre von 1946 bis 1950 zurück. Du bist in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 zusammen mit Deiner Mutter und Deinen Zwillingsgeschwistern Peter und Ursula aus dem brennenden Dresden nach Bayern geflohen und nach einer lebensbedrohenden Flucht im Tegernseer Tal gelandet. Nach einem mehrmaligen Quartierwechsel im Tal endete die Odyssee in Bad Wiessee, Ortsteil Abwinkl, in einem Sommerhaus, in idyllischer Lage unmittelbar am Ufer des Sees; ein scheinbarer Glückstreffer, doch wegen der leichten Bauweise als Wohnung im rauen Klima des 725 Meter hoch gelegenen Alpensees für eine Mutter mit drei Kindern kein idealer Ort.

Hier begann unsere gemeinsame Geschichte. Meine Eltern besaßen unweit von Deiner Zuflucht ein kleines Fremdenheim, bis an den Rand mit Kriegsvertriebenen gefüllt. Wir wurden beide 1932 geboren und besuchten das im Jahr 1946 gegründete Gymnasium in Tegernsee, im ehemaligen «Sengerschloß». Weil wir Nachbarkinder waren, die gleiche Klasse besuchten und den gemeinsamen Schulweg nutzten, kamen wir uns bald näher. Ein weiterer Ort verband uns Buben, es war ein Bootsverleih in Deiner unmittelbaren Nähe, ein Treffpunkt der Abwinkler Buben, der uns Gelegenheit bot, uns beim Übersetzen des Fährschiffes nach Tegernsee und beim Auftakeln des Segelbootes nützlich zu machen. In dieser trübseligen Nachkriegszeit waren wir froh über jede mögliche Abwechslung. Bei diesen Tätigkeiten haben wir uns bald angefreundet.

Im Klassenzimmer saßen wir nebeneinander. Mich haben von Anfang an Deine Selbstsicherheit, die Du als Großstadtkind aus Dresden mitgebracht hattest, Deine schulischen Leistungen und Dein frühzeitiges Interesse für Literatur, Musik, Kunst und Zeitgeschichte beeindruckt und mir Ansporn

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gegeben. Schon bald stellten wir Mitschüler fest, dass Du uns voraus warst, doch immer bescheiden, aber durchaus kämpferisch aufgetreten bist, wenn Du Deine Überzeugungen verteidigt hast. Unvergesslich bleibt mir in Erinnerung, als wir im Fach Deutsch von unserem Oberstudienrat, einem ehemaligen Offizier, das Thema «Die Lage eines Landes bestimmt sein nationales Schicksal» bearbeiten sollten. Deine Argumentation lief der Intention des Lehrers völlig zuwider. Der militärische Umgang mit den Schülern und die nationalen Denkweisen des ehemaligen Offiziers lösten bei Dir, lieber Gerhart, starken Widerspruch aus. Du hast Dir bei der Behandlung des Themas große Mühe gegeben, die Argumente des Lehrers zu widerlegen, der durch seine Themenstellung die Notwendigkeit kriegerischer Entscheidungen im Falle Deutschlands zu begründen versuchte. Fast wäre es durch die Hartnäckigkeit Deiner Argumentation zu einem Eklat gekommen.

Gleichzeitig gab es jedoch an unserer Schule auch eine Lehrerpersönlichkeit, die, einer glücklichen Fügung folgend, eine völlig andere Geisteshaltung besaß. Adolf Grote war ein ehemaliger Privatgelehrter, der dem Stefan-George-Kreis nahestand, eine umfangreiche Privatbibliothek besaß und diese uns zur Verfügung stellte. Damals ein Glücksfall in der Zeit des Mangels. Er hat uns in privaten Gesprächen in die Literatur eingeführt, uns die Werke Thomas Manns nähergebracht, Passagen aus «Tonio Kröger» vorgelesen und uns damit eine neue Welt eröffnet. Du hast diese Stunden mit Adolf Grote als prägend empfunden, die Dein späteres Leben, Deine politische Laufbahn mitbestimmten. Auch für mich bedeuteten diese Treffen einen Gewinn in meiner persönlichen Entwicklung und späteren Lebenssicht. In einem Artikel («Es bleibt eine Bescheidenheit, die ich später in unserem Land oft vermisst habe». In: Tegernseer Tal, Heft 174, 2021) über Deine Tegernseer Zeit hast Du geäußert, dass damals in diesen Gesprächen Deine Leidenschaft für die Politik geweckt wurde und schon zu dieser Zeit Dein Kampf gegen die verbliebenen Nationalsozialisten begonnen hat. Du hast versichert, dass dieser Lehrer durch sein geistiges Vorbild in Dir «das Feuer für ein kämpferisches Freiheitsbewusstsein geweckt und Deinen Einsatz für den Aufbau einer Demokratie bestärkt» hat. – Er hat gleichsam die Uhr aufgezogen für Dein späteres erfolgreiches Wirken in der Politik.

Lieber Gerhart, nicht nur in Deinen frühen geistigen Höhenflügen bist Du mir in guter Erinnerung, Du hast Dich auch gerne an Tätigkeiten, die

1 Motive eines Lebenswegs – Frieden und Freiheitsrechte

einem Heranwachsenden im Alter von 15 Jahren entsprechen, beteiligt. Wir haben mit unseren erbärmlich ausgestatteten Fahrrädern kleine Runden in unserer näheren Umgebung gedreht, größere Fahrten waren wegen der Mängel an den Rädern nicht möglich. Unsere Hauptbeschäftigung war immer wieder das Flicken von Fahrradschläuchen, weil die Fahrradmäntel völlig abgefahren und neue unerschwinglich waren. Im Winter habe ich mich redlich bemüht, Dir das Skifahren beizubringen, leider mit völlig ungeeigneten Mitteln: ellenlange Holzskier mit einer uralten Riemenbindung und normale Wanderstiefel, an denen die Bindung nur notdürftig über den Schuhrand angebracht werden konnte. Trotzdem hast Du unter diesen Umständen meine Bemühungen, Dich zum Skifahren zu motivieren, akzeptiert, vermutlich um mich nicht zu enttäuschen. Dir war klar, dass im Tegernseer Tal der Skisport einen hohen Stellenwert hat. Du hast damals nicht aufgegeben und warst gewohnt, auch unter schwierigen Verhältnissen durchzuhalten. – Freundschaft auszuhalten, ist nicht immer einfach!

Alle diese gemeinsamen Erfahrungen in Notzeiten haben unsere Verbindung gestärkt und zu meiner großen Freude bis heute erhalten. Deine Bindungen an das Tegernseer Tal, die sich in diesen Jahren von 1945 bis 1950 entwickelt haben und von einer tiefen Sympathie zum Tal, den Bergen und vor allem dem See bestimmt sind, locken Dich immer wieder zu einem Kurzaufenthalt an den Tegernsee. Wie Du mir einmal erzählt hast, verfolgst Du sogar wiederholt Wettermeldungen und die Berichte über die Schneelagen im Tal; ich vermute fest, dass Dir das Tal während Deines Aufenthalts in den Nachkriegsjahren zur zweiten Heimat geworden ist. Du hast auch wiederholt an Schülertreffen der ehemaligen Mitschüler des Gymnasiums Tegernsee teilgenommen und damit die Verbundenheit zu diesem Ort und den Mitschülern gezeigt. Wir alle sind stolz, einen solchen prominenten Mitschüler in unseren Reihen zu wissen; in allen Gesprächen erzählen die Ehemaligen voller Bewunderung, dass sie Dich in Fernsehtalks erlebt haben und von Deinen Beiträgen in diesen Gesprächen beeindruckt waren.

Lieber Gerhart, mich freut besonders, dass wir vor etwa 75 Jahren gemeinsam auf der Ruderbank des Fährschiffes von Wiessee nach Tegernsee saßen und aus Leibeskräften ruderten, um gegen den starken Wind das Ufer zu erreichen. Ich denke gerne zurück, wie wir zusammen den Schulweg nach Tegernsee über das Eis angetreten haben, kurz vor dem Ufer eingebro-

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chen sind und den anschließenden Unterricht in stocksteif gefrorenen Hosen ertragen mussten. Gerne erinnere ich mich, wie Du einmal in Tegernsee einige Brotwecken besorgt hast, wir zu zweit mit dem Brot auf dem Rad saßen und den abschüssigen Weg zur Anlegestelle des Fährboots hinunterfuhren, nicht mehr rechtzeitig bremsen konnten und samt Brot im See landeten. Damals in den Notzeiten ein schlimmes Erlebnis, heute ein Grund zum Schmunzeln … Solche gemeinsamen Erlebnisse bleiben in unserer Erinnerung und sind mit der Grund dafür, dass unsere Freundschaft noch heute besteht. Danke für Deine Treue!

Lieber Gerhart, Du hast mit Deiner beispiellosen Beharrlichkeit und Energie, Deinem Kampfgeist, Deinem Glauben an die Werte der Freiheit und Demokratie, aber auch an die Notwendigkeit eines sozialen Gewissens, an Ehrlichkeit und Mitmenschlichkeit in der Politik Zeichen in Deinem Leben gesetzt; alle, die Dir näherstehen, empfinden großen Respekt vor Deiner Person und Deinem Lebenswerk.

Abbildung 4: Als Student an der Universität Köln, 1954

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