Franzen, Z'Graggen: An der Fluchgasse

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in wahres Kleinod spätmittelalterlicher Steinmetzkunst wurde beim Umbau des « Rothus’ », eines uralten Gasthofs an der Zürcher Marktgasse, entdeckt: eine Fenstersäule mit üppiger Verzierung im einstigen Saal im zweiten Stock. Die Freilegung dieses während vielen Jahren hinter einer Wandverkleidung verschwundenen Kunstwerks ist für Beat Curti, den Besitzer des «Rothus’», «ein schöner, reicher Lohn» für sein Bemühen, alten Häusern an der Marktgasse «neues Leben einzuhauchen». Die Marktgasse war seit dem Mittelalter bis in die neuere Zeit die wichtigste GeschäftsNeues Leben strasse der Stadt. In Läden, auf der Gasse, in in der Zürcher Wohnungen und Zunfthäusern, in Schenken Altstadt und Spelunken wurde gekauft und verkauft, getrunken und gegessen, gestritten und politisiert – und geflucht. Fluchgasse wurde die enge Marktgasse, wo man sich dauernd in die Quere kam, in der frühen Neuzeit denn auch genannt. Hier wurde fast alles angeboten, was man für das tägliche Leben brauchte, von der Limmat bis hinauf zu jenem Platz, der im Volksmund später Elsässer hiess, wo Münstergasse und Marktgasse aufeinandertreffen. Das war ein zentraler Knotenpunkt, der gleichermassen weltliche und geistliche Macht, Rathaus und Grossmünster, miteinander verband. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert begann die Marktgasse ihre Bedeutung zu verlieren. Mehr und mehr zogen die Handwerker weg, und von den unzähligen kleinen Geschäften machte eines nach dem andern den Laden dicht. Bäckerei, Metzgerei, Apotheke – die gibt es dort alle nicht mehr. Der Käsehändler, der Fischverkäufer, das Merceriegeschäft – verschwunden. Diese Entwicklung kann man nicht aufhalten. Erhalten indes kann man die teils prächtigen alten Häuser. Und exakt das ist es, was der Unternehmer Beat Curti will. Curti ist zwar Luzerner, doch schon seit den 1970er-Jahren pflegt er eine enge Beziehung zur Zürcher Altstadt. Er wohnte hier, er arbeitete hier, er vergnügte sich hier. Besonders der sogenannte Elsässerplatz, wie eh und je eine Art Drehscheibe der Altstadt, liegt ihm am Herzen. «Von da aus kann man all die kleinen, feinen Geschäfte entdecken, Galerien, Cafés und Bars aufsuchen», sagt Curti. «Und Leute sehen. Kaum verlasse ich meine Wohnung im ehemaligen ‹Goldenen Schwert›, treffe ich bestimmt jemanden, mit dem ich ein Schwätzchen halten kann. Herrlich!» An der Marktgasse zu engagieren begann sich Beat Curti 2004. Damals beteiligte er sich an den Liegenschaften «Rothus» und «Goldenes 8

Schwert», zu jener Zeit Hotels im Zwei-Sterne-Bereich mit diversen Gastroangeboten. Sie gehörten dem Unternehmer Hans Jecklin, gross geworden im Spielsalon- und Casinogeschäft. Gemeinsam planten Curti und Jecklin über ihre je hälftig gehaltene Firma Alt-Züri Immobilien AG einen Neustart sowohl im «Rothus» als auch im «Goldenen Schwert». Das denkmalgeschützte «Rothus», eines von Zürichs ältesten Gasthäusern,

Der «Wilde Mann» und ein Kiosk Das Haus an der Marktgasse 10 trug schon im ersten noch erhaltenen Steuerbuch von 1357 den Namen « Zum Wilden Mann». Damals gehörte es einem Klaus Früego (Früh). In der Folge besassen verschiedene Handwerker das stattliche Gebäude. Als wohlhabende Leinenweber und Tuchscherer waren sie Mitglieder der Zünfte zur Waag und zu Schneidern. Zudem sassen mehrere von ihnen im Rat der Stadt. Noch Anfang des 16. Jahrhunderts zierte eine Christophorus-Figur die Fassade des «Wildenmann im Merckt Zürich ». Der heilige Christophorus ist einer der «vierzehn Nothelfer» und wird oft als Hüne dargestellt, der das Jesuskind auf seinen Schultern durch einen Fluss trägt. Im 16. und 17. Jahrhundert war der «Wilde Mann» im Besitz der vornehmen Familien Werdmüller und von Orelli, beide in der aufstrebenden Zürcher Seidenund Textilindustrie tätig. Wie so viele Häuser an der Marktgasse beherbergte auch der «Wilde Mann » eine Wirtschaft, unter anderen und bis kurz vor 1900 das bekannte «Cafe Appenzeller ». Zu jener Zeit gehörte die Liegenschaft Jean

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Nötzli, Gründer und «Redactor» der Satire-Zeitschrift «Nebelspalter». Jetziger Besitzer des «Wilden Manns» ist Beat Curti. 2010 liess er das Haus renovieren und in den oberen Geschossen anstellte von Büros Wohnungen einbauen. Im Parterre befindet sich « Change­ maker», ein Geschäft für Wohn- und Fashionaccessoires, das, ganz im Sinne Curtis, darauf achtet, dass seine Waren nachhaltig produziert worden sind. Ebenfalls im Besitz von Beat Curti ist der Kiosk, der, flankiert von Condomeria und Saftladen, an der nördlichen Brandmauer des «Wilden Manns» klebt. Anstelle dieser drei kleinen, zweigeschossigen Verkaufsläden befand sich das aus dem 14. Jahrhundert stammende, weit in den nachmaligen Elsässerplatz hinausreichende « Neuhaus ». Um für das «Panner», die nach Quartieren organisierte Ortswehr, Raum zu schaffen, baten die Anwohner 1 702 den Rat von Zürich, das «Neuhaus » abzubrechen. In den später hier entstandenen Geschäften verkauften Knopfmacher und Vergolder ihre Produkte. Den Kiosk, anfänglich wohl ein Tabakladen, gibt es seit 1953.


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