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Face to Face
Zwei Menschen, zwei Sichtweisen: Dr. Ingrid Nestle (43), grüne Bundestagsabgeordnete aus Schleswig-Holstein, und Prof. Dr. Stefan Kooths (52), Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum im Kieler Institut für Weltwirtschaft, diskutierten auf Einladung von NORDMETALL über den Klimawandel, die Kosten für seine Eindämmung und die Risiken einer überzogenen Klimapolitik.
Standpunkte: Eine Klimaschutzpolitik, wie sie sich die Grünen vorstellen, wird die Steuerbürger mit vielen weiteren Milliarden belasten. Gleichzeitig steigen Energiepreise schon jetzt so stark, dass dies auch durch eine Abschaffung der EEG-Umlage kaum kompensiert werden könnte. Woher soll das viele Geld für Ihre Klimaschutzpolitik kommen?
Nestle: Die aktuelle Entwicklung zeigt sehr deutlich, dass Klimaschutz an vielen Stellen wesentlich günstiger ist, als schlicht auf fossile Energie zu setzen. Wenn man etwa die Preise für fossiles Gas oder für Wind und Sonnenstrom am Energiemarkt vergleicht, dann sind die erneuerbaren Energien deutlich günstiger. Man sieht es ja sogar an der Börse: Wenn viel Wind da ist, gehen die Strompreise runter.
Kooths: So einfach ist das nicht. Sie müssen die systemische Frage stellen: Welches Energiesystem hat welche Kosten zur Folge? Wind und Solarstrom kostet in der Tat fast nichts – wenn die Sonne scheint und wenn der Wind weht. Aber die gesamten Bereitstellungskosten, die Kosten für neue Leitungen und Speichersysteme, die müssen natürlich berücksichtigt werden. Und das macht die Sache teuer.
Nestle: Wenn wir die Gesamtgestehungskosten der erneuerbaren Energien ansehen, dann liegt Wind und Sonnenstrom bei fünf bis sechs Cent pro Kilowatt-Stunde, maximal sieben. Strom aus Gaskraftwerken kostet dagegen zurzeit 14 bis 16 Cent! Und Sie haben recht: Man muss nicht nur die Gesamterzeugungskosten, sondern die Systemkosten betrachten. Die werden bei Fortnutzung der fossilen Energien brutal, da müssen Sie die Klimakrise mit berechnen. Die Energiewende muss man intelligent machen, um wetterabhängige, erneuerbare Energien mit in ein Gesamtkonzept zu integrieren. Wir Grüne haben ein solches Konzept, das unter anderem darauf setzt, dass flexible Verbraucher tatsächlich auch flexibler reagieren und dafür belohnt werden. In diesem Konzept beachten wir tatsächlich die gesamten Systemkosten einer Versorgung mit 100 Prozent Erneuerbaren.
Kooths: Derzeit spielen die herkömmlichen Energien den Ausputzer für die neuen, die wir in unser System integrieren wollen. Wir reden hier aber nicht nur über Strom, sondern auch über Heiz-Brennstoffe oder Kraftstoffe für die Mobilität. Das sind ganz andere Dimensionen, die wir nicht nur von den Produktionskosten her, sondern gesamtwirtschaftlich betrachten müssen. In 20 oder 30 Jahren, wenn diese Transformation global tatsächlich gelungen sein sollte, könnten wir die positiven Effekte sehen, durch bessere klimatische Bedingungen. Aber auf dem Weg dorthin, da brauchen wir uns nichts vorzumachen, wird die Produktion teurer werden. Im Übrigen ist es ganz einfach: Wenn es so wäre, dass die erneuerbaren Energien jetzt schon die fossilen Brennstoffe beim Preis schlagen würden, dann hätte die Welt längst umgesattelt. Wir reden hier wirklich über einen massiven Eingriff in unsere Produktionsstrukturen, und das ist eben nur zu haben, wenn wir dafür entsprechend Konsum in der Übergangsphase einschränken.

Prof. Dr. Stefan Kooths erblickte am 17. Februar 1969 in Mettmann das Licht der Welt. Er studierte Volkswirtschaft an der Universität Münster und hat dort 1998 mit einer konjunkturtheoretischen Arbeit promoviert. Nach mehrjähriger Tätigkeit an seiner Alma Mater wechselte er 2005 in die angewandte Wirtschaftsforschung, zunächst als Forschungsleiter in der Konjunkturabteilung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Seit 2010 arbeitet er für das Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel), 2014 wurde er dort Konjunkturchef. Er lehrt an der BSP Business and Law School (Berlin/Hamburg) und ist Vorsitzender der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft.
Foto: Dirk Hasskarl
Standpunkte: Zurzeit wird über noch teurere Kilowattstunden diskutiert und über CO2-Preise von 200 Euro. Wie kann da verhindert werden, dass Klimaschutz nicht Deindustrialisierung bedeutet?
Nestle: Vielleicht erst mal zu der Frage, warum die Erneuerbaren im Moment noch so teuer sind. Wenn man genau hinschaut, haben wir es geschafft, dass Wind- und Sonnenstrom deutlich günstiger ist, als vor zehn Jahren. Aber jetzt, nachdem wir den „Breakeven“-Punkt erreicht haben, ist die Produktion von Erneuerbaren massiv heruntergefahren worden. Das müssen wir ändern. Wenn wir jetzt schneller ausbauen, dann sinken die Strompreise wieder.
Kooths: Das ist gar nicht so einfach: Der Windkraftausbau ist zuletzt an den mangelnden Übertragungskapazitäten gescheitert. Weil die großen Stromtrassen in den Süden und Westen weiter fehlen, hilft es jetzt nichts, noch weitere Windkraftparks etwa in der Nordsee zu installieren.
Nestle: Das stimmt so nicht. Selbst in den Hochzeiten der Abregelung sind 97 Prozent des sauberen Stroms im Netz angekommen. Ich finde, das ist eine Verfügbarkeit, die absolut in Ordnung ist. In Schleswig-Holstein ist die Abregelung durch den Netzausbau gedrittelt worden.

Dr. Ingrid Nestle MdB wurde am 22. Dezember 1977 in Schwäbisch Gmünd geboren. Seit 2001 ist die Mutter zweier Kinder Mitglied von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. 2003 schloss sie ein Studium des Energie- und Umweltmanagements als Diplom-Wirtschaftsingenieurin ab. Bis zu ihrem Einzug in den Deutschen Bundestag 2009 blieb sie der Europa-Universität Flensburg als wissenschaftliche Mitarbeiterin treu. 2012 holte sie der damalige Landesminister Robert Habeck als Staatssekretärin zurück nach Schleswig-Holstein. Im selben Jahr promovierte sie über "Die Kosten des Klimawandels in der Landwirtschaft". 2017 zog sie erneut in den Bundestag als Grüne Sprecherin für Energiewirtschaft ein und war an den aktuellen Koalitionsverhandlungen beteiligt.
Foto: Dirk Hasskarl
Standpunkte: Vertreten Sie die gleiche These wie Professor Hüther, der vor Kurzem sagte: „Der Wohlstand ist in Gefahr durch diese Transformation“?
Kooths: So pauschal würde ich das nicht sagen, aber es kann viel schiefgehen, wenn wir nicht aufpassen. Die Energiewende beruht auf unsicheren Annahmen und sie kann nur global koordiniert gelingen, was alles andere als trivial ist. Einfach nur Vorbild sein zu wollen, genügt nicht. Eins ist klar: Dekarbonisierung heißt, auf die leicht zugänglichen fossilen Energieträger zu verzichten. Und dafür fallen zusätzliche Kosten an, die wir vorher nicht hatten.
Standpunkte: Glauben Sie, dass die Mehrheit der Deutschen mitzieht, wenn sie das im Portemonnaie spürt?
Nestle: Erst einmal ist das eine demokratische Entscheidung. Zweitens: Die Alternative ist „kein Wohlstand mehr“. Deswegen haben wir uns dafür entschieden, die Ressource CO2-Preis zu bewirtschaften, und das ist richtig. Ich weiß, die Umstellungskosten werden vor allem in der energieintensiven Industrie hoch sein. Es ist sehr teuer, erneuerbaren Stahl mithilfe von Wasserstoff zu produzieren. Aber die Konsumkosten der Haushalte werden etwa bei einem CO2-Preis von 60 Euro nur um 0,4 Prozent steigen. Das müssen wir uns definitiv zumuten.
Kooths: Die Alternative „kein Wohlstand mehr“ ist überzogen, aber das nur am Rande. Entscheidend ist, dass die Verbraucher am Ende alle zusätzlichen Produktionskosten tragen, nicht nur die höhere Energierechnung für den Hausgebrauch. Zu den Extrakosten zählt auch, dass einzelne Verbraucher abgeriegelt werden müssen, um das Netz stabil zu halten. Zudem: Wir werden netto Energieimportland bleiben, aber wir sollten dafür sorgen, dass am Ende nicht nur Stromimporte aus osteuropäischer Kohleproduktion oder Atomstrom aus Frankreich unseren Bedarf absichern.
Nestle: Es stimmt, dass wir für die schwierigsten drei bis vier Wochen im Jahr Kraftwerke brauchen, die mit erneuerbarem Gas betrieben werden. Wir können 60 Gigawatt Gaskraftwerke – das ist schon mal ein guter Happen gesicherter Leistung – vorhalten für vier Prozent der Stromkosten. Wir werden in sehr guten Zeiten mehr Strom haben als wir verbrauchen können und genau den müssen wir verwenden für die Sektorkopplung.
Standpunkte: Frau Dr. Nestle, Sie waren in der Energie-Arbeitsgruppe der Ampel- Koalitionsverhandlungen dabei. Professor Kooths, Sie verfolgen das Geschehen in Berlin genau. Was muss die neue Bundesregierung zuerst für ein Gelingen der Energiewende einleiten?
Nestle: Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien machen. Das ist direkter Klimaschutz, weil dadurch die Kohlekraftwerke weniger laufen. Das senkt die Strompreise, entlastet die Verbraucher und stärkt uns bei der Versorgungssicherheit.
Kooths: Entscheidend ist, die globale Perspektive in den Blick zu nehmen. Wenn die Welt, vor allem China, Indien und andere Schwellenländer, nicht mitziehen, wird das ein industriepolitisches Abenteuer für Deutschland. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass der Umbau zu den geringstmöglichen Kosten erfolgt. Wir müssen soweit wie möglich auf marktwirtschaftliche Mechanismen setzen und nicht auf staatlichen Interventionismus. Subventionen für singuläre Kleinigkeiten wie Lastenräder oder Elektroautomobile gehören abgeschafft. Wir müssen auf den CO2-Preis setzen, eine adäquate Regulierung im außenwirtschaftlichen Bereich finden und alles andere den Marktakteuren überlassen. Mit kleinteiliger Regulierung wird das Ganze nur unnötig teuer und stellt irgendwann die Akzeptanz in der Bevölkerung infrage. Wir sehen das in Frankreich, das sollten wir sehr ernst nehmen.
Standpunkte: Gehen Sie da mit, Frau Dr. Nestle?
Nestle: Was die große Bedeutung der europäischen und globalen Einigkeit angeht: ja. Den zweiten Punkt sehe ich anders. Der Markt regelt das nicht allein, wir brauchen Technologieförderung und Strukturen, die der Staat setzt. So wurde zum Beispiel bei der Solarenergie auch die Marktfähigkeit erst hergestellt.
Kooths: Nein, so maßt sich der Staat ein technologisches Wissen an, auch übrigens ein ökonomisches Wissen, was er gar nicht haben kann. Und alle Subventionen, die Sie für irgendwelche Güter bezahlen wollen, müssen Sie jetzt über andere Steuern eintreiben.
Nestle: Das ist nicht der Punkt. Wir brauchen mehr dynamische Effizienz. Technologieförderung kann nie technologieneutral sein, weil es ja gerade um bestimmte Technologien geht und dieser Verantwortung kann sich der Staat nicht völlig entziehen.
Kooths: Es ist absurd, von dynamischer Effizienz zu sprechen und gleichzeitig dem Staat die Rolle zuzuweisen, die richtigen Technologien auszuwählen. Das passt auch beim CO2-Preis nicht: Da kommt es nur darauf an, dass die Marktakteure wissen, dass er im Trend steigt. Dann werden sie das einkalkulieren. Da brauchen sie nicht an anderer Stelle noch zusätzliche Subventionen.
Standpunkte: Wir danken Ihnen für dieses Gespräch! Alexander Luckow
