2 Online-Journalismus – Chancen, Risiken und Nebenwirkungen (nr-Werkstatt 2)

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kampf engagieren und mit selbstgebastelten Plakaten und Klebeband oder einer Tasse voll Leim plakatieren gehen. Von der Bäckerei in Sarajevo, die wegen dauernder Stromausfälle zum ersten Mal die Produktion zeitweilig einstellen musste, was sie sehr betrübte, da die Bäckerei auch ein Symbol für den Durchhaltewillen der belagerten Stadt war. Von den Parks in Sarajevo, die nach und nach zu Friedhöfen umfunktioniert wurden und von allen Fleckchen freier Erde innerhalb der Stadt, wo Gemüse ausgesät wurde, um etwas zu Essen zu produzieren. Der Schriftsteller Peter Glaser, auch ein Nutzer der BIONIC MailBox, war vom Zagreb Diary so beeindruckt, dass er 1993 ein neues Projekt ins Leben rief: Das Europäische Tagebuch Peter Glaser, Schriftsteller gebürtig aus Graz („dort, wo die guten Schriftsteller für den Export hergestellt werden“), zu jener Zeit in Hamburg lebend und Nutzer der BIONIC-MailBox, war vom Zagreb Diary fasziniert. Als er 1993 vom Literaturhaus in Wien für die Veranstaltung „Worte brauchen keine Seiten“ um einen Beitrag gebeten wurde, schlug er – anstelle des gewünschten 2-Stunden- Chats – ein Projekt mit Langzeitwirkung vor: Ein europäisches Tagebuch. Öffentlich im Brett/t-netz/tagebuch. Schon bald gibt es hier neben den Texten des Zagreb Diary eine Vielzahl von Beiträgen aus vielen verschiedenen Orten, von Hamburg, Leipzig, Essen, Martinroda, Bielefeld bis Wien. Die Tagebuchtexte sind Momentaufnahmen, die schon kurze Zeit später – im Rückblick – so nicht mehr so geschrieben werden könnten. Die entstehenden Geschichten sind zum Teil Miniaturen mit literarischen Qualitäten, die für sich stehen und verstanden werden können. Aber sie sind auch Teil eines kollektiven Gedächtnisses. Geschichte in Geschichten. t-netz/tagebuch ist damit Vorläufer der heutigen Blogs im WWW. Die Basis war auch damals eine Software, die Freiraum schuf: Die Zerberus Software Durch die Entscheidung für das Zerberus–Netz, wegen seiner politischen Inhalte, wegen der dezentralen und demokratischen Struktur und wegen der klaren Ablehnung von Zensur, hatte sich die Verwendung der Zerberus-Software für die BIONIC MailBox quasi automatisch ergeben. Schon bald ergaben sich weitere Anknüpfungspunkte: Vom FoeBuD wurde ein Zerberus-Userhandbuch geschrieben. Und die Zerberus-Programmierer Wolfgang Mexner und Hartmut Schröder waren offen für Kritik und Anregungen zur Software. Die erste Anregung, die verwirklicht wurde: Systembetreiber konnten nicht mehr auf dem Konsolenbildschirm mitlesen, was Teilnehmer gerade

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28.07.2005, 16:28


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