Theatermagazin September 2017

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DIE LIEBE IN HEUTIGEN GROSSSTÄDTEN Anja Hilling gehört zu den wichtigen Autorinnen der Gegenwart. In ihrem neuen Text wirft sie einen Blick auf moderne Paarbeziehungen. Regisseurin Friederike Heller und Musiker Maximilian Hecker im ­Gespräch mit Dramaturgin Carolin Losch.

Bloß nicht die Kontrolle verlieren! Verwickelte Lebensgeschichten, unerfüllte Sehnsüchte und die Suche nach der großen Liebe. Anja Hillings Stück trifft den Nerv unserer Zeit.

Carolin Losch: »Einen Traum, den man wahr macht, hat man missverstanden«, sagt eine der acht Figuren im Stück. Es geht um das Verstreichen von Zeit, um Ernüchterung und scheiternde Lebensentwürfe. Friederike Heller: In diesem Stück dreht sich alles um die Liebe, aber im Zentrum steht eigentlich die Anstrengung, einen Kontrollverlust durch allzu starke Gefühle zu vermeiden. Das wollen moderne Zeitgeistmenschen nicht. Sie wollen cool sein, ein ungebundenes Leben führen und eine utopische Lebenssituation erfinden. Bloß nicht Blut, Schweiß und Tränen! Letztlich sind wir alle zum Scheitern verurteilt, aber ich finde den Gedanken tröstlich, dass es Lebensbeziehungen gibt, deren Spuren nicht auszulöschen sind. CL: Maximilian, das ist deine erste Arbeit am Theater. Hast du gleich ein Verhältnis zu Anja Hillings Sprache aufbauen können? Maximilian Hecker: Ich habe das Stück als einen Bewusstseinsstrom begriffen und denke, der Zuschauer wird die Sprache sinnlich erfahren. Die Musik schafft eine zusätzliche Ebene, die das Sinnliche betont und den Abend zu einem körperlichen Erlebnis macht. In der Musik drückt sich etwas aus, was die Figuren nicht zulassen können: die Emotion, das Nicht-Rationale. FH: Der Text ist durchzogen von einem melancholischen Grundton, er ist aber auch sehr komisch. Diese acht sehr modernen Menschen, die sich zu vier Paaren zusammenfinden, sind Meister des Wortgefechts. Bei aller Skepsis, mit der sie auf die Welt blicken, haben sie sich ihren irrsinnigen Humor bewahrt. CL: Nach welchen Kriterien hast du die Musik ausgewählt? MH: Zum großen Teil verwende ich Songs oder Instrumentalparts aus meinem

Repertoire. Dabei ist es mir extrem wichtig, dass sie musikalisch zu den Texten von Anja Hilling passen. Aber da ein Großteil meiner Texte um die Sehnsucht zu lieben kreist, passt das ganz gut. Ich bin sozusagen ein Experte, Liebesunfähigkeit zu besingen. FH: Man könnte das Zurückschrecken vor dem großen Gefühl als Charakteristikum unserer Zeit bezeichnen. Stichwort: Coolness, Dating-Plattformen im Internet, Tinder. Damit einher geht eine Verunsicherung in der politisch-philosophischen Gesamtlage. Ein großes Thema in dem Stück ist auch die Abwesenheit von Gott. Wie gestalten wir das Zusammenleben in einer Gesellschaft, die sich von einer übergeordneten Erzählung, einer einenden Idee abgewandt hat? Wir beginnen gerade erst, Regeln für das Leben in einer postsäkularisierten Gesellschaft zu definieren. Anja Hillings Text, der von Ovids »Liebeskunst« angeregt wurde, entwirft einen anarchischen Pantheismus, eine wilde Mischung aus christlichen Wurzeln und mythischen Elementen. MH: Eine christliche Erlösungssehnsucht scheint in uns allen zu stecken, sie ist nicht auszurotten. Als Jugendlicher war ich Mitglied beim CVJM, aber als dann Kurt Cobain starb und ich Nirvana-Fan wurde, war es mit dem Christentum bei mir vorbei. Deshalb bleibt mir nicht mehr viel anderes als die Kunst.

Friederike Heller inszenierte u. a. am Thalia Theater Hamburg, am Schauspiel Stuttgart, am Residenztheater München und an der Berliner Schaubühne. Maximilian Hecker lebt als Musiker in Berlin und veröffentlichte bisher acht Alben. Sein Debut Infinite Love Songs wurde von der New York Times unter die zehn besten Alben des Jahres 2001 gewählt. Gerade ist Hecker von einer ­großen Asien-Tournee zurückgekehrt. cl

WIE KANN ICH DICH FINDEN, ZU MIR ZIEHEN UND ÜBERREDEN ZU BLEIBEN (UA)  von Anja Hilling Premiere  Mi, 27. September 2017, 20.00 Uhr im Studio Werkhaus, anschließend Premierenfeier im Casino Inszenierung Friederike Heller | Ausstattung Sabine Kohlstedt | Musik Maximilian Hecker | Licht Björn Klaassen | Dramaturgie  Carolin Losch Mit  Larissa Breidbach, Jennifer Frank, Almut Henkel, Anne-Marie Lux, Carmen Witt, Julius Forster, Maximilian Hecker, Boris Koneczny, Matthias Thömmes Weitere Vorstellungen  Fr, 29. September, So, 8. und Mi, 18. Oktober 2017 Karten  15,-/9,- €


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