Stadtteilserie Magazin Zachow

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Ihr Magazin

Es läuten die Glocken – Das Paulusviertel ist eine der beliebtesten Wohngegenden in Halle (06/11) Von der Schlafstadt zur Waldstadt – Die Silberhöhe hat heute mit Imageproblemen zu kämpfen (07/11) Mediterranes Flair im Künstlerviertel – Kröllwitz ist in Halles Norden Rückzugsort und Ausflugsziel zugleich (08/11) Am Anfang eine Lotterie – Beim Hausbau im Dautzsch gab jeder alles (09/11) Lebendig trotz Friedhof und Galgenberg – Die Anwohner des Landrains schwören auf den dörflichen Charakter ihres Kiezes (10/11) Ein Gesundbrunnen für Leib und Seele – Der gleichnamige Stadtteil wird durch Sportstätten und grüne Idylle geprägt (11/11) Grün statt grau – Im Viertel Lutherplatz / Thüringer Bahnhof sind Industriebrachen Vergangenheit (12/11) Weißes Gold und grünes Paradies – Das ehemalige Agrardorf Lettin ist Magnet für Prominente und Ausflügler (01/12) Der Name ist Programm – Am idyllischen „Ende der Stadt“ , der Frohen Zukunft, entstehen mehr und mehr Wohnhäuser (02/12) Vom Glück der neuen Eiszeit – Böllberg und Wörmlitz werden durch den Saalelauf geprägt (03/12)

Mitten im Leben. Mitten in Halle.


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Es läuten die Glocken

Das Paulusviertel ist eine der beliebtesten Wohngegenden in Halle Wer in Halle wohnt, kennt das HändelDenkmal, die Marktkirche oder die Franckeschen Stiftungen. Aber wissen Sie auch, was in Ihrer unmittelbaren Umgebung sehenswert ist? Die unterschiedlichen Facetten hallescher Stadtteile stellen wir in einer Serie vor.

Wer nach Halle zieht und auf der Suche nach einer Wohnung in einer schönen Gegend ist, dem wird zumeist das Paulusviertel empfohlen. Warum? Ganz einfach: Hier leben viele junge, gebildete Menschen; es gibt wunderschöne renovierte Häuser mit prächtigen Vorgärten; es ist zentral gelegen und doch relativ verkehrsarm. „Ich lebe gern hier!“, erklärt Karla Fischer. Man grüße sich untereinander, dazu gebe es viel Grün. Besonders die sternförmige Anordnung der Straßen gefalle ihr, sagt Fischer, die seit 2007 Kinderärztin im Paulusviertel ist. Und auch Heidrun Kaufmann vom gleichnamigen Kuchenladen ist von ihrem Stadtteil überzeugt: „Das Ambiente ist wundervoll,

nicht zu vergessen die freundlichen Leute“, schwärmt die Hallenserin, deren frisch gebackene Kuchen im Paulusviertel mittlerweile legendär sind. Bürgerwall zum Erhalt des Viertels Anfang 1990. (Foto: privat)

Entstehung des Paulusviertels 1870 noch bestand das Gelände rund um den Hasenberg überwiegend aus Weide- und Ackerland. Aufgrund zweier Quellbäche war es hier recht sumpfig (was die häufig feuchten Keller von heute erklärt). Lediglich zwei Straßen führten durch diese Gegend: die Feld- und die Ackerstraße (heute Humboldtstraße). Obwohl das Land für eine Bebauung ungeeignet war, machte das rapide Bevölkerungswachstum in Halle eine Erschließung des Nordostens notwendig. Einen ersten Bebauungsplan gab es 1878. In ihm wurde der Hasenberg wegen seiner natürlichen Höhe als Zentrum festgelegt. Von ihm aus sollten zwei Ringund acht Radialstraßen verlaufen – eine Anordnung, die das Viertel heute so speziell macht. Markant ist auch die Pauluskirche, für die   der erste Spatenstich am 25. Juli 1900 erfolgte. Im Gegensatz zu heute gehörten 25 Prozent der Menschen, die um die Zeit um den damaligen Kaiserplatz (heute Rathenauplatz) wohnten, zu den unteren Schichten. Das lag an der

sogenannten Segregation: Während die besser gestellten Familien im Vorderhaus lebten, waren im hinteren Bereich, ganz oben oder Souterrain, die Arbeiter und Witwen beherbergt. Dazu gab es an den Randlagen des Viertels ganze Straßenzüge, die nur von Arbeitern bewohnt waren. Der drohende Verfall Zu DDR-Zeiten hingegen war das Paulusviertel wegen seiner großen Wohnungen mit den hohen Wänden vor allem bei Akademikern, Ärzten und Freunden der Partei beliebt. Wer hier wohnen wollte, brauchte Beziehungen und die richtige Einstellung, denn ab 1949 sind die einst prächtigen Bauten zunehmend verfallen. Mit einer Miete von 109 Mark für 150 Quadratmeter (Stand: 1981 – heute liegt der Preis bei dem Zehnfachen) war eine Renovierung nicht finanzierbar. Die Mieter mussten sich, wenn möglich, selbst helfen und „besorgten“ Gasheizung und Co. Viele sagen: Wäre die Wende nicht gekommen, wäre in spätestens zehn Jahren die Bausubstanz endgültig am Ende gewesen. Im Herbst 1989 gründeten engagierte Bewohner um Hanna Haupt, die zu der Zeit aus Thü-


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Das Paulu

sviertel

Der Hausbesuch Friedhelm Kasparick ist Pfarrer in der Paulusgemeinde. Der 49-Jährige wohnt seit sechs Jahren mit seiner Familie in einem sanierten Altbau in der Adolf-von-Harnack-Straße. Wir haben ihn besucht.

Durchschn ittsalter: 36 ,5 (Stand: 3/ Einwohne 11) r: 11.732 (S tand: 12/10) Fläche: 1,0 8 km² Mietspiege l: 5,64 €/ m ² (40 - 80 m

Kinder demonstrieren für 'Tempo 30' in der Humboldtstraße. (Foto: privat)

ringen zugezogen war, die „Bürgerinitiative Paulusviertel“ (BI), die sich die Verschönerung und Entwicklung des Stadtteils zum Ziel setzte. „Wir waren damals noch naiv. Zum Beispiel erstellten wir Listen mit leerstehenden Wohnungen, dabei ging der größte Teil der Häuser sowieso zurück an die Privateigentümer“, erinnert sich Hanna Haupt. „Zu unseren ersten Forderungen gehörte 'Tempo 30' und die Regelung 'rechts vor links' – beides wurde erst vor etwa zehn Jahren realisiert.“ Die heute 63-Jährige ist stolz auf die zahlreichen Aktionen, die sie gemeinsam mit der Bürgerinitiative in die Wege geleitet hat. Zu den bekanntesten zählt das traditionelle Paulusfest im Mai, zu den jüngsten der „Familiengarten“ auf der Grünfläche am Jugendamt (Schopenhauerstraße). Im Übrigen sind engagierte Bürger im Paulusviertel

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Stand: 4/11 ) Arbeitslose nzahl: 2,7 % (Stand: 3/ Stärkste P 11) artei (Wahl 2011): CDU Wahlbeteil 23,6 % igung: 53,2 % Besonderh eit: 24h-Ed eka und T platz ennis-

Tradition. Bereits 1903 gab es den „Verschönerungsverein“, der sich aktiv mit der Gestaltung des entstehenden Viertels auseinandersetzte. Im Hier und Jetzt Wer heute im Paulusviertel wohnt, weiß, dass es in Sachen Verschönerung noch einiges zu tun gibt. So bemängeln Anwohner die wenigen Parkmöglichkeiten, den schlechten Zustand der Straßen und die oft von Wurzeln zerbrochenen Gehwege, die vor allem Eltern mit Kinderwagen den Spaziergang versalzen. Einige noch unsanierte Häuser stehen zwischen prachtvollen Bauten im Jugendund Gründerstil. Besucher schlendern gern durch die breiten, verkehrsberuhigten Straßen, bewundern die restaurierten Ornamente und die Pauluskirche auf dem Hasenberg, auf dem man nicht nur im Sommer wunderbar entspannen kann. All das macht den Stadtteil zu einem der schönsten in Halle. 1

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Wieso dieses Haus? Erstens gefällt uns die Lage und zweitens die Leute, die hier wohnen. Außerdem muss ich als Pfarrer in der Gemeinde präsent sein, und ich habe einen Arbeitsweg von nur drei Minuten. Wie würden Sie den Geruch Ihrer Wohnung beschreiben? Es riecht nach Holz. Die Dielen, alte Türen und viele unserer Möbel sind aus Holz. Kennen Sie eigentlich Ihre Nachbarn? Ja. Wir sind drei Familien mit Kindern und alle sind sehr tolerant. Da kann man auch abends noch Musik machen. Was hören Sie, wenn die Fenster offen sind? Vor allem die Straßenbahn und Autos. Nicht das Glockenläuten der Pauluskirche? Stimmt. Das Abendläuten höre ich 18 Uhr. Manche Leute im Paulusviertel nervt das schon. Andere finden es gut. Was riechen Sie, wenn Sie aus dem Haus kommen? Im Augenblick: einfach Natur. Am Reileck rieche ich dann Benzin. Da freue ich mich immer wieder über unseren kleinen grünen Gürtel vor dem Haus. Was sehen Sie, wenn Sie aufwachen? Die große Pappel im Hinterhof. 1

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Was ist so besonders am Paulusviertel? Es liegt sehr zentral in Halle und doch sind wir von Grün umgeben. Für mich ist das wie eine Oase.

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In unserer nächsten Ausgabe lesen Sie Teil 2: Silberhöhe Haben Sie Hinweise oder alte Bilder von Ihrem Viertel? Schreiben Sie uns an: 9 Redaktion@Tempo-in-Halle.de oder per Post: Barfüßerstr. 11

Pfarrer Kasparick lebt gern im Viertel. (Foto: Julia Steiner)

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Von der Schlafzur Waldstadt

Die Silber

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Masse statt Klasse: Die Silberhöhe hat heute mit Imageproblemen zu kämpfen Wer in Halle wohnt, kennt das HändelDenkmal, die Marktkirche oder die Franckeschen Stiftungen. Aber wissen Sie auch, was in Ihrer unmittelbaren Umgebung sehenswert ist? Die unterschiedlichen Facetten hallescher Stadtteile stellen wir in einer Serie vor.

Das Stigma hält sich hartnäckig: Silberhöhe? Bloß nicht! Da gibt’s nur „Arbeiterschließfächer” in standardisierten Wohnblocks und überhaupt: Gleicht das Ganze nicht eher einer Betonwüste? „Eben nicht”, sagt Ramona Müller, die wir am „Schneckenbrunnen” des Stadtteils treffen. Sie hat das Kiez-Porträt in der vorangegangenen Tempo-Ausgabe gelesen und sagt: „Bei uns ist es viel grüner als im Paulusviertel.” Wenn man sich umblickt, kann man ihr nur Recht geben: Ein Band mit großzügigen Rasenflächen, Strauch- und Baum-Arealen, Spielplätzen und Kunstplastiken zieht sich vom Gesundheitszentrum im Norden der Silberhöhe südwärts hinunter bis nach Beesen. Der sogenannte zent-

rale Grünzug hat es auch Frank Motzki angetan, der in seiner Silberhöhen-Hymne die Vision einer Waldstadt besingt. „Schon heute kann man an jeder Ecke Kaninchen rumflitzen sehen”, sagt der 62-Jährige. Alles also im grünen Bereich? Nein. Denn auch wenn die Innenwahrnehmung der Bewohner sehr viel positiver ausfällt als die mitunter Klischee-geprägte Einschätzung von außen, hat der Stadtteil in Halles Süden mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen. Problemen, die im Grunde bereits mit dem Bau der Großwohnsiedlung angelegt wurden. Das DDR-Wohnbauprogramm Bis weit in die 70er Jahre war auf der Silberhöhe (der Name leitet sich unserem Leser Helmut Wiebach zufolge von einem angeblich dort vergrabenen Silberschatz ab) nichts. Beziehungsweise landwirtschaftlich genutzte Freifläche. Dann kam das Wohnungsbauprogramm der damaligen DDR-Führung und mit ihm das ambitionierte Ziel, bis 1990 jede Familie mit einer eigenen Wohnung zu versorgen. Weil aus Geldmangel das Prinzip „Masse statt Klasse” galt, wurden in der Silberhöhe zwischen 1979 und 1990 in Windeseile knapp 15 000 Wohneinheiten für bis zu 45 000 Einwohner aus dem Boden gestampft. In die

Durchschn ittsalter: 46 ,7 (Stand: 3/ Einwohne 11) r: 13 199 (S ta nd: 03/11) Fläche: 2,0 4 km² Mietspiege l: 4,22 €/ m ² (40 - 80 m ²-Wohnung

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Stand: 4/11 ) Arbeitslose nzahl: 11,2 5 % (S tand: 3/11) Stärkste P artei (Wahl 2011): Die LINKE 34,3 % Wahlbeteil igung: 29,9 % Besonderh eit: Kleing a rtensparte berhöhe“ a „Siln der Hano ier Straße

Wohnungen zogen, durch die sozialistische Familienpolitik bevorzugt, vor allem junge, oftmals in den nahegelegenen Buna-Werken beschäftigte Ehepaare mit Kindern. Ein Problem war von Beginn an, dass die Schaffung der nachgelagerten Infrastruktur wie etwa Versorgungs- und Freizeitmöglichkeiten oder auch die Gestaltung der Freiflächen, mit dem Rekordtempo des Wohnungsbaus nicht Schritt hielt. In dieser Zeit hatten die stigmatisierenden Begriffe wie „Schlafstadt”, „Wohnklos” oder eben „Betonwüste” ihren Ursprung. Zwei Drittel Einwohner verloren Während die trockenen und fernbeheizten Neubauwohnungen zu DDR-Zeiten angesichts der maroden Altbausubstanz begehrt waren,


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Der Hausbesuch

Das Neubaugebiet Halle-Silberhöhe 1985. (Foto: Thomas Billhardt)

Der Schneckenbrunnen im zentralen Grünzug. (Fotos: Andreas Löffler)

kehrte sich nach der Wende das Bild: Wer es sich leisten konnte, zog in ein Eigenheim in den „Speckgürtel” rund um Halle. Im Zusammenspiel mit jobbedingten Weggängen und dem Auszug der inzwischen erwachsenen Kinder sank die Einwohnerzahl von ihrem Maximalwert von 40 000 im Jahr 1990 bis heute um nahezu zwei Drittel. Die Folge waren erhebliche Leerstandsquoten, die in der Spitze mehr als 30 Prozent erreichten. Um diesem „Nurnicht-als-letzter-übrig-bleiben-Effekt”, wie ihn Karsten Golnik vom halleschen Stadtplanungsamt benennt, Einhalt zu gebieten, wurde ab der Jahrtausendwende mit dem Abriss und dem Rückbau begonnen. Parallel wurden die Anstrengungen bei der weiteren Ausgestaltung des zentralen Grünzugs und der von den Wohnblocks umgebenen Innenhöfe intensiviert. Nach dem selektiven Wegzug ist vor allem die Erstbezieher-Generation in der Silberhöhe geblieben. Damals Mitte/Ende zwanzig, gehen sie heute vielfach auf das

Rentenalter zu und wissen solche grünen Oasen der Ruhe ganz besonders zu schätzen. Bestens vernetzt kennen sie den Kiez wie ihre Westentasche und schwören auf die kurzen Wege: „Zu meinem Hausarzt im Gesundheitszentrum brauche ich nicht einmal fünf Minuten. Und ich habe hier einen richtigen Einkaufspalast”, sagt Roswitha Schulz, der wir im E-Center an der Weißenfelser Straße begegnen. „Ich bekomme alles, sogar einen Fischstand gibt es. Es ist bestimmt kein Zufall, dass auch viele Leute aus Beesen und der Rosengarten-Siedlung hierher zum Einkaufen und Bummeln kommen”, meint die rüstige ältere Dame.

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Angebote für die Älteren Überhaupt wird den Bedürfnissen der älteren Bevölkerungsgruppen mehr und mehr Rechnung getragen. Die Wohnungsgenossenschaften haben eine ganze Reihe von Wohnblocks spezifisch für altersgerechtes, teilweise betreutes Wohnen saniert. In die einstigen Kindertagesstätten ist mit soziokulturellen Zentren und Begegnungsstätten neues Leben eingezogen. Wie etwa die „Schöpfkelle“, die Mittagstisch, Sprach- und Sportkurse, Spiele-Abende, ja, sogar ein kleines Kino anbietet. Freilich: Für jüngere Leute dürfte das stärkste Argument Pro Silberhöhe allenfalls in den günstigen Wohnungsmieten liegen. Es gibt nicht eine einzige Kneipe. Selbst Anreize wie halbierte Kaltmiete habe es schon gegeben, weiß Susanne Knabe, Sprecherin des Arbeitskreises Geographische Wohnungsmarktforschung: „Insgesamt lässt sich noch nicht seriös prognostizieren, wie sich die Silberhöhe langfristig entwickeln wird.” Frank Motzki hält mit seiner Silberhöhen-Hymne dagegen:

Georgia Kroll ist Sozialgeographin am Institut für Geographie der Uni Halle. Die 64-Jährige, die sich im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit wiederholt mit den Entwicklungsproblemen von Großwohnsiedlungen wie eben der Silberhöhe auseinandergesetzt hat, gehörte 1981 mit zu den ersten Bewohnern des Stadtteils und lebt seitdem in einem der typischen Fünfgeschosser in der Stendaler Straße. Wir haben sie besucht. Was ist so besonders an der Silberhöhe? Es ist ein äußerst funktionales und, wenn man so will, praktisches Wohnviertel. Die Wege zu Versorgungseinrichtungen wie ­Supermarkt oder Gesundheitszentrum sind kurz, die Wohnungen pflegeleicht. Wieso dieses Haus? Wir sind hier zu DDR-Zeiten eingezogen. Das heißt, damals bekam man die Wohnung durch die staatliche Wohnraumlenkung zugewiesen. Für uns als junges Ehepaar mit zwei Kindern war der Neubaublock mit Fernheizung und fließend Warmwasser nach 14 Jahren in einer 2-Zimmer-Altbauwohnung mit Kohleofen und Außen-WC das reinste Paradies. Kennen Sie eigentlich Ihre Nachbarn? Sehr gut sogar, zumal nach wie vor einige Erstbewohner wie wir hier wohnen. Man erkundigt sich nach dem Befinden, hilft und packt mit an, wenn diesmal nötig ist, erledigt Besorgungen mit. Was hören Sie, wenn die Fenster offen sind? Glücklicherweise praktisch keinen Straßenlärm, da wir nicht an einer Hauptverkehrsachse liegen. Ansonsten und gerade jetzt im Sommer: Vogelgezwitscher. Was riechen Sie, wenn sie aus dem Haus kommen? Vor der Wende zogen dann und wann Karbidschwaden aus Buna zu uns herüber. Heute riecht es nach Grün und nach Natur. Was sehen Sie, wenn Sie aufwachen? Unseren grünen Innenhof und hin und wieder ein wildes Kaninchen. 1

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„Manche sind schon weggezogen, Suchten sich ein neues Heim, Bleib doch in der Waldstadt wohnen, Denn wir wollen treu dir sein. Vögel werden Nester bauen, Und sie zwitschern manches Lied, Hasen kann man heut’ schon schauen, Unseren Stadtteil haben wir lieb.”

In unserer nächsten Ausgabe lesen Sie Teil 3 unserer Stadtteilserie: Kröllwitz

Georgia Kroll vor ihrem Wohnblock in der Stendaler Straße.

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Mediterranes Flair im Künstlerviertel

Kröllwitz

Kröllwitz ist in Halles Norden Rückzugsort und Ausflugsziel zugleich Wer in Halle wohnt, kennt das HändelDenkmal, die Marktkirche oder die Franckeschen Stiftungen. Aber wissen Sie auch, was in Ihrer unmittelbaren Umgebung sehenswert ist? Die unterschiedlichen Facetten hallescher Stadtteile stellen wir in einer Serie vor.

Kröllwitz könne das Montmartre Halles werden, meinte vor sieben Jahren „Burg“-Kanzler Wolfgang Stockert. Und tatsächlich gilt der Stadtteil als das heimliche Künstlerviertel. Vor allem Maler hatten und haben die Idylle an der Saale für sich entdeckt: Albert Ebert, einer der bedeutendsten naiven Künstler der damaligen DDR, lebte nach dem zweiten Weltkrieg in der Talstraße. Nach Carl Adolf Senff (Biedermeierzeit) und Wilhelm von Kügelgen (Portrait- und Hofmaler von Ballenstedt) wurden sogar Straßen in Kröllwitz benannt. Bis heute profitieren Maler wie Moritz Götze, Ehepaar Rataiczyk oder ihr Sohn Matthias vom kreativen Ambiente, das mit dem Skulpturengarten des Kunst-

vereins oder „Kunst und Keramik im alten Fischerhaus“ rund um die Talstraße zu spüren ist. Einstiges Fischerdorf mit Fährbetrieb Ursprünglich war der heutige Stadtteil, der sich von der Saale entlang der Gartenanlagen an der Äußeren Lettiner Straße bis zur Endhaltestelle der Straßenbahn Nr. 7 erstreckt, ein sorbisches Fischerdorf. Erstmals erwähnt wurde „Crolewiz“ 1291. Neben der Fischerei ist die Papierproduktion ein wesentlicher Aspekt der Stadtteilhistorie. 1714 wurde an der Saale eine Papiermühle gebaut, die vier Jahre später Johann Christian Keferstein pachtete. Er stellte Papier für die Druckerei und Buchhandlung des Waisenhauses von August Hermann Francke, dem späteren Eigentümer, her. Über fünf Generationen bis 1871 blieb die Mühle unter Kefersteinscher Regie. Der Versuch, gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Sulfatverfahren für die Herstellung einzusetzen, hatte eine hohe Luftverschmutzung zur Folge. „Es cröllwitzt“, sagten die Leute, wenn der beißende Geruch aus der Mühle über die Saale wehte. Zunehmend protestierten die Bewohner gegen den Gestank bis die Produktion 1940 eingestellt wurde. Heute ist die Papiermühle zur Ruine

Durchschn ittsalter: 42 ,3 (Stand: 3/ Einwohne 11) r: 5 296 (Sta n d: 03/11) Fläche: 4,5 km² Mietspiege l: 4,73 €/ m ² (40 - 80 m ²-Wohnung

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Stand: 6/11 ) Arbeitslose nzahl: 1,7 % (S ta n d : 3/11) Stärkste P artei (Wahl 2011): CDU Wahlbeteil 35,5 % igung: 57,5 % Besonderh eit: Nähe zu r Saa ten wie der Krug zum gr le, Biergärünen Kran ze

verkommen – die Luft und das Wasser sind dafür wieder sauber. Touristen finden über den Saaleradwanderweg ins Viertel und sind verblüfft von dessen üppig-grüner Schönheit. „Ich liebe den südländischen Charakter hier“, schwärmt Rataiczyk, der in der ehemaligen Kefersteinvilla in der Talstraße wohnt. „Wie bei uns an der Mosel“, soll selbst Klaus Peter Rauen, ehemaliger Oberbürgermeister von Halle, einst erstaunt gesagt haben als er in Rataiczyks Felsengarten hinter dem Haus stand und über die mediterranen Hartlaubgewächse auf die Saale blickte. Eine halbe Million Mark für nichts In den fünfziger Jahren hatte die Stadt große Pläne für Kröllwitz. Curt Barth projektierte da-


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Der Hausbesuch Die Wohnungsgröße ist mit 38 Quadratmetern für Kröllwitz eher ungewöhnlich, die Lage dafür typisch: Zwischen einem alten Fischerhaus, Meerschweinchengehegen und viel Grün wohnt Miriam Littmann direkt an der Saale. Die 32-jährige Burgstudentin hält ihr Domizil in der Talstraße für einen Glücksfall. Wir haben sie besucht.

Als die Kröllwitzbrücke noch aus Holz war, konnten man direkt in die Talstraße gehen. (Archiv: Familie Rataiczyk)

mals die Pädagogische Hochschule, in der sich heute die Institute der Geschichte und Kunstgeschichte befinden. Außerdem begann man auf dem Gelände hinter der heutigen Sporthalle am Brandbergweg, ein riesiges Stadion zu bauen. „Die Tribünen waren schon fertig, und eine halbe Million Mark investiert, als man das Projekt stoppte und nach Leipzig verlegte“, berichtet Barth. Noch heute kann man hier Reste des Stadions sehen. Auf einer Bank vor der Sporthalle treffen wir Marianne Meyer. Täglich geht sie hier spazieren. Mit ihren 77 Jahren beurteilt sie ihre Wohngegend vor allem pragmatisch: „Ich habe alles, was ich brauche: Den Supermarkt im Haus und die Straßenbahn davor“, erzählt uns die Rentnerin.

Ärger im Kiez Fast alle scheinen zufrieden. Wenn da nicht die Baumaßnahmen an der Grundschule neben der Petruskirche wären. Anwohner sind auf die Barrikaden gegangen, als für den Neubau des Hortgebäudes Bäume geopfert werden sollten. „Immer mehr Grünanlagen, die zum Teil mehr als hundert Jahre alt sind, werden zugebaut“, kritisiert Annegret Brandt. Großen Ärger gab es auch, als die Straße „An der Petruskirche“ für das neue Gesundheitszentrum umbenannt werden sollte. In der Fuchsbergstraße treffen wir Bernd Wolff beim Unkrautjäten. Seit elf Jahren wohnt der 64-Jährige hier. Man kenne sich untereinander. „Nur an den großen Autos sieht man, dass die Schickeria zugezogen ist“, sagt er und zeigt auf einen schwarzen Mercedes auf der anderen Straßenseite. Der Wohlstand sei in Kröllwitz eingezogen. Wer das nötige Kleingeld habe, baue sich hier ein Eigenheim, sagt Wolff. Schade. Künstler, die wie im Pariser Stadtteil Montmartre mit ihren Leinwänden und Ölfarben auf einem gepflasterten Marktplatz sitzen, sehen wir in Kröllwitz nicht. Doch sind wir sicher: Hinter den Mauern in den privaten Gärten entsteht gerade ein neues Kunstwerk. Vielleicht eine Kindergeschichte von Juliane Blech oder ein neuer Krimi von Peter Godazgar. Vielleicht setzt Matthias Rataiczyk gerade zum letzten Pinselstrich an. Wir wissen es nicht. Doch spätestens zur nächsten Ausstellung oder Lesung ­werden wir darüber staunen können. 1

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Atelier der Malerfamilie Rataizcyk in der Kefersteinvilla an der Talstraße. (Fotos: Cornelia Hennersdorf)

Was ist so besonders an Kröllwitz? Zum einen das künstlerische Ambiente. Zum anderen ist es so schön ruhig hier, fast wie auf einem Dorf – und trotzdem wohnt man in der Stadt. Wieso dieses Haus? Ich hatte mich im Vorfeld über die schönsten Viertel in Halle informiert. Als ich dann den Aushang in der Uni las, habe ich sofort beim Vermieter angerufen. Hier gibt es nicht mal eine Klingel? Doch, aber erst an meiner Wohnungstür. Das ist für meine Besucher etwas gewöhnungsbedürftig, weil sie erstmal in den Hof kommen müssen. Was riechen Sie, wenn Sie aus dem Haus kommen? Ich weiß nicht, Frische vielleicht? Es riecht so, dass man gern seine Wäsche raushängt. Und die Saale? Die ist das Beste. Ich darf den Garten und alles hier mitbenutzen. Ich fahre also gern mal mit dem Boot raus oder schwimme rüber zum Felsen (Klausberge), klettere ein Stück hoch und springe wieder rein. Kennen Sie eigentlich Ihre Nachbarn? Meine Vermieter und die unmittelbaren Nachbarn kenne ich. Vor allem deren Kinder, weil die oft hier im Hof spielen. Der Sandkasten war mal direkt vor meinem Fenster, da war an Lernen nicht zu denken. Was hören Sie noch, wenn Ihre Fenster offen sind? Bis auf die Vögel und die Meerschweinchen nichts. 1

In unserer nächsten Ausgabe lesen Sie Teil 4 unserer Stadtteilserie: Dautzsch Haben Sie Hinweise oder alte Bilder von Ihrem Viertel? Schreiben Sie uns an: 9 redaktion@zachow-magazin.de oder per Post: Barfüßerstr. 11, 06108 Halle

Miriam Littmann entspannt sich beim Lesen vor ihrem Haus.

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Am Anfang eine Lotterie Dautzsch

Es könnte ja das eigene werden: Beim Hausbau auf dem Dautzsch gab jeder alles Wer in Halle wohnt, kennt das HändelDenkmal, die Marktkirche oder die Franckeschen Stiftungen. Aber wissen Sie auch, was in Ihrer unmittelbaren Umgebung sehenswert ist? Die unterschiedlichen Facetten hallescher Stadtteile stellen wir in einer Serie vor.

Ein Haus gewinnen – das kennt man heutzutage von Lotterien wie etwa der „Aktion Mensch”. Buchstäblich eine Doppelhaus-Hälfte zugelost bekamen Anfang der 30er Jahre aber auch die Mitglieder jener Siedlergenossenschaft, die auf dem fruchtbaren Land zwischen Diemitz und Reideburg in Halles Osten zunächst 58 Doppelhäuser errichtet und damit den Ursprungskern des heutigen Stadtteils Dautzsch geschaffen hatte. „Da jeder an jedem Haus mitwerkelte und immer die Chance bestand, dass genau dieses Heim später das eigene werden würde, haben wohl alle immer und überall beste Qualitätsarbeit abgeliefert”, staunt Volker Grasse, Chef der Dautzscher Wohngemeinschaft,

noch heute über den psychologisch ausgeklügelten Effekt, der nach Abschluss der Bauarbeiten veranstalteten „Häuser-Lotterie“ unter den Genossenschaftsmitgliedern. Motoball und Osterfeuer Als Namenspate für die neue Siedlung mit ihren großen, jeweils um die 1 000 Quadratmeter großen Parzellen, fungierte der Dautzsch – eine nahegelegene Gesteinskuppe vulkanischen Ursprungs, in der Porphyr für den Straßenbau gebrochen wurde und hernach ein Badesee entstand. Als dieser in den 30er Jahren zugeschüttet wurde, nutzte man die entstandene Fläche für FeldHandball, später sogar Motoball-Spiele und für die alljährlichen Osterfeuer. Wenn vom Dautzsch die Rede ist, kommt man, spätestens jedenfalls seit der 1950 erfolgten Eingemeindung nach Halle, nicht am Selbstbehauptungswillen und einer gewissen Widerborstigkeit seiner Bewohner vorbei. So wie im Comic Asterix und die Gallier Rom trotzen, boten und bieten die Dautzscher dem Tun der „Zentralregierung” in Halle die Stirn. „Und wenn man uns von Pontius zu Pilatus schickt: So leicht lassen wir uns nicht abwimmeln”, sagt Volker Grasse und listet Auseinandersetzungen um Hochwasser-Schutzmaßnahmen, Straßensanierung, öffentliche

Durchschn ittsalter: 47 ,8 (Stand: 3/ Einwohne 11) r: 1 864 (Sta nd: 03/11) Fläche: 3,6 km² Mietspiege l: 5,09 €/ m ² (40 - 80 m²Wohnung | Stand: 6/11 Arbeitslose ) nzahl: 4,1 % (Stand: 3/ Stärkste P 11) artei (Wahl 2011): CDU Wahlbeteil 37,1 % igung: 60,3 % Besonderh eit: Tante-E m ma-Laden der Äußeren in Diemitzer S tr aße mit frischen Brö tchen täglic h ab 7 Uhr

Beleuchtung, Busanbindung oder Lärmschutz bei der geplanten Weiterführung der Osttangente auf. Die DDR-Behörden an der Nase rumgeführt Bei einem letztlich erfolgreichen Husarenstreich, von dem man sich heute noch erzählt, war Grasse in vorderster Reihe dabei. Weil der Empfang des Westfernsehens so schlecht war, wollten die Anwohner Ende der 80er Jahre eine große Gemeinschaftsantenne auf dem Dautzschberg errichten. „Aber weil wir mit dieser – ehrlichen – Argumentation natürlich keine Chance auf Genehmigung durch die DDR-Behörden gehabt hätten, haben wir uns einfach etwas hübsch Linientreues ausgedacht, denen eben was von wegen einheitliche


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Der Hausbesuch

Der Siedlungsaufbau am Dautzsch zu Beginn der 30er Jahre. (Foto: privat)

Ansicht der Siedlung gewährleisten, Materialeinsparung und Werterhaltung der Bausubstanz erzählt“, sagt Ex-Volkspolizist Grasse, der sich damals in voller Uniformmontur – und so die sozialistische Legende unterstreichend – in die „Höhle des Löwen“, sprich Rat der Stadt, begab. „Es ist schon erstaunlich, dass die damals gegründete Interessengemeinschaft Dautzscher Antenne bis heute funktioniert“, sagt Heinz Schiedewitz, seit Jahren vor allem im Sportverein vor Ort aktiv. „Auch wenn es längst nicht mehr so einfach ist, die Leute zu bewegen, etwas zu tun: Die Dautzscher nehmen Anteil am Wohl und Wehe ihrer Siedlung.” Neben einem eigenen Fernsehkanal dient vor allem die von der Wohngemeinschaft monatlich herausgegebene Dautzsch-Zeitung dem Informationsaustausch. „Die Blättchen sind stets im Nu vergriffen”, erzählt Frank Mennicke. Der 57-Jährige betreibt bereits in dritter Generation einen Tante-Emma-Laden in der Äußeren Diemitzer Straße, der – aufgewertet durch Hermes-Paketservice, Presse- und Lotto-Shop, Getränke-Heimdienst und nicht zuletzt das jeden Morgen frisch vom Bäcker aus Kanena bezogene

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Die bis heute bestehende Gemeinschafts-Antennenanlage auf dem Dautzschberg. (Fotos: Andreas Löffler)

Backwarenangebot – als Drehscheibe und Marktplatz für den Dautzsch fungiert. Neuankömmlinge und Rückkehrer Heute ist die Siedlung neben Seeben einer der nur zwei halleschen Stadtteile, in denen die Bevölkerungszahl seit der Wende stetig (und auf dem Dautzsch konkret um mehr als 50 Prozent im Vergleich zu 1989) gestiegen ist. Vor allem an Hanf-, Hafer- und Traubenweg wuchsen neue Häuser empor. „Das brachte natürlich auch unserem Sportverein mächtig Zulauf”, sagt Heinz Schiedewitz und verweist stolz darauf, dass die Fußball-Abteilung mit einer Ausnahme auch in sämtlichen Nachwuchsklassen vertreten ist. „Das zwingt uns aber auch zum Improvisieren. Weil wir nur ein Spielfeld zur Verfügung haben, gibt es Überlegungen, die Fläche im einstigen DautzschSteinbruch für sportliche Trainings-Zwecke wiederherzurichten.“ Die Tischtennis-Spieler, Gymnastik- und Aerobic-Jünger des Vereins tummeln sich mangels Turnhalle im Veranstaltungssaal der Sportlergaststätte. Übrigens würden auch viele ältere Dautzscher in ihre frühere Heimat zurückkehren. „Einmal Dautzscher, immer Dautzscher”, sagt Schiedewitz. Er selbst ist 1961 mit seinen Eltern nach Halle-Süd fortgezogen und 1977 mit ihnen auf den Dautzsch ins Haus seiner Großeltern zurückgekehrt. In den 80er Jahren erwarb der heute 59-Jährige nur 300 Meter entfernt – “von einem Skatfreund meines Opas” – selbst eine der typischen DoppelhausHälften. Und zog damit das große Los. Ganz ohne Lotterie. Äußere 1 Diemitze r Straße

Wenn es so etwas wie einen Kiez-Bürgermeister auf dem Dautzsch gäbe – er würde Volker Grasse heißen. Der 67-Jährige ist nicht nur Vorsitzender des ortsansässigen Sportvereins, er ist auch Chef der ­Dautzscher Wohngemeinschaft. Zudem war Grasse lange Zeit einer der Hauptakteure der Interessengemeinschaft Dautzscher Antenne. Wir haben ihn in seiner DoppelhausHälfte im Maisweg besucht. Was ist so besonders am Dautzsch? Es ist eine vergleichsweise verkehrsarme und beschaulich-schöne Wohngegend, zudem auch ohne größere Gewerbeansiedlungen. Man hat Luft zum Atmen, zum Spazierengehen, zum Laufen. Wenn ich die Tür aufmache, stehe ich in der Natur und muss nicht erst kilometerweit fahren, um in meinen Schrebergarten zu kommen. Wieso dieses Haus? Meine Großeltern gehörten in den 30er Jahren zu den Erstsiedlern auf dem Dautzsch, und meine Mutter hat die damals erworbene Doppelhaushälfte mir und meiner Familie weitervermacht. Kennen Sie eigentlich ihre Nachbarn? Keine Frage. Wir haben ein prima Verhältnis, nehmen Pakete für die anderen an, helfen uns gegenseitig bei Instandhaltungs- und Pflegearbeiten, klönen und fachsimpeln – etwa über Gartenthemen. Selbst bei Familienfesten der anderen feiern wir hin und wieder mit. Was hören Sie, wenn Ihre Fenster offen sind? Vogelgezwitscher. Praktisch keinen Straßenlärm. Aber auch: Flugzeuge, wenn sie auf ihrer Route nach und von Schkeuditz mal wieder abkürzen. Und Fahrgeräusche von der Bahntrasse, wenn der Wind ungünstig weht. Was sehen Sie, wenn Sie aufwachen? Wolken, Bäume, Blumen – wohl das, was man sich unter einer heilen Welt vorstellt. Ich blicke in meinen Garten und versuche, meine Schildkröte Sophie zu erspähen. 1

ANDREAS LÖ FFLER

ANDREAS LÖ FFLER

In unserer nächsten Ausgabe lesen Sie Teil 5 unserer Stadtteilserie: Landrain Haben Sie Hinweise oder alte Bilder von Ihrem Viertel? Schreiben Sie uns an: 9 redaktion@zachow-magazin.de oder per Post: Barfüßerstr. 11, 06108 Halle

Volker Grasse liebt seinen Garten hinterm Haus.

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Lebendig trotz Friedhof und Galgenberg

Landrain

Die Anwohner des Landrains schwören auf den dörflichen Charakter ihres Kiezes Wer in Halle wohnt, kennt das HändelDenkmal, die Marktkirche oder die Franckeschen Stiftungen. Aber wissen Sie auch, was in Ihrer unmittelbaren Umgebung sehenswert ist? Die unterschiedlichen Facetten hallescher Stadtteile stellen wir in einer Serie vor.

Man kann es gewiss morbide finden, wenn ein Stadtteil ausgerechnet von einem Galgenberg und einem großen Friedhof dominiert wird so wie der Kiez am Landrain. Man kann aber auch hingehen und die Bewohner fragen – und das genaue Gegenteil in Erfahrung bringen. „Ach was, hier geht es quicklebendig zu”, sagt Kerstin Wilhelm und lacht. Völkerwanderung und ein Musik-Feuerwerk Man nehme nur einmal den Galgenberg: „An sonnigen Tagen gibt es eine wahre Völkerwanderung dorthin”, erzählt die 50-Jährige. Mit ihrer Familie hat sie selbst unzählige Male den Picknick-Korb gepackt, eine Sitzdecke geschnappt

und ist zu den beiden exakt 136,4 Meter (Großer Galgenberg) und 129,6 Meter (Kleiner Galgenberg) hohen Porphyrkuppen gepilgert. Deren furchteinflößender Name geht übrigens darauf zurück, dass hier bis 1798 der Galgen des heute nach Halle eingemeindeten Ortes Giebichenstein stand. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Areal intensiv als Steinbruch genutzt und ab 1950 für die Naherholung entwickelt. „Ich komme gern hierher, genieße mit Freunden bei Rotwein und Zigarre den Ausblick“, erzählt Thomas Koschitzki und ergänzt: „Der Rundweg um den Großen Galgenberg ist auch eine ideale Jogging-Strecke.“ Auch Sportkletterer (neudeutsch: Boulderer) haben in der Schlucht eine Heimstatt gefunden. Und dann ist da noch der alljährliche Höhepunkt: Das Abschlusskonzert der Händelfestspiele, an dessen Ende traditionell die Feuerwerksmusik des Barockmeisters und ein zu den Klängen choreographiertes Feuerwerk stehen. Höchst lebendig geht es auch auf dem weiträumigen SpielAreal am Kleinen Galgenberg zu. Am Mispelweg ist eine Reihe von Einfamilienhäusern entstanden, in die vornehmlich junge Familien eingezogen sind. Nun tollen zahlreiche Kinder zwischen Sandkasten, Rutsche und Klettergerüst

Durchschn ittsalter: 54 ,2 (Stand: 3/ Einwohne 11) r: 3 323 (Sta n d: 03/11) Fläche: 1,5 km² Mietspiege l: 5,42 €/ m ² (40 - 80 m²Wohnung | S ta n d: 6/11) Arbeitslose nzahl: 2,4 % (Stand: 3/ Stärkste P 11) artei (Wahl 2011): CDU Wahlbeteil 2 7,7 % igung: 51,7 % Besonderh eit: Galgen berg, Gertr denfriedho auf, Sparkass en -Passage m Einkaufsm it öglichkeite n

herum. Auch die Sanierung der Wohnblocks am Landrain selbst trage zur Veränderung der Einwohnerstruktur bei: „Plötzlich sehe ich wieder junge Familien mit Kindern”, erzählt Kerstin Wilhelm. Zwei-Zwei-Halbe macht vier Von Kindern, und zwar vielen, weiß auch Hansjörg Possekel zu berichten. Der heute 81-Jährige ist 1962 in einen der frisch errichteten Wohnblocks direkt am Landrain, gleich gegenüber des Gertraudenfriedhofs, eingezogen. „Es gab 18 Mietparteien und mehr als 40 Kinder”, erzählt der Senior und verweist auf eine Besonderheit. „Bei uns im Block sind das alles sogenannte Zwei-Zwei-Halbe-Wohnungen.” Was zunächst wie eine unlösbare


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Der Hausbesuch Kerstin Wilhelm ist die einzige diplomierte Puppenspielerin in Sachsen-Anhalts Polizeidienst. Die 50-Jährige, die seit mehr als 20 Jahren in einem Mehrfamilienhaus am Landrain wohnt, bereist mit ihren Kollegen regelmäßig Grundschulen des Landes und betreibt dort mit einer Puppenbühne auf spielerische Weise Verkehrserziehung. Wir haben sie zwischen zwei Touren besucht. Anfang der 60er Jahre: Landrain / Ecke Otto-von-GuerickeStraße

Tino Kluge bei einer Seitquerung in der halleschen Galgenbergschlucht. Florian Beyer sichert ihn ab.

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Rechenaufgabe anmutet, ist im Grunde rasch ausdrücklich auch die „frische Luft” zu den erklärt: Zu zwei „ausgewachsenen” Räumen ganz besonderen Vorzügen seines Kiezes. – Wohn- und Schlafzimmer – kommen noch Auch wenn man zu DDR-Zeiten von Industzwei kleine, gewissermaßen „halbe” (Kinder-) rieschwaden wie etwa aus Buna und Leuna Zimmer mit jeweils knapp zehn Quadratme- verschont blieb, war dies früher dennoch ter Fläche hinzu. Der gelernte Schlosser, der nicht immer so: „Etwa zweimal pro Woche den Kiez bereits seit seinen Kindertagen kennt wurden im Krematorium des Gertraudenfriedund zudem zu DDR-Zeiten als „Feierabend- hofs Einäscherungen vorgenommen. Dann Handwerker” Instandhaltungsarbeiten für die stieg eine pechschwarze Wolke auf, und es Wohnungsgenossenschaft ausführte, ist ohne- legte sich eine fettige Rußschicht auf unsere hin eine Art Kompendium in Sachen Bauge- Fensterbänke.” schichte am Landrain. „Bis in die 50er Jahre hinein gab es hier den Gertraudenfriedhof Spaziergänger im „wilden Paradies” und ausgedehnte Gärtnereianlagen und an- „Dies ist, modernen Filtertechniken sei Dank, sonsten: Kornfeld.” Ende der 50er, Anfang der natürlich längst passé”, sagt Heike Bunge, die 60er Jahre seien dann am Landrain die ersten Leiterin des Gertraudenfriedhofs, dem wir zum Mietshäuser hochgezogen worden. In den Fol- Abschluss unseres Streifzuges am Landrain gejahren wurde sukzessive das Ackerland zwi- einen Besuch abstatten. Wer noch nicht dort schen Landrain und dem südlich gelegenen war, sollte unbedingt mal hingehen: Gerade Bahndamm bebaut. Nach der Wende habe es im Eingangsbereich, noch vor den Gräberfelfast zwangsläufig einen Entwicklungsschub dern, hat das 1914 eröffnete und insgesamt 50 gegeben, als Häuser saniert, Fassaden bunt Hektar große Areal viel mehr etwas von einem gestrichen, Parkplätze angelegt und Innenhöfe idyllischen Park. Spaziergänger drehen ihre bepflanzt wurden – „richtig Runden um den Teich und verweilen schön”, wie der Ruheständauf Bänken, Steppkes laufen an Helmut-Just-Stra ße ler sagt. Possekel der Hand ihrer Großzählt eltern, Roller und Kinderwagen werden ße a r t ll-S ho geschoben. Und da, Sc r iste chw wo die BewirtGes schaftung aufhört und “das wilde Paradies beginnt“, Pa wie Kerstin Wilhelm schwärmt, kann man sogar Füchse, Hasen und Landrain Spechte beobachten. Also Landrain keineswegs makaber, sondern wahr: Selbst hier geht es in gewisser Weise quicklebendig zu. 1 nke Bergsche

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Was ist so besonders am Landrain? Es gibt den Galgenberg – ein wunderschönes Areal, wo man selbst an Tagen, wo eine richtige Völkerwanderung dahin einsetzt, immer noch ein Eckchen zum ungestörten Entspannen findet. Wieso diese Wohnung? Das geht letztlich auf die Wohnraumlenkung aus DDR-Zeiten zurück. Wir hatten vorher zu viert in einer 1 ½-Zimmer-Wohnung in der Windhorststraße gehaust. Als wir die Wohnung hier angeboten bekamen, wusste ich noch nicht einmal, wo der Landrain überhaupt liegt. Aber wir waren sofort begeistert, zumal der Vormieter, ein Ingenieur, offensichtlich seine Beziehungen für einige seinerzeit luxuriöse Extras wie Loggia und holzverkleidete Decken hatte spielen lassen. Kennen Sie eigentlich ihre Nachbarn? Ja. Und der Zusammenhalt hat sich bis heute erhalten. Als 2003 mein Mann starb, war die Anteilnahme groß. Meine Nachbarin Frau Ziebe, die früher als Köchin gearbeitet hatte, richtete das Essen nach der Beisetzung aus. Und als mein Enkelkind unterwegs war, konnten wir uns vor geschenkten Babysachen kaum retten (lacht). Was hören Sie, wenn Ihre Fenster offen sind? Nun, zum Landrain hin, bedauerlicherweise: Straßenlärm. Ich bin sehr wohl an Geräusche gewöhnt, aber etwa ab 6 Uhr morgens wird es in der Regel so laut, dass ich aufstehen und die Fenster schließen muss. Im alten Kinderzimmer an der Rückseite des Hauses höre ich dagegen Vogelgezwitscher. 1 LÖ F

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::  Wenn Sie selbst über ihr Stadtviertel schreiben wollen, dann machen Sie mit im Sachsen-Anhalt-Wiki - dem regionalen Online-Lexikon: www.sachsen-anhalt-wiki.de

In unserer nächsten Ausgabe lesen Sie Teil 5 unserer Stadtteilserie: Gesundbrunnen Haben Sie Hinweise oder alte Bilder von Ihrem Viertel? Schreiben Sie uns an: 9 redaktion@zachow-magazin.de oder per Post: Barfüßerstr. 11, 06108 Halle

Kerstin Wilhelm im Wohnzimmer ihrer Wohnung am Landrain. (Foto: Andreas Löffler).

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Ein Gesundbrunnen für Leib und Seele

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Der gleichnamige Stadtteil wird durch Sportstätten und grüne Idylle geprägt Wer in Halle wohnt, kennt das HändelDenkmal, die Marktkirche oder die Franckeschen Stiftungen. Aber wissen Sie auch, was in Ihrer unmittelbaren Umgebung sehenswert ist? Die unterschiedlichen Facetten hallescher Stadtteile stellen wir in einer Serie vor.

Preisfrage: In welchem Stadtteil kann (oder jedenfalls konnte) man an der freien Luft wie auch unterm Hallendach seine Schwimmbahnen ziehen, denkwürdige Fußballspiele erleben, an Geräten turnen, sich als Leichtathlet betätigen und sogar Schlittschuh und Ski fahren? Die richtige Antwort lautet: Im Gesundbrunnen-Viertel. Der Kiez wird wie kein anderer in Halle durch Sportstätten geprägt. Allen

voran der „Erdgas Sportpark“ (ehemals KurtWabbel-Stadion) sowie der Sportkomplex Robert-Koch-Straße, der neben Leichtathletik-Arena, Schwimm-, Turn- und Ballsporthalle auch die Sportschule und das „Hauptquartier” des Olympiastützpunkts beherbergt. Nur Kühe und das Pferdefuhrwerk fehlen Gesundbrunnen ist aber zweifellos auch einer der grünsten und lauschigsten Stadtteile Halles. Dafür sorgt der Pestalozzipark, welcher sich, beiderseits flankiert von Laubenpieper-Kolonien, wie ein langes grünes Band vom Gesundbrunnen südwärts bis zur Diesterwegstraße zieht. „Vorne raus Stadtanbindung, hinten raus Dorfleben – nur ohne Kühe”, bringt es Claudia Dittmann, die wir an einem Haus in der Benkendorfer Straße treffen, auf den Punkt. Zum Stichwort lauschig passt auch dies: „Noch bis in die 80er Jahre hinein gab es am Amselweg Gas-Laternen, die Tag für Tag von einem Nachtwächter in Betrieb gesetzt wurden”, erinnert sich Eberhard Probst. Der zweifache Olympiateilnehmer im Ringen hat kürzlich eine Broschüre zur Geschichte des Stadtteils erstellt. Seinen Namen Gesundbrunnen hat das Viertel von der gleichnamigen, mineralien- und eisenrei-

Durchschn ittsalter: 51 ,3 (Stand: 3/ Einwohne 11) r: 10 270 (S ta nd: 03/11) Fläche: 2,1 3 km² Mietspiege l: 5,31 €/ m ² (40 - 80 m²Wohnung | S ta n d: 8/11) Arbeitslose nquote: 3,5 % (Stand: 3/ Stärkste P 11) artei (Wahl 2011): CDU Wahlbeteil 3 0 ,7 % igung: 48,4 % Besonderh eit: „Erdga s Sportpark Pestalozzip “, ark, Paul-R iebeck-Stift

chen Quelle, die bereits im Mittelalter urkundlich erwähnt wurde. Als das darüber errichtete achteckige Brunnenhäuschen zunehmend verfiel und im Zuge des Stadion-Neubaus abgerissen werden sollte, schlossen sich 2008 Mitglieder der Gesundbrunnen-Kirchengemeinde und weitere Anwohner zu einem Bürgerverein zusammen, um das Kleinod zu retten. Inzwischen erstrahlt die Außenfassade wieder im ursprünglichen Glanz. „Im Inneren des Baus wollen wir noch ein Leuchtmittelkonzept mit bläulich nach draußen schimmerndem Licht realisieren und das Areal rund ums Häuschen aufhübschen”, nennt Paul Zeisler vom Bürgerverein die weiteren Vorhaben. Die Gesundbrunnen-Siedlung wurde zwischen 1926 und 1931 im Geiste der Gartenstadtbe-


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Der Hausbesuch Hardy Gnewuch ist Diplomlehrer für Sport und Geschichte. Der 53-Jährige, der seit beinahe 30 Jahren im Gesundbrunnen-Viertel wohnt, verantwortet und koordiniert als Leiter Leistungssport die Betreuung der in Halle stationierten Kaderathleten des Olympiastützpunkts Sachsen-Anhalts. Wir haben Gnewuch in seiner Wohnung an der Pestalozzistraße besucht. 1953: Im Gesundbrunnen-Bad konnte man nicht nur seine Sommerferien „nonstop“ verbringen. (Foto: privat)

Anwohner genießen die Idylle im Pestalozzipark. (Fotos: Andreas Löffler)

wegung als Stadterweiterung nach Südwesten errichtet. Architektonisch reicht die Bandbreite vom (bereits 1896 fertiggestellten) „Hallenser Schloss”, dem Paul-Riebeck-Stift mit Pflegeheim und Park an der Kantstraße über ungewöhnliche „Türmchen-Häuser” wie ‚Vor dem Hamstertor‘ bis hin zum Bauhaus-Stil an der nördlichen Vogelweide. Während die Genossenschaften vor allem entlang der Hauptverkehrsachsen wie etwa der Pestalozzistraße großzügige, freistehende Mietshäuser bauten, reihen sich in den Querstraßen wie beispielsweise Ammendorfer oder Rockendorfer Weg die typischen „Eigene Scholle”-Häuschen dicht an dicht. „In denen ist zwar auch nicht viel mehr Platz als in einer Drei-Raum-Wohnung, aber es gibt doch einen gewissen Dünkel”, sagt Dittmann lachend. 1950 bis 1970 wurde der Anschluss der Siedlung an die Stadt und die südliche Erweiterung vollzogen. Frank Menzel hat als Kind noch auf der Gleisbaustelle der Straßenbahnlinie am Böllberger Weg gespielt. Der Sportlehrer verbindet seine vier Jahrzehnte im Kiez vor allem mit sportlichen Aspekten. Da war zunächst das Gesundbrunnen-Bad: „Zwei Wochen Ferienlager, zwei Wochen Urlaub mit Mama und

Papa – und vier Wochen nonstop im Freibad”, so Menzel. „Das war genial. Die Dauerkarte 2 Mark oder so, ein Eis vom Kiosk und Wassersportvergnügen von früh bis spät”, schwärmt er über das Bad, das 1999 wegen des überbordenden Sanierungsaufwandes geschlossen wurde und dessen Ruine im Zuge des StadionNeubaus völlig verschwand. „Im Winter fungierte das Schwimmbecken auch als Eisfläche, sogar Glühwein wurde angeboten”, erinnert sich Menzel. Gleichfalls in der kalten Jahreszeit seien er und seine Kumpel an den Hängen der Zuschauertribünen im Sportdreieck auch Schlitten-, Gleitschuh- und sogar Ski gefahren.

Wieso diese Wohnung? Wir haben ab 1983 an der Ecke Paul-SuhrStraße/ Vogelweide gewohnt. Nachdem unsere Kinder das Erwachsenenalter erreicht hatten, wollten wir uns verkleinern, dabei unbedingt im Kiez bleiben. Wir haben ganz genau darauf geachtet, dass die neue Wohnung weg vom Straßenlärm nach hinten rausgeht. Vor zwei Jahren hat es dann mit dieser Wohnung der GWG „Gartenstadt“ geklappt. Kennen Sie eigentlich ihre Nachbarn? Ja, alle. Und wir passen aufeinander auf. Und weil das vielleicht ein wenig klischeehaft oder abgegriffen klingt, will ich eine Anekdote erzählen: Als mal ein starker Regen niederging und ich vergessen hatte, das Dachfenster über unserem Wohnzimmer zu schließen, hat mich ein Mann aus dem gegenüberliegenden Haus per Anruf dran erinnert.

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Polizeisperre und Presslufthämmer In der Bugenhagenstraße laufen wir Matthias Riesing über den Weg. Riesing kann als Sportwart des Tennisclubs Sandanger gewiss als dem Sport zugeneigter Mann gelten, doch das HFC-Stadion hat ihm als Anwohner manchen Kummer bereitet. Da waren die massive Einschränkungen bei Hochsicherheitsspielen. „Meine Freundin wurde einmal trotz Vorzeigen ihres Ausweises von der Polizei nicht zu unserer Wohnung durchgelassen und musste anderthalb Stunden in der Gegend rumfahren”, sagt Riesing. Und bei den Bauarbeiten zum neuen Stadion, gerade in der Abrissphase, seien sie mit ihren Nerven beinahe am Ende gewesen: „Punkt sechs Uhr in der Früh ratterten die Presslufthämmer los.” Insgesamt hebt aber auch Riesing die Vorzüge des Kiezes hervor, und Hardy Gnewuch ergänzt: aß e r t S „Hier wird nicht rumgepinkelt, hKoc ertRo b fliegen keine Flaschen.” Eben ganz so, wie es schon in dem Sinnspruch am Gesundbrunnen-Häuschen geschrieben steht: “Kein Menschenfreund zerstört, was ihm und andern nützt.” 1 Lö f

Was ist so besonders am Gesundbrunnen? Ich komme aus einem kleinen Dorf bei Magdeburg und finde diese dörfliche, fast familiäre Atmosphäre hier wieder. Man kennt sich, man grüßt sich. Hervorzuheben sind das viele Grün und die liebevoll gepflegten Vorgärten, wobei ich wohl erst fünfzig werden musste, um letzteres so richtig zu schätzen (lacht).

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Was hören Sie, wenn Ihre Fenster offen sind? Vogelgezwitscher, Kinderlachen. Insgesamt hätte ich nicht gedacht, dass man in Halle so leise wohnen kann: Seit zwei Jahren kann ich endlich wieder bei offenem Fenster schlafen.1

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:: Noch bis 5. November informiert eine Ausstellung in der Sparkassen-Filiale an der Robert-Koch-Straße über die Geschichte des Gesundbrunnen-Viertels

In unserer nächsten Ausgabe lesen Sie Teil 7 unserer Serie: Lutherplatz/Thüringer Bahnhof

Hardy Gnewuch in seinem Garten hinter seinem Haus an der Pestalozzistraße.

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Grün statt grau

Lutherpla tz/Thüring er Bahnhof

Im Viertel Lutherplatz/Thüringer Bahnhof sind Industriebrachen Vergangenheit erzählt Fritz Wilhelm aus der Nauestraße. „Irgendwann hat das Gebäude ‚Krüger’ saniert, seitdem steht es leer.“ Der 72-Jährige blättert in einem dicken Album, in dem er allerlei Zeitungsausschnitte und Fotos vom Viertel bewahrt. Auf einem Bild ist der ehemalige VEB Karosseriewerke in der Merseburgerstraße zu sehen. ‚Wir Karosseriebauer kämpfen und arbeiten für Frieden und Wohlstand’ ist über dem Eingangstor zu lesen. Links daneben hängt ein Bild von Otto Grotewohl, rechts Wilhelm Pieck. „Hier wurde der WartburgTourist gebaut. Heute sind da McFit und das Flächenmäßig gehört der Stadtteil Luther- Justizzentrum“, sagt Wilhelm. Auch Erhard platz/Thüringer Bahnhof mit knapp 140 Hek- Berlet, den wir an der Lutherstraße treffen, tar zu den kleinsten in Halle, wirtschaftlich kann sich noch an die Zeit der Industriewerke hingegen zu den größten. Zumindest ge- erinnern. Der 73-Jährige prüfte damals den gen Ende des 19. Jahrhunderts. Im Zuge Kesseldruck der Dampflok, welche über die der Industrialisierung entstanden hier die Schmalspurbahn das Material für die FabriMaschinenfabrik „Wegelin & Hübner“, die ken lieferte. „Wenn die Lok vom Thüringer Malzfabrik „Reinicke und Co.“ oder die​ Bahnhof über den Lutherplatz tuckerte, wurde die Straße gesperrt und alle mussten warten, bis sie in Schrittgeschwindigkeit mit ihrem einen Wagen durch war“, erinnert sich Berlet lächelnd. Wer in Halle wohnt, kennt das HändelDenkmal, die Marktkirche oder die Franckeschen Stiftungen. Aber wissen Sie auch, was in Ihrer unmittelbaren Umgebung sehenswert ist? Die unterschiedlichen Facetten hallescher Stadtteile stellen wir in einer Serie vor.

Kaffeesurrogatfabrik „Franck & Söhne“ – um nur einige zu nennen. Alteingesessene Anwohner erinnern sich noch heute an den Duft von Kaffee oder Tee. „Die ‚Teebude’ stand direkt bei uns um die Ecke“,

Vom Bahnhof zum Park Das Geburtsjahr des Thüringer Bahnhofs war 1864. Die auf hohem Niveau produzierte Ware „made in Halle“ wurde von hier aus ins Land transportiert. Nach der Wende hatte der Bahnhof durch die Schließung der meisten Betriebe seine Funktion verloren. Spazieren, Spielen

Durchschn ittsalter: 43 ,1 (Stand: 3 Einwohne /11) r: 8 388 (Sta n d: 03/11) Fläche: 1,3 9 km² Mietspiege l: 4,96 €/ m ² (40 - 80 m²Wohnung | S ta n d: 10/11) Arbeitslose nquote: 7 % (Stand: 3/1 Stärkste P 1) artei (Wahl 2011): CDU Wahlbeteil 2 4 ,3 % igung: 34,6 % Besonderh eit: Franzisk anerkloster Kirche Hei mit ligste Dreie inigkeit

oder Radfahren stehen hier heute auf dem Plan, denn Anfang dieses Jahrtausends wurde aus dem grauen Industrie- ein grünes Erholungsgebiet mit Kirschbaum-Allee, Kletterfelsen, Beachvolleyballplatz und Skateranlage. Der Clou sind allerdings die „blühenden Gleise“: Die historische Bahntrasse, die sich im Original vom Thüringer Bahnhof bis zum Sophienhafen auf der Saline-Insel erstreckt, ist zu einem beliebten Rad- und Fußweg geworden. „Ich komme mit dem Fahrrad jetzt bis zur Burg Giebichenstein, ohne eine Hauptstraße benutzen zu müssen“, freut sich Berlet. Der pensionierte Eisenbahner ist wenn nicht auf dem Drahtesel häufig im „Treffpunkt Lutherplatz“ zu finden. Mit dem ersten Begegnungszentrum, welches von einer Wohnungsgesell-


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Der Hausbesuch Karla Sparfeld zog 1960 mit ihrem Mann in die 100 Quadratmeter große Wohnung in der Zachowstraße 8. Ihre Schwiegereltern hatten dort von 1935 an gewohnt, gehörten mit zu den ersten Mietern. Während die 73-Jährige ihren Balkon fegt, können wir sie zu einem Interview überreden.

Von Schornsteinen geprägt: Vorn rauchten die der Ofenheizungen, hinten die der Fabriken. Die heutige Hundewiese war noch Baustelle. (Archiv: Bauverein f. Kleinwohnungen)

Am Thüringer Bahnhof fahren heute Skateboarder statt Dampfloks. (Fotos: Andreas Löffler)

schaft gestützt wird, hat der „Bauverein Halle & Leuna“ Maßstäbe gesetzt. Hier wird Karten gespielt, Kuchen nach Rezept der Einwohner gebacken, es gibt Lesungen, Konzerte, Sport und vieles mehr. Das Angebot bestimmen die Menschen am Lutherplatz, der Raum und die finanziellen Mittel kommen vom Bauverein.

den Mietern die Nutzung der Innenhöfe zur Eigenversorgung. „Jeder bekam ein Stück Acker zum Anbau von Kartoffeln und für die Haltung von Kleintieren“, erklärt Katrin Ullrich vom „Bauverein Halle & Leuna“. Karla Sparfeld erinnert sich, von ihren Schwiegereltern gehört zu haben, dass ein Flieger eine Bombe über der Zachowstraße abgeworfen hatte, mit der er wahrscheinlich den Bahnhof treffen sollte. Feststeht, dass 1945 zwischen Merseburgerund Beethovenstraße 1066 Wohnungen durch Bomben beschädigt wurden.

Wohnungsvergabe von oben geregelt 1927 bis 1929 entstanden im andreaskreuzförmigen Grundriss westlich der Merseburgerstraße die vom Architekt Wilhelm Freise entworfenen 3-4-geschossigen Putzbauten mit den markanten Dreieck-Erkern, Stufengiebeln und Art-Deco-Elementen. Zwei Jahre zuvor wurde aus der Reithalle an der Lauchstädter Straße das Lichtspielhaus Capitol, welches nach einjährigem Leerlauf vergangenen Monat vom Kabarett „Die Kiebitzensteiner“ wiederbelebt wurde. Ursprünglich für die höheren Beamten der Bahn und Post gedacht, war das Viertel am damaligen Stadtrand sehr beliebt, sodass um 1933 die NSDAP bei der Wohnungsvergabe mitmischte und nach „erbgesund“ und „politisch einwandfrei“ sortierte. Eigentlich war geplant, die Anlage auf der anderen Seite des Lutherplatzes zu spiegeln, doch dann kam der Krieg. Und mit ihm die Not. Der damalige „Bauverein für Kleinwohnungen“ erlaubte

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Kennen Sie eigentlich ihre Nachbarn? Hier wohnen fast ausschließlich Altmieter. Erst als 1994 das Dachgeschoss ausgebaut wurde, kamen neue hinzu. Das ist zum Glück ein ordentliches Haus. Man weiß ja nie, wer heutzutage einzieht. Was sehen Sie, wenn Sie auf Ihrem Balkon stehen? Den grünen Innenhof und leider auch die Mülltonnen. Gerade im Herbst laden hier alle ihren Unrat ab, vom Garten und so weiter. Der Schlüssel zu den Tonnen passt überall. Egal, ob Naue-, Türkstraße oder Zachowstraße – alle entsorgen hier ihren Müll. Dann erübrigt sich unsere nächste Frage nach dem, was Sie riechen? Ja, manchmal stinkt es nach Müll, gerade wenn die Tonnen übervoll sind. Aber ansonsten ist es viel sauberer geworden. Kein Wind mehr, der den Gestank von Buna und Leuna zu uns trägt. Stört Sie sonst noch etwas im Viertel? Der Hundeplatz vor meinem Haus ist der größte Mist. Der wird allzeit bemängelt, weil die Hunde überall ihr Geschäft verrichten, nur eben nicht dort. Vielleicht könnte dort noch ein Parkplatz hin? 1 Jessica Quick

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Wasserturm Süd war für Stasi wichtig Den Mittelpunkt des Lutherplatzes bildet unweit vom Franziskanerkloster mit der Pfarrgemeinde zur Heiligsten Dreieinigkeit der Wasserturm Süd, welcher mit seinen knapp 47 Metern zu den höchsten Punkten der Stadt gehört. Bis in die 70er Jahre konnte man das Panorama Halles über eine Aussichtsplattform am Turm bestaunen oder sich in einem kleinen Café eine Pause gönnen, später wurde das technische Denkmal für den Publikumsverkehr gesperrt. Angeblich wegen der Einsicht in militärische Gebäude. „Mittlerweile weiß man“, so Fritz Günther, „dass die Staatssicherheit ihre Funkantennen auf dem Turm positionierte.“ Der Vereinsvorsitzende der „Wassertürme der Stadt Halle“ organisiert heute wieder Veranstaltungen e ß a riestr Raffine im Wasserturm, welcher mit seinem Druckausgleichsbehälter noch immer der Versorgung der Stadt dient. Derzeit werden im Turm Thüringer Straße die Niederdruckbehälter neu eingebaut, um sie für die Bevölkerung begehbar zu machen. Das Adventssingen finde am 18. Dezember trotzdem wie gewohnt um 15 Uhr statt, bestätigt Günther. 1

Was ist so besonders an Ihrem Viertel? Die japanischen Schnurbäume. Und auch sonst ist es hier sehr grün. Es gibt jetzt viele Einkaufsmöglichkeiten, dafür aber zu wenige Plätze zum Parken. Zu DDR-Zeiten hatten wir ein Auto und jetzt ist alles voll, übertrieben gesagt. Trotzdem finde ich es angenehm ruhig. Ich möchte nicht wegziehen.

Huttenstraße

In unserer nächsten Ausgabe lesen Sie Teil 8 unserer Stadtteilserie: Lettin

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Karla Sparfeld kann von ihrem Balkon die japanischen Schnurbäume sehen. (Foto: Jessica Quick)

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Weißes Gold und grünes Paradies

Lettin

Das ehemalige Agrardorf Lettin ist Magnet für Prominente und Ausflügler Wer in Halle wohnt, kennt das HändelDenkmal, die Marktkirche oder die Franckeschen Stiftungen. Aber wissen Sie auch, was in Ihrer unmittelbaren Umgebung sehenswert ist? Die unterschiedlichen Facetten hallescher Stadtteile stellen wir in einer Serie vor.

Lettin, das im 10. Jahrhundert als „Liudineburg” erstmals urkundlich Erwähnung fand, war über viele Jahrhunderte ein reines Agrardorf. Im Mittelalter diente die Lettiner Domäne der Versorgung der Kloster des Salzgrafen, der Proviantsicherung der Moritzburg. Es gab jede Menge Tierhaltung und – weil unmittelbar an der Saale gelegen – sogar eine Fischerfamilie. In der Ortsumgebung wurden vor allem Gemüse und natürlich Getreide angebaut - eine lange stillgelegte Windmühle, die

heute noch mitten im Ort bestaunt werden kann, erinnert an jene Ära. Weißes Gold und das „Baensch-Rot” Mit Beginn des Industriezeitalters sollte noch ein anderer Faktor bestimmend werden: Weil in der unmittelbaren Umgebung Lettins Vorkommen an Kohle, Ton und vor allem an sehr hochwertigem (weil sehr weißem) Kaolin entdeckt worden waren, gründete der Unternehmer Heinrich Baensch im Jahre 1858 in Lettin eine Porzellanmanufaktur, deren Erzeugnisse – unter Nutzung des Könnens schlesischer Porzellanmaler – rasch einen hervorragenden Ruf erlangten: Schon ab 1880 etwa war das „weiße Gold” aus Lettin mit seiner ganz charakteristischen Bemalung in Kobaltblau und dem sogenannten „Baensch-Rot” ein begehrter Artikel in aller Welt. Wenn der 65-jährige Heimatforscher Max Horst Mühlpfordt, der eine Fülle an Material zur Geschichte Lettins zusammengetragen hat, Kataloge aus der Blütezeit der Porzellanmanufaktur präsentiert, können einem in der Tat die Augen übergehen vor lauter Pracht und Herrlichkeit. Freilich: Durch die Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren sowie den Zweiten Weltkrieg – im Porzellanwerk mussten jetzt „kriegswichtige” Güter wie Sicherungen für Flugzeuge oder U-Boote produziert werden – kam es zum Niedergang. Nach 1945 wurde zwar die zivile Produktion wieder aufgenommen. „Aber es hieß immer mehr: Masse

Durchschn ittsalter: 47 ,2 (Stand: 3 Einwohne /11) r: 1 170 (Sta nd: 03/11) Fläche: 5,1 1 km² Mietspiege l: 6,59 €/m ² (40 – 80 m ²-Wohnung | Stand: 11 Arbeitslose /11) nquote: 3,2 % (Stand: 3 Stärkste P /11) artei (Wahl 2011): CDU Wahlbeteil 32,3 % igung: 54 % Besonderh eit: Hallesch e Behinder Werkstätten tenam Blumen auweg 59 m mehr als 4 it 00 Beschäft igten und u eigener Bä . a. ckerei mit Verkauf

statt Klasse”, erzählt Mühlpfordt. Das galt erst recht, als 1956 mit dem Formenlager quasi auch das wichtigste Erfolgskapital verbrannte. Gleichwohl: Mit seiner Produktion von Gebrauchs- und Haushaltsporzellan blieb das Werk der größte Arbeitsgeber in Lettin. „Das war morgens und nachmittags immer eine richtiggehende Völkerwanderung, wenn die Arbeiter an- beziehungsweise abrückten”, erinnert sich Waltraud Pohlers, die nach der Wende mit ihrem Mann Günter Teile des Porzellanwerkes zu einem architektonisch verblüffenden „Autokulturhaus” umbaute. Stichwort Wende: Die Hoffnungen, die sich mit der Privatisierung des einstigen volkseigenen Betriebes verbanden, erwiesen sich als denkbar kurzes Strohfeuer: „1991 haben wir hier endgültig das Licht ausgemacht“ erinnert sich Gerd Deparade, der seit 1980 im Werk arbei-


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Der Hausbesuch Gerd Deparade ist Ur-Lettiner. Der heute 72-Jährige ist in Lettin geboren, aufgewachsen und bis zum heutigen Tag im Ort wohnen geblieben. Wir haben Deparade in seinem Haus in der Gartenstraße besucht.

Die Villa des Porzellanfabrikanten Heinrich Baensch in den 50er Jahren. (Foto: Privatarchiv Mühlpfordt)

Von ihr hat der Windmühlenweg seinen Namen: Die Windmühle in Lettin ist heute nicht mehr in Benutzung.

tete. „348 Leute standen mit einem Schlag auf der Straße.”

das Haushaltsabwasser in den Straßengraben zu kippen; am Badetag wurde sogar die Wanne rausgetragen und dort geleert”, erinnert sich Erika Deparade. Spätestens seit dieser „Generalüberholung” ist Lettin auch immer mehr zu einem Wohnstandort der Prominenz geworden: Oberbürgermeisterin Dagmar Szabados oder der ehemalige Baudezernent Wolfgang Heinrich etwa wohnen hier; auch Bildhauer Bernd Göbel ist mit seinem Atelier in Lettin zuhause.

Neue Allianzen Was auch hieß: Das gesellschaftliche Leben im 1950 nach Halle eingemeindeten Lettin musste neu organisiert werden: Wo früher der sogenannte „Trägerbetrieb“ war, war jetzt: nichts. Institutionen wie der Volkssolidarität, dem Karnevalsverein, der Freiwilligen Feuerwehr und dem Sportverein wuchs größere Bedeutung in Sachen Freizeitangebote vor Ort zu. Man suchte - und fand - neue Verbündete: „Wenn bei uns auf dem Sportplatz der Rasenmäher oder die Motorsense kaputtging, habe ich früher beim Direktor des Porzellanwerks um Hilfe nachgesucht. Heute gehe ich eben in die Behindertenwerkstätten im Blumenauweg, die machen mir das und dürfen bei uns im Gegenzug Sport treiben“, beschreibt Lettins Sport-„Chef” Gerd Deparade eine der neuen Allianzen. Mitte der 90er Jahre wurde Lettin buchstäblich runderneuert, Straßen und Versorgungsleitungen von Grund auf saniert. Bizarr genug: Endlich erfolgte auch der zentrale Anschluss an die nur einen Steinwurf entfernte Kläranlage Halle-Nord. „Viele Jahre war es gang und gäbe,

Uferstraße

Mit Pony „Peggy“ an die Saale „Wenn unsere Oberbürgermeisterin hier wohnt, kann es ja nicht so schlecht sein”, René Stark lacht verschmitzt, als er das sagt. Gemeinsam mit seiner viereinhalbjährigen Tochter Finja dreht er gerade eine kleine Runde entlang der Saale. „Wir atmen reine Waldluft und haben eine idyllische Gegend um uns herum”, zählt der 31-jährige Lettiner zwei Vorzüge aus seiner Sicht auf. Da nimmt es nicht wunder, dass auch immer mehr Ausflügler und Erholungssuchende Lettin und seine Umgebung entdecken: das Saaletal, die Franzigmark und die Brachwitzer Alpen liegen direkt vor der Nase. „Wir merken schon, wie das Bedürfnis nach Entschleunigung und Ursprünglichkeit zunimmt”, sagt Christian Schurig, der seit 1990 einen Reiterhof in Lettin betreibt. Besonderer Clou ist Pony „Peggy”, auf dem selbst Dreikäsehochs bereits Ausritte in die schöne Saaleaue unternehmen können. 1

Brachwitzer Straße

Schiepzig

ANDREAS LÖ FFLER

Was ist so besonders an Lettin? Nun, für mich ist es einfach meine Heimat. Ich kenne hier jeden Stein und so gut wie jeden Einwohner. Der dörfliche Charakter ist erhalten geblieben, der Zusammenhalt sicher ein wenig größer als anderswo. Man wohnt hier ruhig; und die landschaftliche Lage ist traumhaft – wenn ich allein an das Saaletal praktisch direkt vor unserer Haustür denke, wo wir oft radeln. Wieso dieses Haus? Es ist das Haus meiner Großeltern, die es 1939 gebaut haben und in dem ich auch geboren bin. Auch meine Eltern haben hier gewohnt. 1982, meine Großeltern waren verstorben, bin ich wieder hier eingezogen. Kennen Sie eigentlich Ihre Nachbarn? Aber klar. Zum großen Teil sind das meine Schulfreunde. Mit denen führt man regelmäßig einen Plausch, hockt sich immer mal auf einen Kaffee zusammen, hütet bei Urlaubsabwesenheit Haus und Hof der anderen. Was hören Sie, wenn Ihre Fenster offen sind? Wenn nicht gerade Vögel zwitschern, ist es eigentlich sehr ruhig. Ab und zu hört man ein Auto vorn an der Hauptstraße vorbeibrausen. Und wenn der Wind entsprechend steht, weht er auch mal ein bisschen laute Musik aus dem Jugendklub in Heide-Nord herüber. Was sehen Sie, wenn Sie aufwachen? Ich blicke direkt ins Grün: auf die Tannen auf meinem Grundstück und den Carport, wo wir im Sommer oft sitzen und grillen. Und halb acht beim Frühstück hab ich eine ganze Weile immer unsere Oberbürgermeisterin Frau Szabados sehen können, wie sie sich aufs Fahrrad zur Arbeit schwang. Die wohnt nämlich gleich schräg gegenüber. 1 LÖ F

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Blumenauweg

In unserer nächsten Ausgabe lesen Sie Teil 9 unserer Stadtteilserie: Frohe Zukunft

Gerd Deparade in der Diele seines Hauses in der Gartenstraße. (Fotos: Andreas Löffler)

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Der Name ist Programm

Frohe Zuk

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Am idyllischen „Ende der Stadt” entstehen mehr und mehr Wohnhäuser Wer in Halle wohnt, kennt das HändelDenkmal, die Marktkirche oder die Franckeschen Stiftungen. Aber wissen Sie auch, was in Ihrer unmittelbaren Umgebung sehenswert ist? Die unterschiedlichen Facetten hallescher Stadtteile stellen wir in einer Serie vor.

In der Touristengruppe werden augenblicklich die Fotoapparate gezückt: „Frohe Zukunft – in vier Minuten… in zwei Minuten… Frohe Zukunft sofort”, blinkt den Halle-Besuchern an der Anzeigetafel auf dem Markt entgegen. Was die Reisenden für einen besonders gelungenen Coup des Stadtmarketings halten, hat letztlich eine ganz profane Auflösung: „Frohe Zukunft” heißt die nördliche Endhaltestelle der Straßenbahnlinie 1. Das umliegende, gleichnamige Stadtviertel erhielt seinen Namen von einer dortigen Braunkohlengrube, in der ab Mitte des 19. Jahrhunderts

industriell Braunkohle abgebaut wurde. Die Siedlung „Frohe Zukunft” entstand freilich später. „Während des ersten Weltkriegs hatte man nördlich des Gertraudenfriedhofs einen Militärflugplatz angelegt. Und dieser wiederum bildete den Ausgangspunkt dafür, dass man ab 1934 in unmittelbarer Nähe die Siebel-Flugzeugwerke ansiedelte”, erklärt der 75-jährige Ulrich Wendling, der an einer Chronik zur Geschichte seines Stadtteils mitgewirkt hat. Traurige Vergangenheit Parallel zu den Werksanlagen wurde innerhalb von nur vier, fünf Jahren das Wohngebiet „Frohe Zukunft“ für die Siebel-Angestellten und deren Familien aus dem Boden gestampft. Interessant: Aus Gründen der Flugsicherheit wie auch wegen des durch den – 1958 vollends eingestellten – Bergbau bereits stark unterhöhlten Untergrundes durfte eine bestimmte Bauhöhe nicht überschritten werden. Selbst die 1938 errichtete, im Krieg zerstörte und 1951 wiederaufgebaute Heilandkirche am Goldlackweg machte da keine Ausnahme. Und so prägen bis heute kleine, aber feine Einzel- und Doppelhäuser die Siedlung und tragen zur Idylle am „Ende der Stadt“ bei. Mit den Siebel-Werken in der „Frohen Zukunft“ verbindet sich freilich auch eine traurige Vergangenheit: Am heutigen Goldberg (früher Birkhain) wurde eine Außenstelle des KZ Buchenwald errichtet; 1 100 Häftlinge wur-

Durchschn ittsalter: 51 ,4 (Stand 3 Einwohne /11) r: 3 319 (Sta nd 3/11) Fläche: 2,7 4 km² Mietspiege l: 5,53 €/m ² (40 – 80 m² – Wohnung Stand 01/1 Arbeitslose 2) nquote: 3,2 % (Stand: 3 Stärkste P /11) artei (Wah l 2011): CD Wahlbeteil U 31,8 % igung: 54,5 % Besonderh eit: Justizv ollzugsanst he Zukunft alt “Fro” (aktuell E rweiterung Haftplätze auf 900 bis 2017 in Diskussion friedhof am ), TierGoldberg, P aintball-Are der Dessau na an er Straße 1 00

den unter menschenunwürdigen Bedingungen zur Zwangsarbeit in dem Rüstungsbetrieb herangezogen. Heute erinnert ein vom halleschen Bildhauer Bernd Kleffel geschaffener Gedenkstein (Foto) an der Endschleife der Straßenbahn an das Schicksal der Gepeinigten. Die Siebel-Werke wurden 1946 im Zuge der Reparation komplett demontiert und samt Belegschaft und deren Familien nach ­Podberesje 120 Kilometer nördlich von Moskau verbracht. Frohe Gegenwart auf italienisch Schlagartig in eine frohe Gegenwart hineinversetzt sehen wir uns, als wir am Haus von Dieter und Thekla Belletti am Mühlrain vorbeischlendern. Das Ehepaar, welches Anfang der 80er Jahre zu den allerersten Pizza-Bäckern in der damaligen DDR gehörte, hat auf sei-


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Der Hausbesuch

Das Ausflugslokal „Sanssouci“ am damaligen Flugplatz um 1920. (Foto: privat)

In der Anliegerstraße Krokusweg finden sich zahlreiche Einfamilienhäuser. (Fotos: Andreas Löffler)

nem Grundstück viele hübsche und teilweise skurrile Dinge zusammengetragen. Im Mittelpunkt des bunten Sammelsuriums befindet sich eine große Drahtpuppe, die der Jahreszeit entsprechend als Schneemann, ­Osterhase, Pfingstochse, Knecht Ruprecht oder ähnliches kostümiert wird. „Und in der Adventszeit können Kinder hier ihre Wunschzettel an den Weihnachtsmann einwerfen und sich als Belohnung für ein kleines Gedicht oder Lied ein Schokoladentäfelchen abholen”, sagen die Bellettis. Gar mitten im italienischen „Dolce Vita” angekommen wähnen wir uns, als uns im „Stop und Shop” von Torsten Männecke ein ansteckendes „Buon Giorno” entgegenschallt. Der 47-Jährige betreibt mit seiner Familie und sekundiert von Hund Berta am Kornblumenweg bereits seit 1991 einen klassischen „Tante-Emma-Laden”. Inklusive sonntäglichem Brötchenverkauf hat er sein Angebot um Lotto-Toto, Hermes-Versandservice, Briefmarkenverkauf, Textilreinigungs-Annahme und Lieferdienst

aufgewertet. Und zum Stichwort „süßes Leben” ein besonderer Clou: Mit dem von Imker Waldemar Senf im Margueritenweg erzeugten Akazienhonig bietet Männecke ein Produkt aus der unmittelbaren Nachbarschaft an. Freilich: „Wir verlieren jedes Jahr altersbedingt acht bis zehn Stammkunden, weil die nachziehenden Jüngeren halt eher zum Discounter fahren“, sorgt sich der Inhaber. Die Frohe Zukunft des Wohnens „Des einen Leid ist des anderen Freud“ gilt allerdings auch für den zunehmenden demographischen Wandel im Viertel. „Bei uns gibt's nach mehrjähriger Totalflaute inzwischen sogar schon wieder drei Teams im Nachwuchsbereich”, sagt Abteilungsleiter Mirco Nitzschke von den HTB-Fußballern, die am Verlängerten Landrain ihr Domizil haben. „Unser Kinderturnclub platzt fast aus den Nähten”, pflichtet ihm Geschäftsführer Thomas Prochnow vom Universitätssportverein bei. Der USV hat am Sportplatz der Schule nahe der Dessauer Straße im Jahr 2009 ein Sport- und Gesundheitszentrum eröffnet und bietet unter dem Motto „Sport vor der Haustür” und in enger Kooperation mit der „WG Frohe Zukunft“ derzeit 40 Kurse für Jung (etwa Zumba) und Alt (z. B. Sturzprophylaxe) an. Die Wohnungsgenossenschaft erhebt ihren und des Viertels Namen ohnehin zum Programm: An der Wilhelm-Busch-Straße weisen die sechs futuristisch anmutenden und 2009 für ca. 2,5 Millionen Euro errichteten Niedrigenergiehäuser des „Busch-Bogens” den Weg in eine auch wohnungstechnisch „Frohe Zukunft“. Fortsetzung folgt: Auf dem Gelände des inzwischen abgerissenen Luftschutzbunkers der Siebel-Werke an der Helmut-Just-Straße sollen laut WG-Vorstand Frank Sydow ab 2014 ebenfalls innovative Mehrfamilienhäuser gebaut werden. 1 ANDREAS LÖ FFLER

In unserer nächsten Ausgabe lesen Sie Teil 10 unserer Stadtteilserie: Böllberg/Wörmlitz Haben Sie Hinweise oder alte Bilder von Ihrem Viertel? Schreiben Sie uns an:

99 redaktion@zachow-magazin.de oder per Post: Barfüßerstr. 11, 06108 Halle

Andreas Heine wohnt in der „Frohen Zukunft“, seitdem er mit seinen Eltern und Geschwistern vor mehr als 16 Jahren ein Einfamilienhaus in der Brentanostraße bezog. Der heute 25-Jährige ist ausgebildeter Physiotherapeut und sattelt gegenwärtig noch ein Medizinstudium obendrauf. In seiner Freizeit mag es Heine tierisch: Er betreibt leidenschaftlich Pferdefotografie und unternimmt mit Airedale-Terrier „Major” ausgedehnte Märsche durchs Viertel und Umgebung. Was ist so besonders an der „Frohen Zukunft“? Wenn man so will, stellt das Viertel die „goldene Mitte“ dar: Auf der einen Seite bietet es eine dörflich-familiäre Atmosphäre, in der man von der Hektik der Großstadt wunderbar abschalten kann. Auf der anderen Seite liegt es so nah und verkehrsgünstig zum Stadtzentrum. Wieso dieses Haus? Meine Eltern haben das 1936 errichtete Haus nebst Grundstück 1995 zunächst gemietet und wenig später gekauft. Zuvor hatten wir zu fünft in einer klassischen DDR-Neubauwohnung gelebt. Nach der Trennung meiner Eltern und dem Auszug meiner Geschwister wohnen noch meine Mutter und ich hier – was für einen Studenten mit schmalem Geldbeutel natürlich äußerst praktisch ist (lacht). Kennen Sie eigentlich ihre Nachbarn? Sicher. Es ist eben nicht so anonym wie in einer Plattenbausiedlung, sondern es gibt einen Zusammenhalt, wie ich ihn schon als Dreikäsehoch bei meinen Großeltern auf dem Dorf in Brachwitz erlebt habe. Was hören Sie, wenn Ihre Fenster offen sind? Stille. Vögel. Wenn der Wind ungünstig steht, weht von der B 100 auch mal der Lärm vorbeirasender Autos herüber. Was sehen Sie, wenn Sie aufwachen? Ich blicke in den Garten und auf den Pool, der für uns als Kinder das reine Paradies bedeutete. Und im Vorgarten sehe ich den Stumpf des kleinen Bäumchens, das vor vier Monaten einem Sturm zum Opfer fiel. 1 LÖ F

Andreas Heine in seinem Arbeitszimmer des Wohnhauses in der Brentanostraße. (Foto: Andreas Löffler)

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Vom Glück der neuen Eiszeit

Böllberg –

Wörmlitz

Böllberg und Wörmlitz werden durch den Saalelauf geprägt Wer in Halle wohnt, kennt das HändelDenkmal, die Marktkirche oder die Franckeschen Stiftungen. Aber wissen Sie auch, was in Ihrer unmittelbaren Umgebung sehenswert ist? Die unterschiedlichen Facetten hallescher Stadtteile stellen wir in einer Serie vor.

Es ist mitten im klirrend kalten Februar, wir stehen am futuristischen Pylon der im Jahr 2000 eingeweihten Rabeninselbrücke und sehen: Die Saale ist komplett zugefroren. Dieses scheinbar banale Szenario wäre noch vor einem Vierteljahrhundert, als die Einleitungen der vorgelagerten Großbetriebe Buna und Leuna aus dem Saale-Wasser eine ChemieBrühe allerhöchsten Grades gemacht hatten, völlig undenkbar gewesen. Die vereiste Saale illustriert anschaulich die gewaltige Veränderung, die der vom Fluss begrenzte Stadtteil Böllberg-Wörmlitz in der jüngeren Vergangenheit erfahren hat. „Dass die Saale wieder sauber ist, stellt wirklich einen

unwahrscheinlichen Gewinn dar”, findet die Böllbergerin Christina Seidel, die seit einiger Zeit für ihren Freundeskreis sogar ein alljährliches Badefest veranstaltet. „Noch vor gut zwanzig Jahren wäre doch kein Mensch auf die Idee gekommen, in der Saale zu schwimmen”, pflichtet ihr Andrea Kubale bei, die in Wörmlitz auf einem einstigen Rittergut eine Pension betreibt und voller Überzeugung sagt: „Bei uns ist es mindestens genauso schön wie in Kröllwitz, nur ruhiger.” Mehl vom weißen Ufer Von Anfang an war das Schicksal von BöllbergWörmlitz eng mit dem Flusslauf verknüpft. Etwa im 8. Jahrhundert siedelten slawische Fischer am „weißen Ufer”, wörtlich „bel brej“ – eine Bezeichnung, aus der später Beleberch und schließlich Böllberg wurde. Viele Jahrhunderte waren hier hauptsächlich Fischer und Schiffsleute zu Hause – und Müller, denn bereits im 10./11. Jahrhundert hatte sich an der Saale auch ein Flussmühlenbetrieb etabliert. Dieser wurde durch den Bau der imposanten Hildebrandschen Mühlenwerke um 1875/80 endgültig ins Industriezeitalter überführt. Mit 32 französischen Mahlgängen und einer Tagesproduktion von 110 Tonnen sicherte die Böllberger Mühle bis zu ihrer Schließung 1975 die Mehlversorgung von ganz Halle. Tragisch: Nach der Wende, Anfang der 90er Jahre, also just zu jener Zeit, als man über neue Nutzungsmöglichkeiten für dieses Kleinod der Indust-

Durchschn ittsalter: 48 ,7 (Stand 3 Einwohne /11) r: 2 518 (Sta n d 3/11) Fläche: 4,5 km² Mietspiege l: 5,35 €/m ² (40 – 80 m² – Wohnung Stand 01/1 Arbeitslose 2) nquote: 2,7 % (Stand: 3/1 Stärkste P 1) artei (Wah l 2011): CD Wahlbeteil U 30,0 % igung: 40,2 % Besonderh eit: Rabenin se l,“Senioren vice-Zentru -Serm Böllberg” , K leintierpen Lämmerhir sion t in Wörmli tz

riearchitektur nachzudenken begann, verfiel das weithin sichtbare Wahrzeichen von Böllberg infolge mehrerer Großbrände vollends zur Ruine. Doch inzwischen keimt Hoffnung: Karl-Josef Thiemeyer hat den Gebäudekomplex gekauft und geht nun Schritt für Schritt vor: „Zunächst wollen wir die sechs sämtlich noch vorhandenen und hochwertigen Voith-Turbinen wieder in Gang setzen und mit unserem Wasserkraftwerk jedes Jahr zwei Millionen Kilowattstunden Ökostrom erzeugen.” Mit dem Geld, das der Landwirt aus Westfalen damit verdient, will er nach und nach den gesamten Gebäudekomplex wieder aufbauen, Werkstätten, Büros, Loftwohnungen, Freizeitmöglichkeiten unterbringen. Eile mit Weile: „Ich schätze, da werden meine Kinder noch zu tun haben”, sagt der 53-Jährige lachend.


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Der Hausbesuch Christina Seidel ist promovierte Chemikerin und freie Schriftstellerin. Bis Ende des vorigen Jahres leitete die heute 59-Jährige die soziokulturelle Begegnungsstätte „Schöpfkelle” auf der Silberhöhe. Seidel ist eine waschechte Böllbergerin, dort geboren und aufgewachsen. Grund genug also, sie in ihrem Wohnhaus im Hildebrandweg nur einen Steinwurf entfernt von der Böllberger Mühle zu besuchen. Kontraste: Wohnneubauten und die Böllberger Mühle am Hildebrandweg. (Fotos: Andreas Löffler)

Apropos Kinder: In Wörmlitz, zwischen dörflichem Siedlungskern und Röpziger Brücke, findet sich eines der größten halleschen Neubau-Gebiete der vergangenen 20 Jahre. In die schmucken, wie an Perlenschnüren aufgezogenen Eigenheime sind vor allem junge Familien mit Kindern eingezogen. Auf dem Gelände einer früheren Wehrmachts-Kaserne, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetarmee genutzt und im Zuge der Wende komplett abgetragen wurde, stehen heute die Vier- und Fünfgeschosser des 1994/95 errichteten Wohnparks „Saaleblick” – dessen Name angesichts der spektakulären Aussicht in die Auenlandschaft wortwörtlich zu nehmen ist. Straßennamen wie Rostocker Weg, Wismarer Weg oder Bremer Straße verstärken die beinahe maritime Anmutung. Zurück im Wörmlitzer Urdorf, gehen wir den Aktivitäten der ortsansässigen Kirchengemeinde auf die Spur. „Es ist eine Sehnsucht zu spüren, gemeinschaftliche Aktivitäten wieder aufleben zu lassen“, sagt Pfarrer Dirk Lehner. In einer Zeit, wo althergebrachte Institutionen wie etwa Feuerwehr oder eigene Bürgermeisterei (Wörmlitz und Böllberg wurden 1950 nach Halle eingemeindet) nicht mehr vorhanden seien, begreife sich die Kirchengemeinde als „Katalysator” auch des weltlichen Dorflebens. Im Gemeindezentrum, einer noch zu DDR-

Zeiten mit Schweizer Hilfsgeldern ausgebauten ehemaligen Scheune, gibt es beispielweise Bildungsprogramme für Senioren, Bastelgruppen und alljährlich ein großes Sommer- sowie Adventsfest. Als besonders reizvoll empfindet es Lehner, das in seinem Zuständigkeitsbereich gleich zwei „Prachtexemplare” traditioneller Dorfkirchen stehen, in denen alternierend die Gottesdienste abgehalten werden: St. Nikolaus in Böllberg, mit mehr als 800 Jahren die älteste Kirche Halles, deren geplanter Abriss beim Ausbau des Böllberger Weges Mitte der 70er Jahre gerade noch so verhindert werden konnte, und St. Petrus in Wörmlitz, die seit 2009 übrigens als „Radfahrerkirche” firmiert. „Wer hier Halt macht, findet einen Ort, wo er nicht bedrängt wird, nichts kaufen muss, wo er einfach nur sein kann”, sagt Lehner.

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Blick auf die Hildebrandschen Mühlenwerke und Böllberg aus dem Jahre 1896. (Foto: privat)

Böllberg-Wörmlitzer „Nachbarschaftshilfe” „Einfach nur sein” kann man auch prima auf der Rabeninsel. Der 41 Hektar große, unter Naturschutz stehende Werder zwischen wilder und schiffbarer Saale zieht Ausflügler, Jogger und jetzt bei Schnee sogar Skilangläufer an. Ohnehin profitieren Böllberg und Wörmlitz tüchtig vom wieder auflebenden Wassertourismus sowie dem Saale-Radweg. „Bei uns werden nicht nur Olympiasieger wie Thomas Lange oder Andreas Hajek gemacht, sondern bekommt man auch eine Hotelunterkunft und Vollverpflegung in idyllischer Lage”, sagt Geschäftsführer Günter Heinrich vom Ruderhaus Böllberg. Und wenn der Andrang mitunter gar zu groß wird, hilft seine Wörmlitzer Branchenkollegin Andrea Kubale mit ihrer Pension „Gutshaus” gern aus – und umgekehrt. 1

Kennen Sie eigentlich ihre Nachbarn? Ja, die wohnen schon seit 40 Jahren über uns. Und Ronny aus der Nachbarschaft bekommt immer einen kleinen Obolus, wenn er die schweren Mülltonnen für uns vor das Haus bringt. Was hören Sie, wenn Ihre Fenster offen sind? Durch die Abgeschiedenheit ist es eigentlich recht ruhig hier. Bestenfalls hört man die Wassergeräusche drüben vom Böllberger Wehr. Was sehen Sie, wenn Sie aufwachen? Vom „Schwalbennest”, wie ich den verglasten Erker oben in unserer Wohnung gern bezeichne, kann ich, wenn im Herbst die Blätter von den Bäumen fallen, auf die Saale blicken. Ich sehe, wie der Fluss strömt und empfinde das als sehr beruhigend. 1 LÖ F

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:: In unserer nächsten Ausgabe lesen Sie Teil 11 unserer Stadtteilserie: Halle-Neustadt

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Wieso dieses Haus? Es ist das Haus, das mein Urgroßvater Traugott Bartholomäus, ein Maurer, 1895 miterbaut hat. Mein Opa Max, der an Ort und Stelle ein Milchgeschäft betrieb, hat hier samt Anhang gewohnt, später meine Eltern. Nach dem Tod meines Vaters im Jahr 2004 bin ich mit meiner Familie wieder hier eingezogen.

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Was ist so besonders an Böllberg/Wörmlitz? Man findet hier Ruhe vor dem Trubel und dem Lärm der Großstadt und ist bei Bedarf dennoch im Handumdrehen im Zentrum. Die Lage ist ideal zum Wohnen und zur Freizeitgestaltung, Saale und Rabeninsel liegen vor der Tür. Wir haben am Ufer einen kleinen Platz, wo wir auf der Terrasse sitzen oder mit unserem Ruderboot „Hallelore” auf große Fahrt gehen können.

Haben Sie Hinweise oder alte Bilder von Ihrem Viertel? Schreiben Sie uns an: redaktion@zachow-magazin.de oder per Post: Barfüßerstr. 11, 06108 Halle

Christina Seidel im „Schwalbennest“ ihres Wohnhauses mit Saale und Böllberger Mühle im Hintergrund.

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