Zenck, Martin - Maschinenmusik bei Nono und Boulez

Page 1

Technik der Maschinenmusik - virtuelle Räume (Halaphon und Spatialisateur) bei Luigi Nono und Pierre Boulez Martin Zenck (Universität Würzburg)

Vorwort: Vorüberlegungen zur Fragestellung der Ringvorlesung: a) das Menschenbild in der Musik? b) der Einfluss der Technik: beides mit Blick auf Heidegger und Foucault Einleitung: Verhältnis von Nah- und Fernsinnen zu den unmittelbaren Körpertechnologien und Gerätschaften mit Blick auf LeRoi-Gourhan und Marcel Mauss. Technik-Diskurse bei Heidegger („Gestell“ und „Geviert“) und die Dispositive der Macht bei Lyotard, Foucault und Deleuze I Die Maschinenmusik der 1920er Jahre als Befreiung vom spätromantischen Begriff eines beseelten Körpers: Mossolow: iron music,Stefan Wolpe: Stehende Musik(1925), Honegger: Pacific 312 und Stravinsky: Sonate für Klavier (1924) Abb. u. Musik: St. Wolpe: „Stehende Musik“: 3.31’ (CD) II. Die digitale Technologie des virtuellen Raums: das Halaphon bei Luigi Nono und der Spatialisateur von Andrew Gerzso bei Pierre Boulez: Prometeo und Répons +Dialogue de l’ombre double (Die „Grenzen des Fruchtlandes“ der elektronischen Musik, bereits in der Kritik von Boulez mit Bezug auf das – Kleebild). Vgl. weiter von Boulez: „Anthème I+II“ Partitur und Aufnahme, auch mit Schaltung für Anthème II und vgl. Nonos „La lontananza nostalgica utopica futura…“ für Violine und Halaphon. Die Bedeutung des Live-Interpreten für die Bewertung der Produktionsund Reproduktionstechnologie DVD/Video: Béjarts Choreografie von Boulez’“Dialogue de l’ombre double“ Summary und Schluß: Freud’s „Prothesengott“ und die angemaßte Gottähnlichkeit des Menschen durch neuere Technologien. Ihr Diskurs bei Christoph Hubig und Andreas Hetzel. Ihre Bedeutung für die Fragestellung der Ringvorlesung, bei der als Resultat herauskommen könnte, dass die neuen Produktions- und Reproduktionstechnologie das Bild des Menschen entweder aus der Musik vertrieben haben oder dass es inmitten des „Gestells“ dort doch als „Geviert“ behauptet werden kann.


2

Vorwort Zu Beginn ist eine Vorverständigung über den Titel der Ring-Vorlesung notwendig: „Der Einfluss der Technik auf das Menschenbild in der Musik“. Da wäre zum einen zu fragen, wie das Bild des Menschen in der Musik allgemein konturiert ist, zum anderen ob der „Einfluss der Technik“ dies Bild des Menschen in der Musik bestätigt, verändert, grundsätzlich neu formiert oder es sogar zum Verschwinden gebracht hat. Es ist zunächst durchaus denkbar, dass das Bild des Menschen überhaupt nicht bestimmend für die Musik ist wie im theozentrischen Weltbild der mittelalterlichen Kosmologie, wo die Musik ein Abbild einer transzendenten Ordnung ist. Für die frühe Neuzeit, in der sich der Übergang vom Mimesisgebot zur Freisetzung der Fantasia vollzieht, kann dann durchaus behauptet werden, dass die pathémata (die Leidenschaften) dem Menschen nicht einfach zufallen, sondern dass er sie auch in der Musik, in den Madrigalen und Opern geradezu obsessiv aufsucht, so dass diese Musik ein leidenschaftliches Bild vom Menschen in dieser Zeit errichtet hat. Dies Bild des Menschen ist schließlich auf veränderte Weise in den Mittelpunkt der Klassik gerückt worden, in der „verteufelt humanen Iphigenie“

Goethes nicht weniger als in Mozarts

Beethoven gerade in den vielen vokalen Gattungen vom

„Zauberflöte“, in der

einfachen, erdverhafteten

volkstümlichen Lied des Papageno bis zur erhabenen Entrücktheit der Koloraturarie der Königin der Nacht ein Kompendium des Menschlichen sah. Ob diese Situierung des „Menschenbildes in der Musik“ im 19. und 20. Jahrhundert sich weiter in dieser Weise fortsetzte, muss uns hier nicht näher befassen. Vielmehr ist die andere Frage wichtig, ob und wie die „Technik Einfluss“ auf dies „Menschenbild in der Musik“ genommen hat, ob die Technik dies Bild lediglich bestätigt oder ob es dies verändert, grundlegend neu bestimmt hat oder ob es schließlich mit den neuesten Produktions- und Reproduktionstechnologien aus dem Bild der Musik ganz verbannt wurde. – Diese Fragen finden sich bereits in einem relativ frühen Aufsatz mit dem Titel

„Die

Zeit des Weltbildes“ 1(1938) von Martin Heidegger in einer Weise gestellt, die uns heute Abend immer wieder durchgehend in Atem halten wird. Heidegger unterscheidet - für unsere Fragestellung durchaus entscheidend - drei „ wesentliche Erscheinungen der Neuzeit […] „ die Wissenschaft“, die „Maschinentechnik“ und die „Ästhetik“. Durchaus 1

Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“, in ders.: Holzwege, Frankfurt am Main 1963 (1. Auflage 1950), S. 69.


3 überraschend versteht er die „Maschinentechnik“ nicht als angewandte der „mathematischen Naturwissenschaften“, sondern sie sei „selbst eine eigenständige Verwandlung der Praxis“ die ihrerseits „erst die Verwendung [Erklärung und Interpretation] der mathematischen Naturwissenschaft“2 erfordere (also nicht umgekehrt). Zwei Aspekte möchte ich für unseren Kontext herausgreifen und hier bereits im Vorfeld der Diskussion vorbringen: erstens wäre demnach die „Technik“ heute kein Anwendungsbereich, sonder verbunden mit ihr eine eigenständige „Verwandlung der Praxis“, womit die Vorstellung von einem bloßen „Einfluss der Technik“ vom Tisch wäre. Die neueren Technologien schaffen ihrerseits eine neue „Praxis“, eine neue Wirklichkeit, sei sie virtuell oder parallel zur einer Realität, die nicht eine vorhandene, sondern immer eine konstituierte ist. Zweitens hebt Heidegger bei der Ästhetik einen neuen Grundzug des Wahrnehmens von Kunst hervor, die zum „Gegenstand des Erlebens“ werde und im Sinne unserer Fragestellung der Ring-Vorlesung „Ausdruck des Lebens des Menschen“ sei: also vermittelt die Kunst/die Musik ein bestimmtes Bild vom erlebnisfähigen und erlebnishungrigen Menschen, welcher sich in diesem Begehren in der Musik wieder zu finden hofft. Es muss klar sein, dass Heidegger diese anfangs formulierten Positionen als vorläufige Setzungen auffasst, die im Verlaufe seines Beitrags erheblich differenziert, wenn nicht, auch an anderer Stelle, außer Kraft gesetzt werden. So hält er dem „Selbsterleben des Menschen in der Kunst“, also dem SichSelbst-Genießen im ästhetischen Objekt, womit dieses verschwindet, Kunstwerk-Aufsatz „Der

zumindest im

Ursprung des Kunstwerks“ ein vollkommen anderes

Verständnis der Kunst entgegen: diese stehe in der Antike in sich („das Instichstehen der Kunst“), werde in der Folge zum einen uns „Entgegenstehenden“ und schließlich nur noch ein Gegenstand (nur noch „ein Gegenstandsein der Werke“3). Es findet also eine grundsätzliche Verwandlung der Aisthesis (d.h. der umfassenden Wahrnehmung) statt, die sich heute im Selbstgenuss im ästhetischen Objekt erschöpft und die Verbindung mit der „Technik“ ist insofern gegeben, als dieser Funktionswandel mit den neueren Reproduktionstechnologien zusammen hängt, die die Kunstwerke im Sinne von Benjamin entauratisiert, ihnen also Heideggers „Insichstehen der Kunstwerke“ genommen haben, womit wiederum deutlich wird, inwiefern die Technik die Aisthesis und die Produktion von Kunst grundsätzlich verändert und neu fundiert hat.

2 3

Heidegger, S. 69 Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“, in ders. Holzwege, Frankfurt am Main 1963, S. 30.


4 Keineswegs ist die Technik demnach nur von einem bestimmten „Einfluss“, der das „Menschenbild in der Musik“ nicht weiter tangiert hätte. Eine andere Reflexion möchte ich hier noch einflechten. Wenn sich mit der neueren Technologie das Bild des Menschen auch grundsätzlich wandelt, dann hängt dieser Wandel wesentlich mit der Veränderung des Raums, mit der Raumergreifung durch die Technik zusammen. Michel Foucault hat das 19. Jahrhundert als eines der Zeit, eines der Gerichtetheit von Vorgängen auf den Forschritt und auf ein Ziel hin interpretiert (er hat also damit die entelechetisch-finale Temporalität der Zeitvorstellung des 19. Jahrhunderts betont), während er das 20. Jahrhundert eines des Raums4 genannt, weil durch die neuren Technologien eine virtuelle Gleichzeitigkeit aller Ereignisse hergestellt werde, die nicht mehr auf einer sukzessiven Zeitachse verlaufen, sondern im Raum einer globalen Simultaneität. - Wenn ich vor allem im zweiten Teil meines Vortrags mit Blick auf Luigi Nono und Pierre Boulez immer wieder auf den Raum, auf den nichteuklidischen, zurück komme, dann hängt das wesentlich mit dieser Einsicht der vollkommenen Verräumlichung der Zeit in der Musik zusammen. Ich schließe hiermit meine Vorüberlegungen ab. Sie werden innerhalb meines Vortrags immer wieder virulent und ich masse mir nicht an, sie zu einem definitiven Abschluss zu bringen, sondern werde lediglich notwendige Differenzierungen entfalten, die sicherlich noch weiter zu führen wären.

Einleitung Die Technik, die techné, die Fähigkeit zur Anfertigung, Verfertigung, Erfindung und Hervorbringung von Gerätschaften ist dem Menschen nicht nur eigentümlich, sondern ermöglicht ihm das Überleben- im Grenzfall führt die verselbständigte Technologie zu seinem Untergang. Dabei hat er zunächst Geräte erfunden, die analog zur Differenzierung der Sinne in Nah- und Fernsinne, eine unmittelbare oder mittelbare Verfügung über die umgebende Wirklichkeit bewerkstelligen. (Hier müssten die Texte von André Leroi-Gourhan „Hand und Wort“5 und diejenigen über „Körpertechniken“ von Marcel Mauss ineinander gelesen werden). Schon frühzeitig hat man deswegen in 4

Vgl. zu Foucault grundsätzlich: Martin Zenck, Passagen zwischen Wissensraum und Wissensform. Überlegungen zu den ‚Orten’ in der Topik, Heterotopie und der Utopie im Denken Michel Foucaults, in: Räume des Wissens. Grundpositionen in der abendländischen Philosophie, hg. v. Karen Joisten, Bielefeld 2010, S. 1772110. 5 André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Fankfurt am Main 1988.


5 Analogie zu Freuds „Unbehagen in der Kultur“ in der Paläoanthropologie und in der Anthropologie vom Menschen als dem „Prothesengott“6 gesprochen. (Freud wies damals schon im Hinblick auf die dann kommenden 1930er Jahre darauf hin, dass der Mensch in dieser von ihm angemaßten „Gottähnlichkeit“ in Zukunft

sich „nicht glücklich

7

fühlt.“ ) Statt der amputierten Körperteile können Prothesen an deren Stelle gesetzt werden, statt der Körperteile mit nur geringer Reichweite können die Gliedmassen künstlich – etwa durch einen Roboter -

verlängert werden, um den Radius der

Handlungsmacht auszudehnen. Der DJ in der Disco oder das „Superklavier“ in Lachenmanns Klavierkonzert „Ausklang“ sind entweder Ausdruck eines Xero-Körpers oder eines Körpers, in dem sich derjenige des Pianisten in den Konzerflügel bis hinein ins Orchester verlängert. Dabei ist das Orchester entweder ein mit Resonanzen versehenes Superklavier oder dieses ein orchestriertes Tasteninstrument. Längst hat sich dieser Prozess soweit ausgedehnt, dass statt der vorindustriellen und noch industriellen „Köpertechniken“8 wie sie der Ethnologe Marcel Mauss noch beschrieben hatte,

die analoge wie digitale Verlängerung des Körpers getreten ist, dass die

entsprechenden Maschinen ihre eigenen Welten, parallele und virtuelle, erzeugen. Unabhängig von ihrer ethischen Bewertung können

diese Techniken nicht nur als

vermittelnde Instanzen zwischen dem Körper, seiner artifiziellen Verlängerung und der Außenwelt

verstanden

werden,

sondern

als

Dispositive

der

Macht,

der

Naturbeherrschung und des Wissens, wie sie gegenwärtig von der Technik-Philosophie von Christoph Hubig9 und Andreas Hetzel10 und in der französischen Philosophie im Umfeld von Michel Foucault diskutiert wird.

I. Die Maschinenmusik der zwanziger Jahre Mit der kurz skizzierten Einleitung ist zunächst im Groben das thematische Umfeld umrissen, in dem ich mich heute hier in meinem Karlsruher Vortrag bewege. Die 6

Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ffm1972, S. 87. Freud, a. a. O., S. 87. 8 Marcel Mauss, „Körpertechniken“, in ders.: Soziologie und Anthropologie 2 Gabentausch. Soziologie und Psychologie. Todesvorstellungen. Körpertechniken. Begriff der Person, Frankfurt am Main 1997, S. 199-209. 9 Christoph Hubig, „“’Wirkliche Virtualität’. Medialitätsveränderung der Technik und der Verlust der Spuren“, In: Unbestimmtheitssignaturen der Technik. Eine neue Deutung der technisierten Welt, hgv. Gerhard Gamm und Andreas Hetzel, Bielefeld 2005, S. 39-62. 10 Andreas Hetzel, „ Technik als Vermittlung und Dispositiv. Über die vielfältige Wirksamkeit der Machinen“, in: Unberstimmtheitssignaturen…,a.a. O., S. 275-296. 7


6 Handhabung eines Instruments (einer Sichel, einer Sense, eines Spatens), auch eines Musik-Instruments kann im Verhältnis zur akustisch verstärkten menschlichen Stimme als erste mit technischen Hilfsmitteln erzeugte Verlängerung der Körpers und des Ausdruckswillens eines Menschen verstanden werden: das Musik-Instrument dient dabei der extensiven wie intensiven Entäußerung eines Körpergefühls, das

im 19.

Jahrhunderts noch weitgehend emotional, als „Ausdruck einer Empfindung“ oder in der romantischen Überhöhung als eine „Ahnung des Unendlichen“ verstanden wurde. Darin kann ein erster weit über den Körper hinausreichender Wille gesehen werden, durch eine bestimmte Musik mit bestimmten Instrumenten eine weit über die unmittelbare Wirklichkeit hinausreichende Wirkung zu erreichen. Hector Berlioz’ Beschreibungen von Revolutionsmusiken mit Blechbläsern en pleine air in seiner Instrumentationslehre gelten nicht nur dem politischen Machtanspruch, sondern dem Übersteigen einer begrenzten Realität. Als Reaktion darauf war es mit dem PostWagnerismus im frühen 20. Jahrhundert dann in den 1920er Jahren nur nahe liegend, Abschied von der Musik und des Körpers als einem Medium emotionellen Ausdrucks zu nehmen und die Technik, die zunächst als eine Verlängerung des Körpers gesehen wurde (die Geige, die Flöte, das Klavier und das Dirigieren) in den Körper selbst zu verlegen und ihn damit selbst zur Maschine zu machen. Diese Bewegung stand in den zwanziger Jahren im engsten Zusammenhang mit der Entdeckung der Biomechanik (der richtige Schwerpunkt des Körpers, seine plastische Vorstellung und Erregung im Raum sowie Boxen, Fechten, Tanzen etc. als zu beherrschende Hilfstechniken des Körpertrainings) Meyerholds

11

und

Bioenergetik

des

Schauspielers

im

russischen

Theater

nicht weniger als im muskulären Körpertraining und in der

Bewegungslehre (auch der mechanischen Panotmime), wie es im Bauhaus von Weimar und Dessau etwa in den Klassen von Oskar Schlemmer und Johannes Itten praktiziert wurde. Dabei entstand eine gegen-romantische Musik, die gerade nicht seelenvoll sein wollte, sondern unmittelbar mechanisch, körperorientiert, muskulär, energetisch und voller Spannkraft der Nerven, die nicht als inwendig, sondern als blank oben auf der Haut gefühlt wurde und in dieser unmittelbaren Weise auch auf die Produktion der Musik und des Theaters übertragen wurde. Das Roboterhafte, Maschinelle, Heideggers ausgestelltes und apparatives „Gestell“12, das Heidegger 1951 im berühmten Vortrag

11

Wsewolod Meyerhold, „Der Schauspieler der Zukunft und die Biomechanik (1922)“, in ders.: Theaterarbeit 1917-1930, hg. v. Rosemarie Tietze. Reihe Hanser 158, München 1974, S. 72-76. 12 Martin Heidegger, „Bauen Wohnen Denken“, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 145ff.


7 vor Architekten in Darmstadt auf die Wohnmaschinen13 der Berliner Gropius-Stadt in Berlin um 1950 bezog, stand dabei eindeutig im Vordergrund und nicht mehr wie noch im 19. Jahrhundert der atmende Organismus. Drei wichtige Modelle sind für diesen Vorgang zu benennen und kurz zu charakterisieren: der historische Neoklassizismus von

Stravinskys

Klaviersonate

von

1924,

weiter

die

mit

rhythmischen

Patternverschiebungen arbeitende „Stehende Musik“ (1925) von Stefan Wolpe, der u. a. Bauhaus-Schüler war und schließlich drittens Alexander Mossolovs „Zavod“ („Iron Foundry“ von). Diese Beispiele wären natürlich zu ergänzen, etwa durch Edgar Varèses „Ionisation“ (1931;mit Geräuschspuren, Löwengebrüll und Sirenen) und „Arcana“ und durch Arthur Honeggers „Pacific 313“. Die sich hier vollziehende Veränderung ist im Vergleich mit dem Ausdruck der klassischen und romantischen Musik ganz einfach zu charakterisieren: Während die Musik in der Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts„sprachähnlich“ ist, d. h. den syntaktischen und dichterischen Perioden der Sprache folgt und die jeweilige Phrasierung und Artikulation vom vegetativen Ein- und Ausatmen, also von Diastole und Systole, bestimmt ist, wird in der Maschinenmusik der 1920 Jahren der Körper nicht über die Artikulation des Mundes als Sprache und Organismus, sondern als Teilchenlager verstanden, das im wörtlichen Sinn von „Com-ponere“ in seine Glieder zerlegt, wieder zusammen gesetzt und in der Musik sogar auf neue Weise zusammengefügt wird. Es sind meist kurze, scharf rhythmisierte Pattern, die wiederholt, geringfügig verändert, erweitert, gegen-rhythmisch versetzt und dann wieder zurückgeführt werden auf das ursprüngliche Gliedmaß. Es herrschen additive und nicht dynamisch-entwickelnde Prozesse vor, deren Vorbild die Maschine oder der als Maschine aufgefasste Körper ist. Man könnte diese Musik auch als ein Abbild einer Choreografie sehen und hören, bei denen die Beziehungen zwischen den Körpern vermessen, proportional acceleriert oder diminuiert werden. Das gilt für die horizontale Bewegung auf der Szene nicht weniger als für die vertikale, die erst spät Eingang in die Laban-Notation fand, weil sie so schwer zu bezeichnen ist. Ich habe hier den Zusammenhang mit dem Tanz und der Choreografie deswegen gewählt, weil er im russischen Theater von Meyerhold und in der Bewegungskunst des Bauhauses so elementar ist. Nicht zufällig stehen einige der zentralen Kompositionen der zwanziger Jahre mit diesen anti-expressiven Körperrichtungen und Körperzurichtungen in Verbindung. Deutlich führt hier der Weg von Stravinskys „Klaviersonate“, Stefan 13

Vgl. dazu den Artikel „Wohnen“ von Axel Beelmann, in: Wörterbuch der Philosophischen Metaphern, hg. v. Ralf Konersmann, Darmstadt 2007, S. 545-557.


8 Wolpes „Stehender Musik“, beides Werke für Solo-Klavier, die dies Instrument eher perkussiv denn ausdrucksvoll behandeln, hin zu Honeggers kurzem Orchesterstück „Pacific 313“ von 1924 und der „Eisengießerei“, dem „Zavod“ von Alexander Mossolov (vgl. bei ihm der ungeheuere Gegensatz zu seinen „Poèmes“ und der Klaviersonate, um dieses Prozesses der vollkommenen Zertrümmerung des Espressivo-Ideals der Musik der Tradition inne zu werden). Dieser unheilbare Gegensatz von vegetativ-atmenden Körper und dem Körper als Maschine wird nirgend, wenn auch sehr plakativ, deutlicher als in der Urszene solcher Dialektik in der Oper „Jonny spielt auf“ von Ernst Krenek von 1926. In einer der Schlüsselszenen stehen sich auf der Bühne der schwarze Jazz-Geiger Jonny und eine veritable Eisenbahn einander gegenüber. Dem korrespondiert in der Musik das seelenvolle, aus der spontanen Improvisation gewonnene Spiel auf der Geige und maschinelle Vorgänge, die auf den Körper des Spielers übertragen werden. An dieser Stelle möchte ich, um Ihnen das mechanisch Maschinenhafte der Neuen Musik der 1920er Jahre fühlbar und einsichtig zu machen, Wolpes kurzes Klavierstück mit dem Titel“ „Stehende Musik“ vorführen, mit einigen zusammenfassenden Beobachtungen, die ich an anderer Stelle14 ausführlich dargestellt habe. Abb. 1 und Klangbeispiel 1: Stefan Wolpe, Stehende Musik, 3.15’ Es sind drei Aspekte des Mechanischen und Maschinellen, die wir in Stefan Wolpes „Stehender Musik“ (1925) wahrnehmen können: es ist 1. die perkussive Behandlung des Klaviers, bei dem die Realisierung der konsequenten Rhythmik auf Grund der extremen Sprünge grenzwertig ist: das plötzliche Auseinandergreifen der Hände bei fast gleichzeitig zusammen zuckendem Zusammenschnellen der Hände. Man könnte dies auch umkehren und sagen, gerade weil wir es nicht mit einem flächenhaft nahe bei einander liegenden Schlagwerk zu tun haben, ist es am Klavier auch illusorisch das Perkussive ungebrochen auf das Klavier übertragen zu können; 2. das Maschinelle zeigt sich in den perpetuum mobile-Figuren, die stark an Bela Bartóks „Allegro barbaro“ erinnern. Wolpe geht dabei aber einen Schritt weiter, indem er aus den rhythmischen Ostinati eine über sie hinausschießende Klangwucht gewinnt, sie dreimal erweitert, bis dadurch das ursprüngliche Ostinato zerstört wird (die ergänzten und hinzugesetzten 14

Vgl. Martin Zenck, „Beyond Neoclassicism and Dodecaphony. Wolpe’s Third Way”, in: On the Music of Stefan Wolpe. Essays and Recollections edited by Austin Clarkson, Hilsdale, NY 2003, S. 169-186 (vgl. insbesondere zur “Stehenden Musik” die Seiten 170-175).


9 Werte fressen die Regelmäßigkeit der Abfolge auf; Ex. anhand des Notenbeispiels). 3. in der Kritik an jedem seelenvollen Romantizismus wird das Maschinelle und Roboterhafte nicht in seiner absoluten Kraft behauptet, sondern als anatomische Sezierung und als Lebloses seinerseits auch wieder zerstört. Beethoven unterschied beim Komponieren, vor allem der Fuge, zwischen der äußeren Mechanik und der neuen poetischen Idee, die in diese veraltete Mechanik hinein kommen müsse. Hier bei Wolpe ist die Musik ganz der poetischen Idee entäußert. Was bleibt ist reine Mechanik, allerdings von einer Maschine, die im Vorgriff auf György Ligetis „Clocks and Clouds“ ein Uhrwerk darstellt, das nicht mehr ganz richtig tickt.

II.

Boulez –Nono. Die Entwicklung der elektronischen Musik hin zur live-Elektronik in der Musik der 80er und 90er Jahre

Es muß klar sein, dass kein direkter Weg von der Maschinenmusik der roaring twenties zur elektronischen und live-elektronischen Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führt. Dabei ist es eine entscheidende Frage, ob die Maschine ein Modell ist, das wie in Mossolows „Iron foundry“ („Zavod“) durch die stampfenden und schwerwuchtigen Klänge des Orchesters nur abgebildet wird oder ob Maschinen, wie die Sirenen Geräusche und Löwengebrüll selbst Eingang in Varèse’s „Ionisation“ finden und die Musik substantiell und nicht nur akzidentiellornamental verändern. Auf diese Frage möchte ich hier aber heute nicht eingehen, sondern mich gleich Pierre Boulez und Luigi Nono zuwenden. Beginnen möchte ich mit einer kleinen Vorgeschichte von beiden Seiten aus. Nicht zu übersehen ist bei den beiden Komponisten: Boulez und Nono - die vergleichbare und doch unterschiedliche Befassung mit dem Medium elektronischer Musik in den 50er und 60er Jahren, bevor dann in den 1980er Jahren eine verstärkte Hinwendung vor allem zu live-elektronischen Musik entstanden ist. Die Gründe hierzu sind relativ einfach zu benennen. Für beide gab es das Problem, dass rein elektronische Kompositionen, wie in den 50er Jahren, Gefahr liefen, an die „Grenze des Fruchtlandes“ zu kommen. Erinnern wir uns, dass der so einschlägige Aufsatz von Pierre Boulez „A la limite du pays fertil“ auf ein Bild von Paul Klee in diesem Sinne die Grenzen der Fruchtbarkeit gerade der elektronischen Musik aufgezeigt hatte (Für Boulez gibt es also ganz im Sinn von Klee eine Kunst im Fruchtland und eine an


10 seiner Grenze, an der übermäßige Ordnungsstrategien die Spontaneität der kreativen Energie zu lähmen beginnen). Boulez hat zwar in ganz wenigen Fällen in den frühen 50er Jahren mit elektronischer Musik und mit ihren Möglichkeiten experimentiert (vgl. „Étude II pour bande“, 1951/52)) im Gegensatz zu Nono, der immer wieder Musik und Sprache durch die Mittel der elektronischen Klangerzeugung zu verbinden suchte, aber Boulez hat dann zunächst darauf verzichtet, weiter elektronische Musik über die Recherche zu erfinden. Wenn beide also dann in den 60er und 70er Jahren getrennte Wege gingen, so führten die verschiedenen Wege dann seit den 1980er Jahre bei allen Differenzen wieder zusammen. Und zwar durch die Live-Elektronik des von Luigi Nono genutzten Halaphons und des von Boulez angewandten „Spatialisateur“, den Andrew Gerszo für ihn im Ircam erfunden und weiter entwickelt hatte. Ein wichtige Komposition gibt es auf dem Weg dorthin und auf eine einmalige Weise in Nonos Klavierstück „Sofferte onde serene“, das insofern zwischen reiner Klaviermusik und live-elektronisch gesteuerter Instrumentalmusik steht, als die Live-Klänge des Pianos nicht durch die Live-Elektronik einfach in unterschiedlicher Dichte, Beschleunigung und differenter Registerlage im Raum ständig neu verteilt werden, sondern in „Sofferte onde serene“ (1979) findet ein Dialog statt zwischen einem im Ton-Studio von Mauricio Pollini erzeugten und improvisierten Klang, der auf Tonband aufgenommen wurde und dem Live-Spiel des Pianisten, der die Partitur von Nono am Klavier realisiert, dann über die Lautsprecher zugespielt wird. Notation, deren Realisierung und die Klänge des Zuspielbandes treffen also aufeinander. Weder wird das Live-Spiel des Pianisten unmittelbar elektronisch über Lautsprecher im Saal verbreitet noch handelt es sich bei dem Zuspielband um ein fremdes und heterogenes Material. Nein, weil es selbst vom aufführenden Pianisten eingespielt wurde, kommt es zu einer ausgesprochenen Selbstberührung zwischen dem aufgenommen und im Augenblick verwirklichten Klavierspiel. Wenn auch bereits jedes Klavierspiel eine Berührung mit sich selbst ist, weil den Tastendruck resonanz-gesättigt ist, dem Spieler also das verändert zurück gegeben wird, was er mit seinem Tastsinn in den Ton hineingelegt hat, so ist doch bei Nono dies Verhältnis ganz explizit auskomponiert. Es hängt also alles davon ab, dass derjenige, der Tonmeister, der das Zuspielband im Konzertsaal aussteuert, in vollem Sinne ein Musiker sein muss, damit die von ihm gesteuerten Klänge, die durch den Raum wandern hin zum live spielenden Pianisten, diesen auch so berühren, dass er sich


11 angeregt fühlt, mit dem Spiel aus der Partitur darauf zu reagieren. Es muss also zu einer Interaktion zwischen den beiden Spielern und den beiden Musiken kommen, wobei die Technik, die live-eingespielten Zuspielbänder und deren räumlicher Verteilung, einen Mittel zum Zweck darstellen, eine nur so herstellbare Interaktion zwischen zwei auditiven und taktilen Medien zu ermöglichen. Ich habe dieses wichtige Zwischenstadium zwischen reiner Instrumentalmusik und rein elektronischer Musik dargestellt, um deutlich zu machen, dass die dann in den 1980er

Jahren

von

Boulez

und

Nono

durch

Live-Eletronik

realisierten

Kompositionen zumindest teilweise auf die Lösung der Probleme zurückgeführt werden

können,

die

zwischen

absoluter

Instrumentalmusik

und

absolut

elektronischer Musik entstanden waren. Bei beiden Komponisten, bei Nono und Boulez, fällt es dann in der Folge auf, dass sie entweder versuchten, die entsprechenden neuen, nicht-euklidischen Raum-Konzepte doch im Bereich der reinen Komposition zu verwirklichen: Nono in seinem „No hay caminos hay que caminar per 7 cori“, Boulez: in „Sur Incises“ und in „Messagesquisse“ oder in Kompositionen durch die Live-Elektronik unmittelbar und einzigartig Musik entstehen zu lassen. In den nun darzustellenden Kompositionen dieser Richtung kommt zwischen die Partitur/Notation und Live-Aufführung ein elektronisches Dispositiv zu stehen: bei Nono, das auf den Toningenieur Hans-Peter Haller zurückgehende „Halaphon“, bei Boulez der von Andrew Gerszo erfundene und weiterentwickelte „Spatialisateur“ auf der Basis des computergestützten Programms im Ircam. Abb. Raum- und Schaltplan von Andrew Gerszo für „Anthème II“ Nicht zufällig findet dabei im Stück „Anthème II pour violon et disipositif éléctronique“ der Begriff des Dispositivs im Sinne von Foucault seine umfassende Verwendung. Es ist erstens ein Apparat, zweitens ermöglicht er eine bestimmte horizontale und vertikale Anordnung und Geschwindigkeit der Klänge und drittens partizipiert er an Ordnungen des Wissens, die bei Foucault in einem zwingenden Zusammenhang mit den Dispositiven der Macht und der Sexualität stehen. Damit zeichnet sich im Willen zur Raumergreifung, zur Erzeugung eines virtuellen Raums und zur

spatialen Amplifizierung

ein Begehren ab, ein Verlangen nach

Beherrschung eines Raums, der zu einer Heterotopie wird. Es entsteht zumindest für einen Zeitausschnitt an einem bestimmten Ort ein anderer transitorischer Ort („un autre espace“ im Sinne Foucaults), der sich zwischen Topik und Utopie, zwischen


12 Gesetz und Arbitrarität befindet. In der Frankfurter Aufführung von Boulez’ „Anthème I+ II“ mit der faszinierenden Geigerin Carolyn Widman war das deutlich zu erleben, wie beide Stücke, das eine ein live-elektronisch aufgefächertes Double des anderen, im szenischen Raum aufgeführt wurde. Im vorderen Bereich zunächst das „Original“ mit dem Ordinario-Spiel der Solistin, dann im hinteren Bereich das Double mit „Anthème II“, das durch den computergesteuerten, elektronischen „Spatialisateur“ im Raum verteilte Bewegung der Klänge erzeugte. Der räumlichen Staffelung des Klangs korrespondiert also eine szenische durch die Akteurin mit der Möglichkeit der Rückwirkung des „Doubles“ auf das „Original“, das es bei Boulez seit „Figures, Doubles, Prismes“ in der einseitigen Abfolge von Urbild und Abbild gar nicht mehr gibt. Dieser intermittierende Zusammenhang von Figur und Double, von räumlicher und szenischer Konzeption zeigt sich im früheren Stück des „Dialogue de l’ombre double“ pour clarinette et dispositf élétronique von Pierre Boulez aus dem Jahre 1985 ganz ausdrücklich. Es ist nach „Répons“ das erste in dieser Weise live-elektronische Stück mit eindeutig szenischen und choreografischen Implikationen, die auch bereits in dieser Weise verwirklicht wurden. Der „Dialogue de L’ombre double“ geht auf die entsprechend bezeichnete 13. Szene aus Paul Claudels „Le soulier de satin“ zurück. Nicht nur die persönliche Bekanntschaft von Boulez und Jean-Louis Barrault mit dem damals bereits im hohen Alter stehenden Dichter Paul Claudel ist dabei entscheidend, sondern vor allem die Bühnenmusik Arthur Honeggers zur entsprechenden Inszenierung von Jean Louis Barrault, die Pierre Boulez seinerzeit als musikalischer Leiter der Compganie Renaud-Barrault dirigierte.

Ich

habe

an

anderer

Stelle

ausführlich

auf

diesen

szenisch-

choreografischen Zusammenhang des „Dialogue de l’ombre double“ hingewiesen und es ist kein Zufall, dass zwei maßgebliche Choreografen unserer Zeit, Maurice Béjart und die Gruppe Bartabas, diesen doppelten Dialog zwischen dem Live-Spiel der Klarinette und einem Klarinettenpart auf dem Zuspielband in Szene gesetzt haben. Dabei wird die durch einen einfachen Hall oder den Resonanzraum eines Konzertflügels verstärkte Original-Klarinette als „Strophe“ bezeichnet, die über Zuspielband eingespielte doublierende Klarinette als „Transition“, so dass Figure und Double ineinander übergehen und einen einzigen gemeinsamen Schnittpunkt in einem Differenzton haben. Abb. Formplan von Martin Zenck zum „Dialogue de l’ombre double“


13

CD: „Dialogue de l’ombre double“ mit Alain Damines, Clarinette Video: Béjart-Produktion des „Dialogue de l’ombre double“ Video: Répons, Luzerner Festspiele Da ich über beide Stücke von Pierre Boulez ausführlich publiziert15 habe, werde ich hier in systematischer Absicht auf entsprechende Zusammenhänge zwischen Boulez und Nono eingehen: auf „Anthèmes I+II“, „Incises“,

„Sur Incises“ und

„Messagesquisse“ einerseits, auf „Hay que caminar“ sonando“ für zwei Violinen (1989) und auf „La Lontananza nostalgica utopica futura“ (1988/89) andererseits. Das Verbindende zwischen diesen beiden, bzw. drei Werkzyklen liegt darin begründet, dass es jeweils eine solistische und eine perspektivisch auf mehrere Instrumente aufgefächerte Konzeption eines Stückes gibt, sodann Versionen mit elektronischer Amplifikation. Wichtig ist zunächst die Funktion der Technik, der Klangtechnik des Halaphons wie des Spatialisateurs. Bereits zwischen Technik und Musik, zwischen dem Tonmeister, dem Komponisten und vor allem dem Interpreten, muß es einen engen Dialog geben. Es ist ein „Duo“, das das Werk jeweils entstehen lässt. Und obwohl die elektronische Klangtechnik, die Erzeugung der Zuspielbänder wie die Live-Elektronik, eine so bedeutende Rolle spielen, darf darüber nicht die experimentelle Studio-Situation und der hohe improvisatorische Anteil des jeweiligen Solisten an der Produktion des jeweiligen Stücks vergessen werden. Von Gidon Kremer wissen wir dies dank seiner Berichte zu „La lontananza nostalgica utopica futura“ ganz genau und die Zusammenarbeit zwischen den Musikern und dem Komponisten Luigi Nono ist seit „Sofferte onde serene“ mit Mauricio Pollini und dem Hölderlin-Quartett „Fragmente, Stille – an Diotima“ mit dem LaSalle-Quartett bestens bekannt. Nono

15

Martin Zenck, „Der Gegen-Raum/Die Heterotopie und der virtuell-mobile/szenographische Raum. Überlegungen zu Michel Foucault und den ‚Répons’ und dem ‚Dialogue de l’ombre double’ von Pierre Boulez“, in: Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, hg. v. Ralf Bohn und Heiner Wilharm, Bielefeld 2009, S. 135-155.


14 hat sich dabei immer wieder auf die große Tradition der Zusammenarbeit der Solisten, Musiker und der Komponisten bezogen: auf die Bedeutung des Geigers und Komponisten Josef Joachim für Brahms Violinkonzert, auf das Kolisch-Quartett für Schönbergs vier Streichquartette. Aber das Verhältnis zwischen Komponist und Interpret hat sich dabei auch grundlegend gewandelt. In der genannten Tradition kann davon gesprochen werden, dass die entsprechenden Stücke dem Interpreten im Sinne von Thomas Lacqueur „auf den Leibe geschrieben wurden“ (écrit sur le corps). Zumindest bei Nono und auf ganz andere Weise bei Boulez hat sich diese Beziehung grundlegend verschoben, weil nun das vom Solisten oder vom Quartett gleichsam improvisierte Material nicht nur zum Ausgangspunkt, sondern zum Mittelpunkt der Komposition wird. Im Falle des „Lontananza“-Stücks wurden die von Gidon Kremer extemporierten Geigenintonationen auf Band aufgenommen, elektronisch transformiert dem Geiger im Konzert der Berliner Philharmonie zugespielt, auf das wiederum der Solist anhand eines sehr ausgespart notierten Soloparts zu reagieren hatte. Bereits hier kann soviel zum Verhältnis von Musik und Technik gesagt werden, dass die elektronische Technologie zwar eine bestimmende Rolle für die Entstehung eines Stücks wie für die Aufführung spielt, dass aber der Anteil der subjektiv bedingten Körpertechnik des Geigers gegenüber der Tradition deutlich angewachsen ist. Das „Werk“ wie seine Entstehung ist in viel höherem Maße als in der Tradition etwas der Solo-Konzerte Resultat der geigerischen Phantasie und der Bereitschaft des Solisten, sich auf dies Duo von Technik und Musik einzulassen. In dem Maße, wie die spezifische Verräumlichung des Klangs durch die Produktionstechnologie des „Halaphons“ zunimmt, in dem Maße gewinnt auch der spontan expressive Spielkörper an Bedeutung, gleichsam um das Humanum gegenüber der Technik zurück zu gewinnen. Hier sind wir dann direkt in der Thematik der Ringvorlesung, bei der die Bedeutung der Technik für das entstehende Menschenbild in der Musik nicht in Frage steht. Ob es nur ein „Einfluss“ ist, den diese Technik auf das Menschenbild hat, ist zu bezweifeln. Eher könnte die Alternative aufgemacht werden, dass die neueren Produktions- und Reproduktionstechnologien (Verlust des Raumgefühls und damit des Körpers auf den aseptischen CD’s, die einen komplexen Raumklang nicht abbilden können) entweder das Bild des Menschen aus der Musik vertrieben haben oder dass es nur in einer extremen Aus-Setzung (to be exposed) durch die Arbeit und Mitarbeit der


15 Interpreten, die ihre jeweiligen Physis mit in den Klang bringen, doch behauptet wird. Bevor ich diese Diskussion des Verhältnisses von Technik und Musik mit Blick und Ohr auf Pierre Boulez weiterführe, möchte ich bei der Frage des Humanen der Neuen Musik und in der historischen Situation der Nachkriegszeit um 1950 kurz eingehen. Der „elektronischen Musik“, die in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren entstanden ist und die im Sinne Friedrich Kittlers es verdient hätte als kopernikanische Wende des nun eintretenden Medienzeitalters bezeichnet zu werden, diese „elektronische Musik“, die etwa von Stuckenschmidt als drittes Weltalter aufgefasst wird, wurde von den konservativen und damals älteren Vertretern des Faches Musikwissenschaft, vor allem von Friedrich Blume, als inhuman etikettiert. Sie habe nichts mehr mit dem Menschen und seinem naturhaften Ausdrucksverlangen zu tun, womit gegen die Neue Medialität die Vorherrschaft

der

klassischen,

romantischen

und

spätromantischen

Ausdrucksmusik gesetzt wurde. Es ist kein Zufall, dass diese Diskussion in der Nachkriegszeit mehr im Hinblick auf die Architektur der von Gropius entworfenen Großstädte in Berlin geführt wurde und zwar in doppelter Weise bei Martin Heidegger. Einmal mit Blick auf die

Kritik dieser verlängerten Bauhaus-

Architektur, wie sie von Heidegger in einem Forum von Architekten 1951 in Darmstadt

unter dem bereits diskutierten Titel „Bauen, Wohnen, Denken“

vorgetragen wurde. Zum anderen im sogenannten „Humanismus-Brief“ Heideggers an seinem französischen Freund Jean Beaufret von 1946. In der Mitte dieser beiden Texte kommt der Münchner Vortrag „Die Frage nach der Technik“16 von 1953 zu stehen, der zugleich das Zentrum der Diskussion zumindest in den frühen 50er Jahren bildet und vielleicht bis heute, wie Freuds Essay „Das Unbehagen in der Kultur“, nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Ein Zusammenhang mit der damaligen wie heutigen Situation der „elektronischen Musik“ und der „LiveElektronik“ kann insofern hergestellt werden, weil es um das Verhältnis von Apparat und Raum geht, ob mit den spatialen Verteilungsverfahren des Klangs ein Raum erzeugt wird, der ein bloßes Gehäuse, nur einen Container darstellt, oder einen Raum, in dem sich Menschen zuhause fühlen oder durch den sie zumindest einen sie einschließenden Raum zugewiesen bekommen. Dies führt gerade bei Heidegger am Modell des Raums auf den Gegensatz von „Gestell“ und „Geviert“, 16

Martin Heidegger, „Die Frage nach der Technik“ (1953), in ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954m S, 13-44.


16 wie

er ihn erhoben hat, um das Unbehaustsein des „Gestells“ und die

„Unverborgenheit“ seiner Bauernhütte in Todtnauberg zu charakterisieren (Paul Celan hat diesen Konflikt im gleichnamigen Gedicht genau erkannt). Das „Gestell“ bezeichnet Heidegger auch als Schema, als Skelett, also als eine reduzierte Ordnung und Anordnung, wie sie für die „Technik“ bezeichnend ist. Dieter Mersch hat in einem Symposium in Zürich letztes Jahr dieses „Gestell“ zwingend in Verbindung gebracht mit dem „ästhetischen Dispositiv“ bei Michel Foucault, bei dem die Technik wirksam wird, genauer das Wissen, das an den Dispositiven der Macht teilhat. Nur wenn diese Verstrickung der Technologie mit Macht als Möglichkeit angenommen wird, kann die allzu simple Entgegensetzung von Natur, Kultur und Technologie überwunden werden. Bei Foucault stellen sie eine gesellschaftliche Ordnung dar, in deren Segmente Machtverhältnisse wirksam werden, die diesseits von Gesetz und Willkür stehen. Dies gilt es zu bedenken, wenn ich jetzt wieder von Nono auf Boulez übergehe. Es ist unverkennbar, dass der theoretische Status von Technologie bei Nono ein vollkommen anderer ist als bei Boulez Der eine könnte bei aller problematischen Verallgemeinerung als der lebenswissenschaftliche und durch den musikalisch Interpreten vermittelte bezeichnet werden, während bei Boulez der szientifischepistemische der Experimentalsituation eindeutig im Vordergrund steht. Vereinfacht gesprochen könnte Boulez’ Position als eine bezeichnet werden, bei der die Musik eine Form und einen Raum des Wissens (wie auf vergleichbare Weise etwa im Labyrinth Foucaults) markiert, während Nono von einem placet experiri ausgeht, das

aber

humanwissenschaftlich

auf

den

Wahrheitscharakter

ausgerichtet ist. (gerade in der unendlichen Wanderschaft). Unterschied

hängt

mit

der

Mittlerfunktion

des

der

Musik

Der gravierende

Interpreten

wie

der

Produktionstechnologie zusammen. Zwar gibt es auch bei Boulez Stücke, die unmittelbar für einen Freund als Memorial wie explosante-fixe und „Rituel in memoriam Bruno Maderna“ geschrieben wurden, aber die späteren liveelektronisch bestimmten Stücke arbeiten, weitgehend losgelöst von der dem Spieler eigentümlichen Physis. Seine Klänge, seine Spielmöglichkeiten werden im elektronischen Studio des Ircam von Andrew Gerszo aufgenommen oder synthetisch hergestellt und durch den spezifischen Distributeur verräumlicht und auf den LiveSpieler projiziert. Der Gegensatz von Nono und Boulez könnte auch auf denjenigen einer konkret oder abstrakt angewandten Technologie hin bestimmt werden, was,


17 wie vorhin ausgeführt, mögliche Konsequenzen für das „Gestell“ und das „Geviert“ hat. Die subjektive Einschreibung im Dispositiv verleiht diesem eher den Charakter eines „Zuhause“, während das “Gestell“ einem Objektivismus folgt, bei dem es dem Betrachter oder dem Zuhörer überlassen bleibt, sich darin zurecht oder auch dort sein „Geviert“ zu finden. Gegenüber der objekthaften Wahrnehmung von Kunst, gegenüber der Einziehung der ästhetische Distanz, bei der allerdings noch ästhetisches Objekt und Betrachter oder Hörer getrennt bleiben, gibt es noch eine dritte ganz gegenwärtige: das Sich-selbst-Geniessen im ästhetischen Objekt, das dieses zum puren Erlebnis, zur reinen Projektionsfläche degradiert.

Historisch

gesehen, können die Positionen von Boulez und Nono auf zwei Modelle zurückgeführt werden: auf Stravinsky und auf Webern. Bei Boulez-Stravinsky ist es die Musik, die einem objekthaft gegenüber tritt: gleichsam wie eine Plastik von Rodin mit ihren schroffen Konturen und Verwundungen. Dabei bleibt es dem Betrachter/Hörer überlassen, wie er auf einen solch ihm gegenüberliegenden Gegenstand reagiert. Er hat dazu alle Freiheit. Dagegen verschmilzt bei NonoWebern die ästhetische Distanz zwischen Gegenstand und Betrachter/Hörer, wenngleich beim späten Webern das esse in objectum, das Sein als Vorgestelltes, in den Vordergrund tritt, was ihn wieder mit Stravinsky im Spätwerk in Verbindung bringt.(Erinnern wir uns an die wichtige Position von Henri Pousseur, welcher der allzu kruden Entgegensetzung Stravinsky und Webern seinen programmatischen Text „Stravinsky selon Webern selon Stravinsky“ gegenüber stellte). Entscheidend scheint mir gegenüber allen Fragen der Technik und akustischen Technologie die Stellung des Interpreten als Urheber und als Ausführender zu sein. Vielleicht allzu strikt habe ich dabei zuvor die Positionen von Nono und Boulez einander entgegen gesetzt mit der These, dass die performative Einschreibung des improvisierenden wie aufführenden Interpreten in Nonos späten Werken wirksamer ist als bei Boulez, bei dem die abstrakte Reproduktionstechnologie intensiver zwischen Musik und Aufführung zu stehen kommt. Dies wäre aber wiederum anhand einzelner Werke zu differenzieren: im „Dialogue de l’ombre double“ in der Bedeutung, die dem Solisten und Klarinettisten Alain Damiens bei der Entstehung und Aufführung dieses Stückes zukommt und schließlich in der Choreografierbarkeit dieses Stückes durch Maurice Béjart oder durch die Gruppe Bartabas, durch welche dieses Stück von Boulez einen ganz anderen, vielleicht mit Nono vergleichbaren ästhetischen Status


18 erlangt, weil die Reproduktions- und Produktionstechnologie des Distributeurs vollkommen in der Musik und in der Szene aufgelöst erscheint: erklingt.

Schluss und systematische Zusammenfassung In meinen Vorüberlegungen ging ich davon aus, dass die These vom „Einfluss der Technik auf das Menschenbild in der Musik“ so nicht aufrechterhalten werden kann. Neben der Wissenschaft und Ästhetik ist mit Heideggers Einsicht: die Technik in ihrem die Wirklichkeit erfassenden Grundzug verstanden worden, der in alle Lebensbereiche, in alle Segmente der Gesellschaft hinein wirkt. Diese Technik wiederum führt im Bereich der Lebenswelt zu den Wohnmaschinen von Walter Gropius im Berlin der 1950er Jahre, in denen Heidegger ein unbehaustes „Gestell“ erkannte, dem er die Hütte in ihrer Unverborgenheit als unverfügbares „Geviert“ gegenüber setzte. Zu fragen war dann, inwiefern die neueren apparativen Technologien einen neuen Raum, einen virtuellen Raum konstituieren, in dem Musik einen „Tonort“ als „Topik“ ausmacht, den Stockhausen den fünften Parameter der Musik nannte (nach der Tonhöhe, der Dauer, Dynamik und Anschlagsart). In ihm, wie vor allem in der live-elektronischen Musik treten die früher strikt verbundenen Zusammenhänge von Klang und Klangquelle, von sound and source, auseinander und erzeugen einen ständig fluktuierenden, nicht-euklidischen Raum, mit dem sich die unabschließbare Frage auftut, in welchem Verhältnis dazu der Komponist, der Interpret, die Produktions- und Reproduktionstechnologie des „Halaphons“ und des „Spatialisateurs“ und schließlich der Hörer steht. Ob das daraus entstehende und bewegliche „Ganze“ ein „Gestell“, ein ästhetisches Dipositiv mit bestimmten Anordnungen, Ordnungen und Machtverfügungen ist, zudem sich der Mensch nur schwer verhalten kann, auch wenn er sich zu ihnen wie ein verehrendes Tier verhält oder ob er in ihm, also im „beweglichen Ganzen“ ein „Geviert“, ein vorübergehendes Zuhause, eine wenn auch nur transitorische Heimat findet, mag vorerst vor der Diskussion eine offene Frage bleiben. Eine doppelte mögliche Richtung jedoch möchte ich angeben: erstens für das Sich-Behaust-Fühlen könnte der nicht zentralperspektivisch ausgerichtete musikalische und Aufführungsraum sprechen. Die Hörer sitzen inmitten des Konzersaals um den/die Solisten herum. Die Klänge wandern dabei von der Mitte nach Außen zu den anderen Klangquellen der Lautsprecher und wiederum in die Mitte zurück: Dabei berühren sie den Hörer haptisch, gehen durch ihn hindurch. Wie im Orchesterwerk Nonos auf Andrej


19 Tarkovsky ist der Raum aber nicht nur ein Aufführungsort, sondern ein musikalisch-kompositorisch disponierter, durch den die Klanggruppen auf die 7 Orchestergruppen

genau

verteilt

sind.

Vergleichbares

gilt

auch

für

die

elektroakustische Manipulation im Raum. Durch diese Maßnahmen ist der Hörer in die Klangbewegung eingebunden, er sitzt ihm nicht wie im Konzertsaal frontal gegenüber. Zweitens

könnte das Behaustsein über das Verhältnis von Ideolekt,

Soziolekt und Dialekt in der Musik Schuberts bis hin zu Mahler und Webern laufen. Es gibt ja dort die intime Aussprache im Wiener Espressivo, das sich in den Trios der

Scherzi

findet,

eine

Berührung

mit

einer

„Heimat

ohne

Erde“.

(Adorno).Vielleicht findet sich etwas davon im persönlichen Habitus eines musikalischen Interpreten bei Gidon Kremer und Alain Damiens, der sich inmitten aller elektronischen Technologie doch auf uns überträgt. Wie nahe wiederum Fortschritt in der Technik, durch die wir uns machtvoll nach außen hin verlängern, mit dem ursprünglichen Zuhause verbunden ist, hat Freud im zitierten „Unbehagen in der Kultur“ deutlich gemacht. Je mehr wir durch die Technik „gottähnlich“ werden, weil wir über diese Projektion über alles, auch das Entfernteste nach außen hin herrschen können, desto mehr sehnen wir uns nach innen nach einem „Wohnhaus [das]Ersatz für den Mutterleib [ist], wahrscheinlich noch immer ersehnte Behausung, in der man sicher war und sich so wohl fühlte.“17

17

Freud, „Das Unbehagen in der Kultur“, a. a. O., S. 86f.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.