Stolpersteine in Neukölln: Erinnerungskultur von unten

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Stolpersteine in Neukรถlln Erinnerungskultur von unten

Foto: A. Simon

Ein Ausstellungsmagazin des Mobilen Museums Neukรถlln



DIE SPUR DER STOLPERSTEINE Fast 200 Stolpersteine sind in den letzten fünfzehn Jahren durch bürgerschaftliches Engagement in Neukölln verlegt worden. Zu Beginn der Verlegung hebt der Künstler Gunter Demnig die alten Pflastersteine aus dem Erdreich und setzt an ihrer statt die neuen „Gedenkpflaster“ ein. Dieser kniend ausgeführte, symbolträchtige Akt besiegelt einen zuvor stattgefundenen Recherche- und Lernprozess der Anwohner*innen, Angehörigen, Schüler*innen oder anderer Spender*innen. Diese Stolpersteininitiativen haben die Biografien der von den Na­tio­nal­so­ zialist*innen Ausgestoßenen gewissermaßen ebenfalls „ausgehoben“, studiert und schließlich der Verantwortung des Künstlers übergeben. Demnig sorgt mit einer knapp 10 × 10 cm kleinen Messingplatte dafür, dass die Menschen, die die Nazis auslöschen wollten, an ihrem ehemaligen Wohnort wieder sichtbar gemacht werden. Wenn man nur eine Minute innehält, erfährt man etwas über das Verfolgungsschicksal dieser ehemaligen Neuköllner*innen. Vorausgesetzt, man wendet sich der Inschrift durch eine Verbeugung oder einen Kniefall zu, denn ohne diese Hinwendung können wir die Inschrift eines Stolpersteins nur schwer lesen. Die Zahl der Stolpersteine in Neukölln wächst kontinuierlich. Menschen werden zu Stifter*in­ nen, da sie die Erinnerung und Mahnung an den schrecklichen Verlust wach halten möchten, der für die deutsche Gesellschaft durch die Entwurzelung und Vernichtung von Menschen entstanden ist, die nicht in das von den Nationalsozialist*innen propagierte Weltbild passten. Ich möchte jedem einzelnen Menschen, der daran mitgewirkt hat, dass die „Spur der Neuköllner Stolpersteine“ entstanden ist, sich weiter ausbreitet und sichtbar bleibt, herzlich danken und dazu ermutigen, seine Erfahrungen weiterzugeben, sodass immer wieder neue Mit­strei­ ter*innen dazu kommen und weiter machen. Das Museum Neukölln leistet in Zusammenarbeit mit der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin die dafür nötige fachliche Unterstützung. Mit der Ausstellung „Stolpersteine in Neukölln. Erinnerungskultur von unten“ des Mobilen Museums Neuköllns, die aus Anlass des internationalen Gedenktages an die Opfer des Holocaust, dem 27. Januar, im Rathaus Neukölln eröffnet wird, setzt das Bezirksamt Neukölln zugleich ein deutliches Zeichen gegen antisemitische, rassistische und rechtspopulistische Parolen.

Jan-Christopher Rämer Bezirksstadtrat für Bildung, Schule, Kultur und Sport

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Gunter Demnig öffnet das Pflaster für vier Stolpersteine in der Emser Straße, 25.9.2015. Foto: Museum Neukölln Bis heute reist Gunter Demnig täglich durch Deutschland und Europa. Er verlegt den Großteil der Steine selbst, 2015. Foto: Patrick Helber / Museum Neukölln

Der Mann mit dem Hut Vor über zwanzig Jahren hatte der Kölner Künstler Gunter Demnig die Idee, Gedenksteine vor den Häusern von Menschen zu installieren, die zwischen 1933 und 1945 von den Na­tionalsozialist*innen verfolgt wurden. Seitdem wächst die Zahl der 10 × 10 cm großen Stolpersteine ständig. Insgesamt gibt es über 55 000 Stolpersteine in mehr als 18 Ländern. In Berlin sind es 6 826, im Bezirk Neukölln 195 Stolpersteine. Die ersten beiden Neuköllner Steine wurden 2003 für Dr. Fritz Wolff und Margarete Wolff, die in Auschwitz ermordet wurden, verlegt.

Die Stolpersteine bringen die Geschichte und die Gesichter der NS-Opfer wieder in die Kieze zurück, 2015. Foto: Patrick Helber / Museum Neukölln

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Als ein riesiges dezentrales Mahnmal erinnern Stolpersteine an Jüd*in­ nen, Sint*ezze und Rom*nja, Menschen mit Behinderung, politische Gegner*innen, Widerstandskäm­pfer*in­nen, Homo­sexuelle, Zeug*innen Jehovas und an Menschen, die von den Nazis als „asozial“ stigmatisiert wurden. Die Stolpersteine machen auf Menschen aufmerksam, die von den Nazis ermordet wurden, aber auch auf Menschen, die die Verfolgung überlebten. Jeder Stein symbolisiert die Leerstelle, die entstand, weil ein Mensch gewaltsam aus seiner Lebensumgebung gerissen wurde. „Der Stein schafft einen Ort der Erinnerung, denn fast alle Steine setzte ich ja für Menschen, die keinen Grabstein haben“, so Demnig. Im Gegensatz zu großen Mahnmalen verweisen die Stolpersteine auf die Lebensgeschichten von Verfolgten des Nazi­regimes, die in der Öffentlichkeit meist unbekannt sind. Damit werden diese aus der Ano­nymität herausgehoben und Teil des kollektiven Gedächtnisses.


Stolpersteinverlegungen unterbrechen den Neuköllner Alltag und vereinen Beteiligte und Passanten in einem kurzen Gedenkmoment, so auch in der Herrmannstraße, 2009. Foto: A. Simon

Vom Kunstwerk zum Bürgerprojekt Gunter Demnig verlegte 1996 die ersten Stolpersteine in Kreuzberg – damals noch ohne jegliche mediale Aufmerksamkeit. Die Steine waren Teil einer einmaligen Kunstaktion, die die NS-Vergangenheit im öffentlichen Raum präsent machen sollte. Sie stand in der Tradition der „Gegen-Denkmale“ von Jochen Gerz, Horst Hoheisel und Andreas Knitz.

Schoah-Überlebender Fredi Töpfer aus Berlin trifft Kulturstadtrat Jan-Christopher Rämer, 2015. Foto: Museum Neukölln

Zwanzig Jahre später ist aus den Stolpersteinen ein gigantisches partizipatives Erinne­rungs­projekt geworden. Stolpersteinverlegungen sind heute Gedenkrituale, die täglich in Deutschland stattfinden. Sie werden von Gedenkreden, Konzerten und Performances begleitet, die in den städtischen Alltag intervenieren. Europaweit engagieren sich Tausende von Bürger*innen für das Gedenken an die NS-Opfer in ihren Nachbarschaften. Holocaust-Überle­ ben­de sowie Angehörige und Nachkommen von Ermordeten recherchieren ihre Familiengeschichten und initiieren Steinverle­gun­gen. An­hand persönlicher Schicksale werden die NS-Verbrechen begreifba­ rer. Das Engagement für einen Stolperstein demonstriert individuelle Verantwortung und kann für Menschen, die eine historische Schuld empfinden, entlastend wirken. Die ehrenamtliche Archivarbeit, die mit jedem Stein einhergeht, hat ein umfangreiches Wissen über den Alltag der von den Nationalsozialist*innen verfolgten Menschen hervorgebracht und Tausenden von NS-Opfern wieder ein Gesicht und eine Geschichte gegeben.

Viele Bürger*innen und Organisationen engagieren sich für die Pflege der Stolpersteine, wie hier Wolfgang Lähme, Birgit Lange, Christian Bolz und Achim Berger (v. l.) im Rahmen einer Aktion von ver.di in der Karl-Marx-Straße, 2011. Foto: Museum Neukölln

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Arthur Samuel mit seinen Eltern Amalie und Louis vor ihrem Geschäft in Britz, 1904. Foto: Kurt Samuel / Museum Neukölln

Jüdisches Leben in Rixdorf und Neukölln Im Jahr 1880 lebten in Rixdorf nur 62 Jüd*innen. Mit dem rapiden Wachs­tum der Stadt nahm auch die jüdische Bevölkerung zu. Ende des 19. Jahrhunderts gründete sich der Israe­­litische Brüder-Verein zu Rixdorf und im September 1907 konnte die jüdische Ge­mein­de die Einweihung der ersten Synagoge in der Isarstraße 8 feiern. 1925 lebten bereits 2 832 Jüd*innen im Bezirk. Ganz Berlin hatte zur gleichen Zeit 17 2672 jüdische Ein­woh­ner*innen. Käte Frankenthal, Ärztin (ullstein bild)

Dorothea Althoff, Einzelhändlerin (Hildegard Stern / Museum Neukölln)

Die Neuköllner Jüd*innen engagierten sich in zahlreichen Vereinen und Parteien und Menschen wie Dr. Helene Nathan, die Leiterin der Stadtbücherei, sowie der Bildungsstadtrat Dr. Kurt Löwenstein und der Reformpädagoge Dr. Fritz Karsen übten eine große Wirkung auf das politische, soziale und kulturelle Leben des Bezirks aus.

Hermann Joseph, Kaufhausbesitzer (Museum Neukölln)

Viele Neuköllner Jüd*innen gehörten dem Mittelstand an, darunter Kaufleute und Unter­nehmer*innen. Daneben gab es etliche jüdische Handwerksbetriebe wie Schneidereien, Glasereien und Uhrmacherei­ en. Das jüdische Bildungsbürgertum war durch Rechts­an­wält*in­nen sowie Ärzt*innen und Zahnärzt*innen vertreten.

Helene Nathan, Bibliothekarin (Elsa Schumann / Museum Neukölln)

Bereits um die Jahrhundertwende gab es in Rixdorf antisemitische Propaganda und in der Weimarer Republik kam es zu einzelnen ju­den­ feind­lichen Aktionen in Neukölln. Mit der Machtübernahme der Natio­ nal­sozialist*innen im Januar 1933 wurde der Antisemitismus zur Staats­ ideologie.

Fritz Karsen, Schuldirektor (Gerd Radde / Museum Neukölln)

Erich Mühsam, anarchistischer Schriftsteller

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(Erich-Mühsam-Gesellschaft Lübeck)

Kurt Löwenstein, SPD-Politiker

Georg Kantorowsky, Rabbiner

(Museum Neukölln)

(Eva Angress)


Der Schuhmacher Albert Sonnenberg und seine Frau 1935 vor ihrem Laden in der Wissmannstraße 20. Foto: akg-images

Der Aufstieg des Nationalsozialismus und die Entrechtung der Jüd*innen In der Weimarer Republik hatte Neukölln den Ruf einer linken Hochburg. Das machte den Bezirk zu einem beliebten Aufmarschgebiet der SA-Schlägertrupps. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nazis begann die Ausgrenzung und Verfolgung von politischen Gegner*innen und Menschen, die nicht in das antisemitische, rassistische und homophobe Weltbild der Faschist*innen passten. Bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 erhielt die KPD mit 39,3 Prozent noch die meisten Stimmen in Neukölln. Die NSDAP lag mit 22,1 Pro­zent hinter der SPD mit 26,1 Prozent. Dennoch übernahmen Nationalso­zia­list*innen am 16. März 1933 die Macht im Rathaus Neukölln. Die Herrschaft der Nationalsozialist*innen bedeutete für die knapp 3 000 jüdischen Neu­köllner*innen stets wachsende Einschränkungen im Alltag, die letztendlich zum Verlust ihrer Lebensgrundlage führten. Nach und nach wurden jüdische Arbeitnehmer*innen entlassen und jüdische Geschäfte „arisiert“. Im reichsweiten Pogrom am 9. November 1938 zerstörten Antisemit*innen viele jüdische Geschäf­te und verwüs­teten die Synagoge in der Isarstraße. 1939 wurde die jüdische Gemeinde von den Nazis aufgelöst. Während jüdische Neuköl­lner*in­nen um ihre Existenz fürchteten, profitier­te der Rest der Gesellschaft von den antisemitischen Maß­nah­men und der Entrechtung ihrer Nachbar*innen in Form von frei wer­denden Arbeitsplätzen und „arisierten“ Betrieben, Geschäften und Wohnun­gen.

Der SA-Gruppenführer Karl Ernst schreitet 1931 die Reihen eines SA-Sturms in Neukölln ab. Foto: bpk

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Das zerstörte Schaufenster eines jüdischen Geschäfts nach dem antisemitischen Pogrom vom 9. November 1938. Foto: bpk

Aufmarsch der NSDAP in der Hermannstraße am U-Bahnhof Leinestraße, um 1935. Foto: Museum Neukölln

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Deportierte Jüdinnen beim Verlassen des Zuges im Ghetto Litzmannstadt (heute Łódz´), 1943. Foto: bpk

Enteignung, Deportation und Ermordung der Neuköllner Jüd*innen Durch das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939 sollten Hausgemeinschaften zwischen Jüd*innen und „Arier*innen“ aufgelöst werden. In der Folge mussten viele Berliner Jüd*innen ihr Zuhause verlassen und konnten nur noch in „Judenhäusern“ leben. In den primitiven und beengten Lebensverhältnissen war kein Platz mehr für Privatsphäre. Die Vertreibung aus den eigenen vier Wänden bedeutete den Verlust des familiären Mittelpunkts.

Das Eingangstor des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ist zum Symbol der Schoah geworden. Hier betrieben die Nazis den systematischen Massenmord an 1,1 Millionen Menschen. Eine Million der Ermordeten waren Jüd*innen. Foto: BArch, B 285 Bild-04413 / Stanislaw Mucha, 1945.

Ab 1940 mussten Jüd*innen Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten. Sichtbarstes Zeichen der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Stigmatisierung war der gelbe Stern, den alle Jüd*innen ab dem 19. September 1941 auf der Straße tragen mussten. Vom 10. Oktober 1941 an durften Jüd*innen ihren Wohnsitz nicht mehr ohne Ausnahmegenehmigung verlassen. Nachdem sie all ihrer materiellen Existenz beraubt waren, ging der Staat dazu über, sie physisch auszulöschen. Den Auftakt dazu bildete am 18. Oktober 1941 die erste Deportation von Berliner Jüd*innen in das Ghetto in Łódz´, im heutigen Polen. Unter den Deportierten waren fünf Neuköllner*innen. Bis 1945 wurden Hunderte Neuköllner Familien, Nachbarn und frühere Arbeitskol­leg*in­ nen abgeholt, in Sammellager gebracht, bürokratisch abgefertigt und in den Tod geschickt. Insgesamt wurden über 500 Neuköllner Jüd*innen in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet.

Das Eingangstor des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau ist zum Symbol der Schoah geworden. Hier betrieben die Nazis den systematischen Massenmord an 1,1 Millionen Menschen. Eine Million der Ermordeten waren Jüd*innen. Foto: BArch, B 285 Bild-04413 / Stanislaw Mucha, 1945.

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Ein Streichkonzert bei der Verlegung der Steine für die Familie Freundlich aus der Emser Straße 90, 2015. Foto: Museum Neukölln

Kindheitserinnerungen eines Überlebenden Fredi Töpfer hatte Glück. Der Sohn einer jüdischen Mutter entkam noch rechtzeitig der Deportation im Jahr 1944 und lebt bis heute in Berlin. Als Kind besuchte er gern seine Großeltern Adolf und Klara Freundlich und seine Onkel Erwin und Louis in der Emser Straße 90. Gemeinsam fuhren sie auf dem Pferdewagen durch Neukölln und beobachteten Flugzeuge beim Landeanflug auf den Flughafen Tempelhof.

Erwin und Klara Freundlich (sitzend 1. und 2. von rechts), Louis und Erwin Freundlich (kniend 1. und 3. von links), o. J. Foto: Heiko Freundlich

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Seine Verwandten überlebten die Schoah nicht. Adolf und Louis Freund­ lich wurden 1942 und 1943 deportiert. Klara Freundlich wusste: Depor­ tation bedeutet den Tod. Als sie einen Deportationsbescheid erhielt, sagte sie, sie werde ihre Wohnung nicht lebend verlassen. Daraufhin wurde sie von ihrer Nachbarin Lucie Friedrich bei der Polizei denunziert, diese befürchtete einen Suizid durch eine Gasexplosion. Die Polizei verschleppte daraufhin Klara Freundlich nach Theresien­stadt, von wo aus sie 1944 nach Ausschwitz deportiert und ermordet wurde. Der zweite Sohn Erwin konnte fliehen und tauchte unter. Er kam bei einem Bombenangriff auf Berlin im Februar 1945 ums Leben. Nach intensiver Recherche seiner Familiengeschichte organisierte Fredi Töpfer die Verlegung der vier Steine am 25. September 2015. Für die Gedenkfeier reisten seine Familienangehörigen aus Israel an. Seine Cousine Judith Shugger sang ein Lied und der Rabbiner Yaacov Zinvirt sprach das jüdische Totengebet, das Kaddisch.


Kinder aus dem Nachbarschaftsheim bei der Stolpersteinverlegung in der Schierker Straße 5, 2009. Foto: A. Simon

Die Zwillinge aus der Nachbarschaft Das Schicksal der Zwillinge Hanna und Ruth war der Auslöser für eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen des Nachbarschaftsheims in der Schierker Straße, sich mit der Geschichte der Familie Zadek auseinanderzusetzen. Sie beschlossen, Stolpersteine für die Familie zu spenden. Bei der Verlegung der Gedenksteine am 14. November 2009 sagten sie: „Die Töchter der Familie Zadek hätten vielleicht auch im Nachbi gespielt, wenn es das damals schon gegeben hätte.“ Hanna und Ruth waren 1933 mit ihren Eltern Hulda und Siegfried Zadek von Hannover aus in eine Neubauwohnung in der Schierker Straße 5, unweit des Körnerparks, gezogen. Ihre Eltern verdienten ihren Lebensunterhalt in der Kleiderbranche. Die antisemitische Politik der Nazis durchkreuzte jedoch ihre Pläne. Das jüdische Unternehmen, für das Siegfried Zadek arbeitete, wurde liquidiert und er verlor seine Anstellung. Der Traum vom Medizinstudium blieb den Töchtern Hanna und Ruth dadurch verwehrt.

Ruth und Hanna Zadek, o. J. Foto: Privat

Im Mai 1941 versuchte die Familie, in die USA zu Verwandten auszureisen. Das Schiff von Lissabon nach New York erreichte die Familie jedoch trotz erworbener Fahrkarten nie. Visaprobleme zerstörten ihre Pläne. Am 2. April 1942 wurden die 19-jährigen Zwillinge mit ihren Eltern ins Warschauer Ghetto deportiert, wo alle vier umkamen. Der Deportation vorausgegangen waren zahlreiche Denunziationen und Schikanen von Neuköllner Nachbar*innen, die die Familie unter anderem bezichtigten, die Niederlagen der Wehrmacht in der Sowjet­ union mit lauter Musik zu feiern. 9


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Friedrich Abt, Karl-Marx-Str. 55 Alice Abt-Marcus (geb. Lasker), Karl-Marx-Str. 55 Rachel Adler (geb. Kronthal), Friedelstraße 47 Simon Adler, Friedelstraße 47 Heinrich Adler, Friedelstraße 47 Max Adler, Sanderstraße 20 Martin T.E. Alexander, Pflügerstraße 1 Karl Althof, Hermannstraße 123 Dorothea Althof (geb. Schnell), Hermannstraße 123 Arno Aron Althof, Hermannstraße 123 Cäcilie Ascher (geb. Lebrecht), Sanderstraße 14 Oscar Ascher, Sanderstraße 14 Lisette Ascher (geb. Baer), Jonasstraße 66 Karoline Basch (geb. Schütz), Richardstraße 86 Josef Basch, Richardstraße 86 Olga Benario-Prestes, Innstraße 24 Röschen Berliner (geb. Feldmann), Finowstraße 27 Bertha Bikales (geb. Bander), Oderstraße 50 Salomon Bikales, Oderstraße 50 Vera Ernestine Birkenfeld, Wildenbruchplatz 10 Fritz Bischoff, Weisestraße 9 Georg Boas, Hermannstraße 48 Jenny / Jette Boas (geb. Holländer), Hermannstraße 48 Rosalie Rahel Brühl (geb. Freitag), Biebricher Straße 6 Leo Cohn, Juliusstraße 39 Elise Cohn (geb. Deiler), Karl-Marx-Str. 16 Hedwig Croner (geb. Salomon), Lenaustraße 21 Simon Deutschkron, Flughafenstraße 24 Sara Deutschkron (geb. Lewin), Flughafenstraße 24 Johannes Dombrowski, Mareschstraße 14 Felicia Drucker, Donaustraße 11 Georg Isidor, Drucker, Herrfurthstraße 27 Rosalie Drucker (geb. Wreschner), Flughafenstraße 41 Arthur Drucker, Flughafenstraße 41 Jenny Dublin, Karl-Marx-Str. 212 Bertha Ebstein (geb. Skaller), Weichselstraße 28 Curt Ebstein, Weichselstraße 28 Erna Ebstein (geb. Großmann), Weichselstraße 28 Ilse Ebstein, Weichselstraße 28 Max Ebstein, Weichselstraße 28 Ruth Ebstein, Weichselstraße 28 Max Fischel, Hobrechtstraße 57 Adolf Freundlich, Emser Straße 90 Klara Freundlich (geb. Hettmann), Emser Straße 90 Louis Freundlich, Emser Straße 90 Erwin Freundlich, Emser Straße 90 Paul Wilhelm Fürst, Bruno-Bauer-Straße 17 Kurt Gärtner, Gretelstraße 10 Alice Geusch (geb. Davidsohn), Geygerstraße 15 Lucie Glassmann, Biebricher Straße 6 Daniel Glassmann, Biebricher Straße 6 Rudi Goldschmidt, Karl-Marx-Str. 16 Flora Goldstein (geb. Brotzen), Maybachufer 8 Markus Goldstein, Maybachufer 8 Herbert Gotthilf, Fuldastraße 42 Else Grand, Rungiusstraße 33 Johanna Grand, Rungiusstraße 33 Helene Haase (geb. Schwarzbach), Karl-Marx-Str. 100 Josef Haase, Karl-Marx-Str. 100 Margarete Haase (geb. Heynemann), Karl-Marx-Str. 100 Luise Hartnack (geb. Bürkle), Lenaustraße 6 Arthur Hecht, Steinbockstraße 23 Lucie Tana Hecht (geb. Kayser), Steinbockstraße 23 Ernst Heilfron, Friedelstraße 49 Gertrud Heilfron (geb. Mendelsohn), Friedelstraße 49 Susanne Heilfron, Friedelstraße 49 Ingeborg Heilfron, Friedelstraße 49 Reinhold Hermann, Weserstraße 54 Hedwig Heymans, Geygerstraße 8 Hildegard Hillel (geb. Hohenstein), Hobrechtstraße 57 Arthur Hillel, Hobrechtstraße 57 Siegbert Hirschberg, Karl-Marx-Str. 212 Regina Hirschberg (geb. Heppner), Karl-Marx-Str. 212 Betty Itzig, Karl-Marx-Str. 55 Felicia Itzig (geb. Haase), Karl-Marx-Str. 55 Samuel Itzig, Karl-Marx-Str. 55 Klara Jacob (geb. Schultze), Silbersteinstraße 97 Johanna Jacobowitz (geb. Wittner), Anzengruberstraße 10 Salo Jacobowitz, Anzengruberstraße 10

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Kurt Jacobowitz, Anzengruberstraße 10 Ida Jacobowitz (geb. Simberg), Anzengruberstraße 10 Eveline Jacobowitz, Anzengruberstraße 10 Else Jolles (geb. Adler), Sanderstraße 20 Gerhard Jolles, Sanderstraße 20 Thekla Kallmann (geb. Goldschmidt), Karl-Marx-Str. 16 Fanny Kamann (geb. Ehrlich), Karl-Marx-Str. 16 Hans Erich Kantorowsky, Sonnenallee 68 Hugo Kapteina, Weserstraße 54 Frieda Karger (geb. Wurzel), Hermannstraße 48 Martin Karger, Hermannstraße 48 Frieda Kayser (geb. Tarnowski), Hermannstraße 48 Samuel Kayser, Hermannstraße 48 Willy Kolbe, Sonnenallee 137 Flora Krieg (geb. Dreifuss), Hobrechtstraße 57 Leonhard Krieg, Hobrechtstraße 57 Stanislaw Kubicki, Onkel-Bräsig-Straße 46 Horst Werner Kuss, Richardstraße 49 Hedwig Lasker (geb. Grünewald), Karl-Marx-Str. 55 Max Lasker, Karl-Marx-Str. 55 Ruth Lazarus (geb. Ascher), Sanderstraße 14 Alfred Lazarus, Sanderstraße 14 Dorothea Ledermann (geb. Lindemann), Karl-Marx-Str. 43 Martin Ledermann, Karl-Marx-Str. 43 Selma Lewin (geb. Meyer), Oderstraße 52 Elisabeth Lewin (geb. Glassmann), Karl-Marx-Str.76 Julius Lewin, Karl-Marx-Str.76 Ernst Lewinsohn (Lee), Wissmannstraße 12 Willi Leyser, Karl-Marx-Str. 58 Georg Lichtenstein, Maybachufer 8 Fanny Lindemann (geb. Abrahamsohn), Karl-Marx-Str. 69 Siegfried Lindemann, Karl-Marx-Str. 69 Else Linke (geb. Krüger), Böhmische Straße 28 a Emil Linke, Böhmische Straße 28 a Martin Linke, Böhmische Straße 28 a Johanna Linke, Böhmische Straße 28 a Wolfgang Linke ,Böhmische Straße 28 a Regina Löder (geb. Löwenstein), Donaustraße 115 Leonhard Loewenthal, Stuttgarter Straße 53 Auguste Loewenthal (geb. Zipprich), Stuttgarter Straße 53 Gertrud Löwenstein, Karl-Marx-Str. 16 Frieda Löwenthal (geb. Henoch), Karl-Marx-Str.76 Jacob Löwenthal, Karl-Marx-Str.76 Gertrud Mandel (geb. Wolff), Karl-Marx-Str. 56 Max Mandel, Karl-Marx-Str. 5 Flora Mandelstamm (geb. Sonnabend), Donaustraße 11 Ralph Egon Marcus, Karl-Marx-Str. 55 Manfred Mendelsohn, Donaustraße 18 Max Meth, Oderstraße 52 Martha Meth (geb. Lewin), Oderstraße 52 Erna Meyer (geb. Lewin), Lichtenrader Straße 55 Ursula Meyer, Lichtenrader Straße 55 Lucie Meyer, Maybachufer 8 Rosa Meyer (geb. Freud), Maybachufer 8 Selma Meyer (geb. Gerson), Maybachufer 8 Rosa Morel (geb. Neumann), Hasenheide 68 Edith Neumann, Karl-Marx-Str. 169 Hermann Neumann, Karl-Marx-Str. 169 Viktoria Neumann (geb. Sabatier), Karl-Marx-Str. 169 Georg Obst, Gielower Straße 28b Käte F. Pestachowski, Hobrechtstraße 57 Rudolf Peter, Gielower Straße 32c Carl Pohle, Silbersteinstraße 114 Sofie Potzernheim, Karl-Marx-Str. 93 Heinrich Putziger, Sanderstraße 20 Elias Radsanowicz, Nansenstraße 18 Walter Radüe, Lenaustraße 21 Margarete Rauchbach (geb. Lewin), Lichtenrader Straße 55 Klara Raucher, Hermannstraße 46 Betty Reichl, Lenaustraße 21 Gertrud Rosenblatt (geb. Reissmann), Karl-Marx-Str. 212 Margot Schaefer (geb. Berger), Juliusstraße 39 Richard Schaefer, Juliusstraße 39 Kurt Max Schaefer, Juliusstraße 39 Ella Schäffer (geb. Schreyer), Hobrechtstraße 57

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155 Johanna Schäffer, Hobrechtstraße 57 156 Irene Schiftan, Hobrechtstraße 57 157 Marie Schlesinger (geb. Schweitzer), Hobrechtstraße 57 158 Meta Schlesinger (geb. Adam), Karl-Marx-Str. 118 159 Dagobert Schlesinger, Weichselstraße 52 160 Erna Schlesinger (geb. Apolant), Weichselstraße 52 161 Gertrud Seele, Parchimer Allee 75 162 John Sieg, Jonasstraße 5 163 Ella Simon (geb. Deutschkron), Flughafenstraße 24 164 Senni (Jenny) Singer (geb. Feldmann), Finowstraße 27 165 Franziska Smolen (geb. Kohn), Warthestraße 69 166 David Spott, Karl-Marx-Str. 36 167 Gertrud Tikotin (geb. Samuel), Sanderstraße 28 168 Karl Tybussek, Jahnstraße 12 169 Heinrich Uetzfeld, Parchimer Allee 7 170 Erwin Volkmar, Jonasstraße 171 Hans-Georg Vötter, Onkel-Bräsig-Straße 111 172 Margarete Walter, Fuldastraße 12 173 Georg Weigert, Weichselstraße 28 174 Isidor Weissbart, Karl-Marx-Str. 118 175 Karoline Weissbart (geb. Mayer), Karl-Marx-Str. 118 176 Deborah Wiener (geb. Heymans), Geygerstraße 8 177 Edith Wiener, Geygerstraße 8 178 Pauline Wiener (geb. Cohn), Herrfurthstraße 5 179 Arthur Wiener, Herrfurthstraße 5 180 Benno Wittenberg, Buschkrugallee 21–23 181 Hedwig Wittenberg (geb. Wasserzug), Buschkrugallee 21–23 182 Erwin Wittenberg, Buschkrugallee 21–23 183 Siegfried Wittenberg, Buschkrugallee 21–23 184 Hedwig Wittkowski, Hobrechtstraße 57 185 Ernst Wolf, Karl-Marx-Str. 175 186 Hermann Wolf, Karl-Marx-Str. 175 187 Paul Wolf, Karl-Marx-Str. 175 188 Fritz Wolff, Jonasstraße 4 189 Margarete Wolff (geb. Markwald), Jonasstraße 4 190 Hulda Zadek (geb. Adelsheimer), Schierker Straße 5 191 Hanna Zadek, Schierker Straße 5 192 Ruth Zadek, Schierker Straße 5 193 Siegfried Zadek, Schierker Straße 5 194 Klara Zimmer (geb. Bettmann), Karl-Marx-Str. 26 195 Arthur Zwirn, Karl-Marx-Str. 112


Schüler*innen des Ernst-Abbe-Gymnasiums mit Lee Angress und ihrem Lehrer Jan Ebert (links), 2014. Foto: Stephanus Parmann

Der Sohn des Rabbiners von Neukölln Den Stolperstein für Hans Kantorowsky in der Sonnenallee 68 haben die Schüler*innen des Ernst-Abbe-Gymnasiums zusammen mit ihrem Lehrer Jan Ebert initiiert. Die Jugendlichen wurden motiviert, weil sowohl Hans als auch seine Schwester Eva die Schule an der heutigen Sonnenallee besucht hatten und ihr Vater, Dr. Georg Kantorowsky, an der ehemaligen Karl-Marx-Schule jüdischen Religionsunterricht gegeben hatte. Eva verließ die Schule, nachdem dort 1935 antisemitische Hetzartikel aus dem Stürmer aufgetaucht waren.

Rabbiner Georg Kantorowsky (mit Zigarre) und Frieda Kantorowsky geb. Schönfeld (hintere Reihe, 3. v. l.) mit Freund*innen; darunter Hedwig Schmalz (mit Kind), Wilhelm Schmalz (vorne rechts). Foto: Eva Angress / Museum Neukölln

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Nach der Machtübernahme durch die Nazis 1933 floh der 20-jäh­­­rige Kommunist Hans Kantorowsky nach Prag. Nachdem die Nazis 1938 das Sudetenland besetzt hatten, kehrte er nach Deutschland zurück, wurde aufgegriffen und zu Zwangsarbeit verurteilt. Später wurde er verhaftet und im April 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet. Dr. Georg Kantorowsky, seine Frau Frieda und ihre Tochter Eva konnten noch rechtzeitig am 22. Oktober 1940 aus Deutschland nach Shanghai fliehen. Durch die Verbindung zwischen dem Schicksal der Familie Kantorowsky, ihrem Schulalltag und der direkten Nachbarschaft im Kiez lernten die Schüler*innen die Geschichte der NS-Opfer aus einer sehr persönlichen Perspektive kennen. Die Ermordung des jungen Mannes machte sie sehr betroffen und sie freuten sich, dass Lee Angress, die Nichte von Hans Kantorowsky, für die Verlegung aus San Francisco nach Neukölln angereist kam.


Gunter Demnig auf dem Weg zur Stolpersteinverlegung von Olga Benario-Prestes, 10.12.2007. Foto: A. Simon

Die Zwillinge aus der Nachbarschaft In Brasilien ist Olga Benario-Prestes dank eines Films berühmt, in Neukölln kennt sie dagegen kaum jemand. In der Richardstraße 104 ist jedoch eine Galerie nach ihr benannt. Die Unterstützer*innen der Galerie ließen in der Innstraße 24 einen Stolperstein für Olga Benario verlegen. Hier wohnte die jüdische Anwaltstochter aus München als 16-Jährige. In Neukölln war Olga Benario im Kommunistischen Jugendverband aktiv. Im April 1928 gelang ihr die spektakuläre Befreiung ihres Lebensgefährten, des Kommunisten Otto Braun aus dem Gefängnis in Moabit. Gemeinsam flohen sie nach Moskau. Im Jahr 1935 war Benario mit dem Revolutionär und ihrem späteren Ehemann Luís Prestes am Kampf gegen den brasilianischen Diktator Getúlio Vargas beteiligt. Im Anschluss an einen gescheiterten Putsch wurde Olga Benario-Prestes verhaftet und im siebten Monat schwanger an Nazi-Deutschland ausgeliefert. Nach der Inhaftierung im Frauengefängnis Barnimstraße, wo ihre Tochter Anita zur Welt kam, deportierten sie die Nationalso­zia­list*innen ins KZ Ravensbrück. Am 23. April 1942 wurde sie in der Tötungsanstalt Bernburg durch Gas ermordet. Auch ihr Bruder Otto und ihre Mutter Eugenie wurden in der Schoah getötet. Ihre Tochter überlebte den Holocaust und reiste zur Einweihungsfeier des Stolpersteins und 100. Geburtstag ihrer Mutter am 12. Februar 2008 aus Brasilien an.

Olga Benario-Prestes Foto: BArch, BildY 10-568-73

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Heute zeugt nur noch eine Lücke neben der Dar Assalam Moschee vom Haus in der Flughafenstraße 41. Foto: A. Simon

Geboren, wo einst eine jüdische Familie wohnte Helmut Kliefoth, der die Stolpersteine für Rosalie und Arthur Drucker gespendet hat, hat eine besondere Beziehung zu den beiden jüdi­schen Bürger*innen aus der Flughafenstraße 41. Er kam am 21. Oktober 1942 in ihrer Wohnung zur Welt und lebte dort bis 1967. Die Wohnung hatten seine Eltern erhalten, nachdem sie aufgrund des gigantomani­ schen NS-Bauprojekts „Germania“ aus Schöneberg wegziehen mussten. Zuvor waren Rosalie und Arthur Drucker gezwungen worden, ihr Zuhause in der Flughafenstraße zu verlassen und in eine „Juden­woh­ nung“ in der Schöneberger Naumannstraße 48 umzuziehen. Mit ihrer siebenköpfigen Familie waren Rosalie und Heimann Drucker nach dem Ersten Weltkrieg aus Obornik im Kreis Posen nach Berlin gezogen. Heimann Drucker verstarb 1935 in hohem Alter. Während die anderen Kinder bereits ausgezogen waren, lebte in der NS-Zeit der jüngste Sohn Arthur noch bei seiner Mutter in der Flughafenstraße. Das war ihr letzter selbstgewählter Wohnort. Am 4. März 1943 wurden beide aus Berlin nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Der Holocaust als mörderischer Verwaltungsakt wird anhand der letzten Inventarliste von Rosalie Drucker aus dem sogenannten Judenhaus deutlich. Foto: BLHA, Rep. 36 Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg (II) Nr. 7567

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Nachdem Helmut Kliefoth vom Schicksal der Familie Drucker erfahren hatte, begann er, ihre Geschichte zu erforschen und die Verlegung der Stolpersteine zu organisieren. Das Haus in der Flughafenstraße 41 ist inzwischen abgerissen. Von der Existenz der Familie Drucker zeugt nur noch eine Inventarliste, die Rosalie vor ihrer Deportation anfertigen musste.


Bei der Verlegung in der Finowstraße hält Imam Mohamed Taha Sabri eine Ansprache. Rechts von ihm der SPD-Bundestagsabgeordnete Fritz Felgentreu, Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey und Museumsleiter Udo Gößwald, 27.3.2015. Foto: Patrick Helber / Museum Neukölln

Ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus Die Polizeidirektion 5, zuständig für Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg, erhielt 2012 einen Preis des Innenministeriums für ihre Zusammenarbeit mit Migrantenvereinen in der Islamismusprävention. Die Verantwortlichen beschlossen, einen Teil des Preisgelds für die Verlegung von Stolpersteinen in der Finowstraße 27, dem heutigen Standort des Islami­schen Kultur- und Erziehungszentrums, zu spenden. Diese beiden Steine erinnern an den letzten selbstgewählten Wohnort der Schwestern Senni Jenny Singer und Röschen Berliner. Als sie in der Finowstraße lebten, waren beide verwitwet und wurden zunächst in das jüdische Altersheim in der Schönhauser Allee 22 in Prenzlauer Berg gebracht. Von dort verschleppten die Nazis sie am 17. August 1942 im Alter von 75 und 77 Jahren mit 133 anderen Bewohner*innen in das Ghetto Theresienstadt. Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft im Ghetto waren Senni und Röschen tot. Am 27. März 2015 ließ Gunter Demnig in Anwesenheit zahlreicher Interessierter und der Bezirksbürgermeisterin Dr. Franziska Giffey die Stolpersteine für die beiden Neuköll­ner*innen in den Gehweg ein. An der Verlegung nahmen Vertreter*innen der muslimi­schen, christli­chen und jüdischen Gemeinden teil. Damit sollte ein deutliches inter­kul­tu­ rel­les Zeichen gegen Antisemitismus gesetzt werden.

Die Steine in der Finowstraße 27 wurden von der Polizei initiiert und gespendet (v. l. Polizeidirektor Thomas Böttcher und Polizeihauptkommissar Christian Horn). Foto: Patrick Helber / Museum Neukölln

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Angehörige und Beteiligte nach der Stolpersteinverlegung in der Dar Assalam Moschee in der Flughafenstraße (v. l. n. r.: James Terner, Justin Saphirstein, Volker Banasiak, Museumsleiter Udo Gößwald, Imam Mohamed Taha Sabri, Pastoralreferentin Lissy Eichert, Keri Saphirstein und Polizeihauptkommissar Christian Horn). Foto: Stephanus Parmann

Nach der Stolpersteinverlegung in die Moschee Drei weitere Stolpersteine wurden am 27. März 2015 auf Initiative der Polizeidirektion 5 in der Flughafenstraße 24 verlegt. Sie erinnern an Sara und Simon Deutschkron sowie an ihre Tochter Ella. Da die Na­tio­ nalsozialist*innen den jüdischen Neuköllner*innen Stück für Stück die Lebens­grundlage entzogen, musste die Familie 1941 ihr Haus in der Flughafenstraße verkaufen und in eine Wohnung in den Bezirk Tiergarten umziehen.

Gruppenbild in einem Berliner Park (sitzend Dritte und Vierter v. l. Sara und Simon Deutschkron). Foto: United States Holocaust-Memorial Museum #45952

Am 10. September 1942 wurden Sara und Simon Deutschkron von dort nach Theresienstadt verschleppt und ermordet. Eine weitere Tochter Frieda und deren Ehemann Werner Cohen starben im Vernichtungslager Treblinka. Nur deren Kinder Steffi und Ruth überlebten die Schoah dank eines Kindertransports nach England. Ella Simon, geb. Deutschkron, wurde ein halbes Jahr nach ihren Eltern nach Theresienstadt deportiert. Nachdem sie Theresien­stadt und Auschwitz überlebt hatte, ermordeten sie die Nazis im KZ Stutthof. Nur Ellas Tochter Ursel überlebte. Zur Verlegung waren Ruths Sohn James Terner und ihre Enkel*innen Justin und Keri Saphirstein aus New York angereist. Nach einer Gedenkrede der Pas­to­­ral­referentin Lissy Eichert von der Kirchengemeinde St. Christophorus lud der Imam Mohamed Taha Sabri die Beteiligten zu Tee und Gebäck in die benachbarte Dar Assalam Moschee ein.

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Stolpersteinverlegung vor dem heutigen Gelände der Richard-Grundschule in der Richardstraße 49, 14.11.2009. Foto: A. Simon

Im Tod wiedervereint Die Verlegung des Stolpersteins für seinen Onkel Horst Kuss war für Joachim Kuss die Erfüllung eines Versprechens gegenüber der eigenen Familie. Um diese symbolisch zu vereinen, füllte er in das für den Stein ausgehobene Loch Erde vom Friedhof Meseritz-Obrawalde und von den Gräbern von Horsts Eltern. Der Stein in der Richardstraße 49 ist ihm ein großes Anliegen. Mehrmals im Jahr kommt er an den Gedenk­ ort, um diesen zu reinigen oder Blumen abzulegen. Gern erzählt er Schüler*innen der benachbarten Schule vom traurigen Schicksal seines Onkels, den er nie kennenlernen konnte. Bereits als 12-jähriger Junge wurde Horst 1944 in der Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde vom dortigen medizinischen Personal ermordet. Vorausgegangen waren zahlreiche Aufenthalte in Nervenkliniken, in die er wegen eines frühkindlichen Hirnschadens gebracht wurde. Da die Nazis sein Leben als wertlos erachteten, fiel er der „Aktion T4“, der systematischen Ermordung von Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen, zum Opfer. Horsts Mutter Helene wurde über das schreckliche Schicksal ihres Sohnes im Unklaren belassen. Man verweigerte ihr Besuche beim Kind und verzichtete auf eine Übergabe der Leiche nach der Ermor­dung.

Horst Werner Kurt Kuss, o. J. Foto: Joachim Kuss

Joachim Kuss füllt Erde aus Meseritz-Obrawalde und von den Gräbern von Horsts Eltern in die Lücke für den Stein, 2009. Foto: A. Simon

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Gedenken an Georg Obst in der Hufeisensiedlung, 2016. Foto: Patrick Helber / Museum Neukölln

Ein Britzer Sozialdemokrat Den Stolperstein für Georg Obst hat die Initiative „Hufeisern gegen Rechts“ gespendet. Sie engagiert sich gegen Neonazis in der Hufeisensiedlung und gedenkt regelmäßig der Britzer NS-Opfer. Zur Verlegung organisierte sie ein Akkordeonkonzert von Isabel Neuenfeldt und eine Gedenkveranstaltung in der Infostation der Hufeisensiedlung. Die Recherche hat der pensionierte Standesbeamte Achim Berger übernommen.

Elisabeth und Georg Obst in der Hufeisensiedlung, 1932. Foto: Bernd Obst

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Georg Obst lebte mit seiner Frau Elisabeth in der Gielower Straße 28 b. Nach dem Verbot der SPD engagierte sich Obst illegal im Untergrund, verteilte Schriften und half untergetauchten Genoss*innen. Am 7. Februar 1934 verhaftete ihn die Gestapo und warf ihm vor, an einem „hochverräterischen Unternehmen“ beteiligt zu sein. Die Beamten brachten ihn in die Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße 8, wo sie ihn verhörten und folterten. Ein Mitinhaftierter erzählte später, Georg Obst habe gesagt, er halte weitere Torturen nicht mehr aus. Am 8. Februar stürzte er aus dem Fenster des dritten Stocks des Gebäudes. Dabei zog er sich schwere Verletzungen zu und starb noch am selben Tag im Staatskrankenhaus in der Scharnhorststraße. Seine Frau stellte bei der Identifizierung der Leiche die Spuren der Folter fest. Die genauen Todesumstände sind bis heute ungeklärt. Wenig später verließ Elisabeth Obst mit dem gemeinsamen Sohn Bernd Berlin und zog nach Dortmund. Dort erfolgte auch die Beisetzung von Georg Obsts Urne.


Vorbereitungen für die Stolpersteinverlegung in der Hobrechtstraße 57 am 14.11.2009. Foto: A. Simon

Basisdemokratische Erinnerungskultur Trotz ihres rituellen Ablaufs wohnt jeder einzelnen Stolpersteinverlegung ein kreatives individuelles Moment inne. Im Gegensatz zu einer institutionalisierten und von oben verordneten Gedenkkultur stehen die Stolpersteine für ein selbstverwaltetes basisdemokratisches Gedenken, das die Spender*innen selbst gestalten, unabhängig ob Angehö­ rige oder engagierte Bürger*innen. Dabei dominiert der offene Werkstattcharakter jeder einzelnen Verlegung. Der Stein beendet nicht nur die Anonymität und die Unsichtbarkeit der Millionen von NS-Opfern. Er ist auch das Zentrum eines Zusammentreffens unterschiedlicher kommunaler Akteur*innen. Die Verlegungszeremonien unterbrechen den Alltag und vereinen Menschen, die teils nur zufällig vor Ort sind, in einem Dialog, in dem sie sich der Verbrechen und der Opfer des Nationalsozialismus besinnen. Tausende von Stolpersteinen machen insbesondere durch ihren hohen Wiedererkennungseffekt im Straßenbild täglich auf die persönlichen Schicksale von NS-Opfern aufmerksam. Gemeinsam formen sie die von Joseph Beuys beschriebene „soziale Skulptur“ – ein Kunstwerk, das durch die Partizipation vieler einzelner Individuen zum Wohl einer Gesellschaft beiträgt. Dieses basiert darauf, sich der Verantwortung aus den NS-Verbrechen zu stellen und zugleich in der Gegenwart Antisemitismus, Rassismus und Homophobie zu bekämpfen.

Bernd Obst (links) im Gespräch mit Kulturstadtrat Jan-Christopher Rämer, 2016. Foto: Patrick Helber / Museum Neukölln

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Zuschauer*innen bei der Verlegung in der Flug­hafenstraße (1. v. r. Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey neben Keri Saphirstein). Foto: Stephanus Parmann

Impressum: Verantwortlich: Dr. Udo Gößwald Konzept, Recherche und Text: Dr. Patrick Helber Mitarbeit: Verena Bartsch Redaktion: Julia Dilger, Dr. Udo Gößwald Gestaltung: Claudia Bachmann Wir bedanken uns bei den Unterstützer*innen: akg-images Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz Bundesarchiv Brandenburgisches Landeshauptarchiv Erich-Mühsam-Gesellschaft Lübeck State Library of Queensland ullstein bild United States Holocaust-Memorial Museum und ganz besonders bei: Achim Berger, Heiko Freundlich, Christian Horn, Helmut Kliefoth, Bernd Obst, Nancy Kovach, Joachim Kuss, Stephanus Parmann, A. Simon, Fredi Töpfer, Hanna Zadek

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Bezirksamt Neukölln von Berlin, Abt. Bildung, Schule, Kultur und Sport Amt für Weiterbildung und Kultur Fachbereich Kultur / Museum Neukölln

Museum Neukölln Alt-Britz 81 · 12040 Berlin Tel. 0 30 / 6 27 27 77 27 · info@museum-neukoelln.de www.museum-neukoelln.de


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