Meeresleuchten

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23. Dezember Liebe Judith, wenn ich an morgen denke, wird mir übel. Dirk muss arbeiten und hat beschlossen, bereits heute schlechte Laune zu verbreiten. Wie soll das erst morgen werden? Wären die Kinder nicht, ließe ich das Fest komplett ausfallen. Mir ist eh nicht besonders weihnachtlich zumute. Ach, Judith, Abend für Abend fällt mir das Einschlafen schwerer. Kaum lösche ich das Licht, kommen sie heran gekrochen, die Dämonen meiner Vergangenheit, flüstern mir ins Ohr, wispern ihre Fragen, die ich mir bereits selber stellte, und raunen genau die 3


Antworten, die ich ebenfalls fand. Doch ich will sie nicht hören. Es ist unerträglich, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Denn was das hieße, weißt du selber am besten. Ich überlege, mir Schlaftabletten zu besorgen, damit ich Ruhe habe, damit ich schlafe, ehe sie mich erreichen können. Doch du weißt, wie ungern ich Medikamente nehme. Und jeden Abend Wein trinken, um die nötige Bettschwere zu erreichen? Damit wäre ich nicht besser als Dirk – wenn auch aus anderen Gründen. Aber ich kann bald nicht mehr, denn es werden immer mehr. Oft steh ich dann wieder auf und setze mich ins Wohnzimmer, ohne Licht zu machen, und nehme mir Tims MP3-Player. Die Musik schafft es nämlich, sie zu 4


übertönen. Und du weißt, wie wichtig mir Musik ist. Leider schaffe ich es immer wieder, die falschen Lieder zu hören. Die übertönen zwar meine Dämonen, aber meine Gedanken kommen dadurch erst richtig in Schwung. Und sagen mir letztendlich dasselbe. Warum bin ich überhaupt noch mit ihm zusammen? Wir teilen nicht dieselben Träume, haben kaum gemeinsame Interessen und miteinander reden? Schon lange nicht mehr. Ohne ihn wäre vieles leichter, denn dann müsste ich seine Probleme nicht auch noch lösen. Mit meinen habe ich schließlich ausreichend zu tun. Obwohl – ohne ihn wären auch die bedeutend weniger. Und doch scheue ich vor diesem letzten Schritt zurück. Vermutlich bin ich 5


einfach feige. Oder dumm. Oder beides. Ach, ich weiß es doch auch nicht. Glaubst du, dass ich vielleicht einfach nur ungerecht bin? Dass ich Dirk für all die Dinge verantwortlich mache, die ich in der Vergangenheit verbockt habe? Dass er dafür büßen muss, dass sich meine Träume nicht erfüllten? Kann es sein, dass ich einfach lernen muss, mit ihm zu leben? Ich habe ihn mir schließlich ausgesucht, ihn geheiratet – auch wenn ich momentan gar nicht mehr weiß warum. Vielleicht grüble ich auch einfach nur zu viel. Der Fluch des Denkens. Einfach Augen zu und durch. Und den Weg weiter gehen, den man eingeschlagen hat. "Ich kann mich drehen und wenden, irgendwie geht es immer in die gleiche Richtung", sagte das Blatt, das auf dem 6


Fluss trieb. Das hat mir mal ein Freund gesagt. Warum also sträuben? Einfach treiben lassen – irgendwann wird man schon irgendwo ankommen. Wenn da nicht diese blöde Sehnsucht wäre … *seufz* Wie gern wäre ich jetzt bei euch, doch leider geht es nur in Gedanken. Ich wünsche euch ein wunderbares Weihnachtsfest, mögen all eure Wünsche, Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte sich erfüllen. Wenn es meine schon nicht tun … Liebe Grüße Sonja

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03. Januar Liebe Judith, du glaubst es nicht! Wir fahren in Urlaub, ganz kurzfristig. Auf die Insel Juist. Eigentlich ist es kein Grund zur Freude, denn das ist nur möglich, weil bei meiner Mama während einer Routineuntersuchung eine Riesenzyste im Bauchraum gefunden wurde. Sie muss also ins Krankenhaus, Papa bleibt natürlich bei ihr, und damit die Reise nicht verfällt, haben sie sie Dirk und mir geschenkt. Und meine Freundin nimmt die Kinder. Natürlich mache ich mir Sorgen um Mama, aber du kennst mich ja, ich bin 8


eine heillose Optimistin – und überzeugt davon, dass es gut gehen wird. Aber dieser Urlaub, diese eine Woche am Meer. Nur Dirk und ich. Vielleicht ist das die Gelegenheit für uns, wieder zusammen zu finden. Obwohl – waren wir denn wirklich schon mal eine Einheit? Nun, dann sollte es eventuell möglich sein, jetzt eine zu werden. Ich werde mir auf jeden Fall Mühe geben. Versprochen. Und jetzt hab' ich Koffer zu packen, denn es geht morgen schon los. Herrje, ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht … *lach* Ich melde mich wieder, sobald ich kann. Liebe Grüße Sonja 9


05. Januar Liebe Judith, die Insel ist ein Traum! Keine Autos. Vom Hafen aus kannst du den Pferdebus nehmen. Was wir natürlich auch taten. War das klasse!!! Dirk war zwar nicht so begeistert, hat sich aber tatsächlich zurückgehalten. Ein Omen? Vielleicht wird doch alles gut. Unser Zimmer ist klein aber fein, die Pensionswirte superliebe Leute. Und weißt du was? Unser Zimmer liegt unter dem Dach, hat also schräge Fenster. Nachdem wir ausgepackt hatten, hab' ich einen der Sessel unter das Fenster geschoben, mich hineingesetzt und mir die Wolken angeschaut. Dirk war derweil 10


duschen, ich hatte also tatsächlich Ruhe. Es war herrlich. Dieser blaue Himmel. Und diese großen, weißen Wolken, die sich vom Wind jagen ließen. Und meine Gedanken sind mitgeflogen. Und Grüße an dich und Vincent hab ich einer besonders schönen Wolke mit auf den Weg gegeben. Ich hoffe, sie sind angekommen. Wolke und Grüße. Schon als Kind war ich fasziniert davon. Wir sind oft zu meinen Großeltern gefahren, es war jedesmal über eine Stunde zu fahren. Und da mir stets schlecht wurde beim Autofahren, durfte ich nicht lesen, nichts spielen und hatte nur den Blick aus dem Autofenster. Und du weißt selber, was es da die meiste Zeit zu sehen gibt. Felder, Wälder, Häuser, Tiere – und die Wolken 11


am Himmel. Schon damals habe ich mich auf Reisen begeben, habe das Land über den Wolken besucht, bin mit ihnen auf Reisen gegangen und habe mich dabei nie gelangweilt. Und diese Faszination ist bis heute geblieben. So war auch dieser Moment etwas ganz Besonderes für mich. So muss Meditation funktionieren. Leicht und unbeschwert fühlte ich mich – jedenfalls bis Dirk aus dem Bad kam. Kopfschüttelnd, weil ich unter dem Fenster saß. Und ob ich nichts besseres zu tun hätte. Als ich verneinte, hat er mich vermutlich für verrückt erklärt. Aber weißt du was? In diesem Augenblick war es mir vollkommen egal. Abends hätte ich am Liebsten das ganze Bett unter das Fenster geschoben, aber 12


das hätte Dirk nicht verstanden. So hätten wir aber wenigstens unter dem Sternenhimmel poppen können. DAS hätte mir gefallen. So war es nur die übliche Rein-raus-Nummer, auf die Seite drehen und einschlafen. Und ich bin leise wieder aufgestanden, hab mich in mein Oberbett gewickelt, in den Sessel gesetzt und mir die Sterne angeschaut. Und es waren eine ganze Menge Sterne. Sogar meine Dämonen schwiegen, so ergriffen waren sie von dem Anblick. Und ich hab einfach all die Fragen und Gedanken hinauf geschickt, auf dass sie sich in den Weiten des Alls verlieren mögen. Ich bin dann nur leider darüber eingeschlafen. Was glaubst du, was ich mir deswegen heute Morgen schon alles anhören musste. Na, prima, dass ich Dirk 13


erheitern konnte. Er wird noch lange darüber lachen. Aber, ob du es glaubst oder nicht: Es war mir egal. Ist das jetzt der Anfang vom Ende? Oder der erste Schritt in eine bessere Ehe, weil ich gelassener bin? Ich lass mich überraschen. Jetzt muss ich los, wir wollen heute auswärts essen. Ohne Kinder. Hach, das wird herrlich. Liebe Grüße Sonja

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06. Januar Liebe Judith, der Abend war ein Katastrophe. Jedenfalls für mich. Dirk war richtig gut drauf und begann irgendwann, Pläne zu schmieden. Im Sommer möchte er noch mal in Urlaub. Campen. Ich hasse Camping. Und wegziehen möchte er auch. Am liebsten auf eine einsame Insel. Nur er, ich und die Kinder. Und in mir stieg Panik auf. Ich allein mit ihm und den Möppeln? Mein erster Gedanke war: Nichts wie weg! Mein zweiter: Nee, komm, bleib ruhig, einsame Inseln wachsen nicht auf Bäumen, also zieht ihr da auch nicht hin. Doch für mich war der Abend gelaufen. Seltsam. Und da in mir schon 15


wieder seltsame Gedanken hochkamen, trank ich lieber noch etwas Wein. Und noch etwas mehr. Judith, ich war regelrecht blau. Und auf dem Heimweg sind wir ständig stehen geblieben und haben geknutscht wie Teenager. Man kann sich also sogar den eigenen Ehemann schön trinken. Doch auch das hielt nur solange an, bis er mich im Bett bestieg. Jawohl, anders kann ich es gar nicht ausdrücken. Er rutschte auf mich drauf und als er fertig war, rollte er sich auf die Seite und schnarchte. Ich schlief dann zwar selber sehr schnell ein, noch ehe mich die Dämonen erreicht hatten, doch ich hatte nur einen Satz im Kopf. Mit dem bin ich heute Morgen auch wieder aufgewacht. Lauf weg, solange du noch kannst. 16


Ist das nicht seltsam. Fluchtgedanken angesichts des eigenen Ehemanns? Aber so schlecht finde ich die Idee gar nicht. Nur – wo soll ich hin? Ich wollte zwar schon immer weg aus dem Stadtteil, in dem wir wohnen, obwohl ich die meiste Zeit meines Lebens dort verbracht habe. Oder vielleicht gerade weil ich schon ewig dort wohne. Ich weiß es nicht. Nur – wenn ich jetzt daran denke, nach Hause zurück zu fahren, schnürt es mir die Kehle zu. Seltsam. Ist es nicht meine Heimat? Der Ort, an dem ich geboren wurde. An dem ich aufgewachsen bin. An dem ich lebe, seit ich denken kann. Und doch kommt er mir vor wie der Dreck, den ich nicht von den Hacken bekomme. Mir wird noch ganz schwurbelig vom vielen Denken … 17


Ich muss jetzt aufhören, wir wollen nach dem Frühstück noch an den Strand. Es ist zwar neblig heute, aber ich glaube, der Spaziergang wird mir gut tun. Einmal die Seele entlüften, bitte. :) Liebe Grüße Sonja

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06. Januar Liebe Judith, du glaubst nicht, was vorhin passiert ist. Wir waren doch spazieren. Am Strand. Es war irgendwie irre, denn es war total neblig. Das Nebelhorn vom Leuchtturm tutete die ganze Zeit und mir war ein bisschen mulmig. Ich war heilfroh, mich an Dirks Hand festhalten zu können. Na, und auf einmal stoße ich mit dem Fuß gegen etwas, das halb im Sand eingegraben war. Und wie ich nachschaue, was es ist, finde ich eine Flasche. Ziemlich alt, denn das Glas war blind, aber sie war verschlossen. Sogar versiegelt. Ich hab sie geschüttelt, 19


aber es war nichts zu hĂśren, und dann hat Dirk sein Taschenmesser aus der Hosentasche geholt und den Korken abgepfriemelt. Es war ein Zettel drin, aber den bekamen wir nicht hinaus, und so haben wir die Flasche erst mal mitgenommen, denn ich mochte sie nicht kaputt machen. Auf dem Zimmer haben wir dann so lange rumprobiert, bis ich mir schlieĂ&#x;lich von unserer Pensionswirtin eine Stricknadel ausgeliehen habe. Ein Hoch auf die Handarbeit. Jedenfalls bekamen wir den Zettel letztendlich heraus. Du rätst nie, was darauf stand (mein Herz klopft jetzt noch ganz aufgeregt). Es waren nur ein paar Worte, doch sie fuhren mir mitten hinein in meinen Bauch. Erinnerst du dich, was ich dir 20


heute Morgen schrieb? (So du es überhaupt schon gelesen hast. Wenn nicht, dann lies es jetzt bitte unbedingt, bevor du weiter liest. Sonst verstehst du meine Aufregung nicht.) Fertig? Nun, auf dem Zettel stand – halt dich fest, denn dort stand: „Heimat ist kein Ort. Heimat bin ich selbst.“ Ist das die Antwort auf meine Fragen? Ich muss darüber nachdenken … Liebe Grüße Sonja

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07. Januar Liebe Judith, ich bin bereits wieder zuhause. Jetzt fragst du dich natürlich, wie es dazu kam. Nun, ich will es dir erzählen … Die Worte von dem Zettel gingen mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf. Dirk hat sich darüber nur mokiert – ich weiß nicht, was er erwartet hat, in der Flasche zu finden. Vermutlich eine Schatzkarte oder einen uralten Brief von jemand ungeheuer Wichtigem, den er zu Geld hätte machen können. Irgendetwas in der Art. Kein Wunder, dass er das Interesse an dem Zettel verlor. Im Gegensatz zu mir. Der restliche Tag lief irgendwie an 22


mir vorbei, ich mein, wir haben schätzungsweise etwas unternommen, es klarte ja auf und wurde noch ein richtig schöner Tag. Aber ich war nur körperlich anwesend, mein Geist weilte in anderen Sphären. Seltsamerweise hat Dirk davon nichts bemerkt. Oder es hat ihn nicht interessiert. Jedenfalls benahm er sich wie immer, beklagte sich über die Arbeit, über das Wetter, plante irgendwelche Urlaube und seinen Ruhestand und ich hörte längst nicht mehr zu. Aber das sind stets seine Themen, daher glaube ich nicht, dass er plötzlich neue Erkenntnisse von sich gegeben hat. Falls doch, habe ich sie eben versäumt. Macht auch nichts. Abends waren wir im Kino, in einem Film, den er unbedingt sehen wollte und 23


der mich nicht die Bohne interessierte. Und ich bin tatsächlich dabei eingeschlafen.

Dirk hat es nicht

gemerkt. Erst als der Film zu Ende war, fiel ihm auf, dass ich ihm die ganze Zeit nicht geantwortet hatte. Blitzmerker! *lach* Zurück auf unserem Zimmer küsste er mich und begann, mich auszuziehen. Doch ich brüskierte ihn, denn ich stieß ihn zurück, zog mich wieder an und verkündete ihm, dass ich noch mal spazieren gehen wolle. Der Blick, den er mir zuwarf, wird mir stets im Gedächtnis bleiben: Eine Mischung aus Unglauben, Eifersucht und Wut. Doch ich scherte mich nicht drum, nahm meine Dämonen, die schon in den dunklen Ecken lauerten, an die Hand und verließ mit ihnen das 24


Zimmer. Am Strand war es still und finster. Kein Mond am Himmel, dafür Myriaden von Sternen. Es war gigantisch. Ich schaute schon während des Laufens beständig nach oben und hatte wahrlich Glück, dass ich nicht gestolpert bin. Und dann warf ich meinen ersten Blick auf das Meer, dass irgendwo in der Schwärze vor mir rauschte. Judith, es war unglaublich! Ich habe nie gewusst, dass die Wellenkämme in der Dunkelheit leuchten, und nun sah ich es mit eigenen Augen. In dem Moment verlor alles seine Bedeutung, ich schloss meine Dämonen in die Arme und beantwortete all ihre Fragen. Vermutlich habe ich Dirk mal geliebt, vielleicht aber auch nur die Vorstellung, für meinen Sohn einen Vater 25


zu finden. Und Dirk schien ein geeigneter Kandidat zu sein. Doch es gibt nichts, das uns verbindet. Außer der Kinder. Was ein bisschen wenig ist. Zu wenig, um darauf eine gemeinsame Zukunft zu begründen. Denn irgendwann sind die Kinder groß und aus dem Haus. Und dann? Was bleibt dann noch übrig? Ich weiß es jetzt: Nicht das Geringste. Warum also unnötig Zeit verschwenden? Und wenn ich selbst meine Heimat bin, dann ist es weniger wichtig, wo ich mich befinde, sondern mit wem ich dort bin. Und wenn wir in unseren Herzen unterschiedliche Orte bewohnen, dann kann es keine gemeinsame Heimat geben. Das habe ich erkannt – und deshalb fuhr ich zurück. Alles andere ist nicht wichtig, was 26


vergangen, diente nur dazu, mich zu der zu machen, die ich bin. Es hat keinen Zweck, verpassten Gelegenheiten hinterher zu trauern, denn sie sind vorbei. Was wäre wenn spielt keine Rolle für die Vergangenheit, sondern allein für die Zukunft. Denn in ihr werde ich leben. Hat mal ein kluger Mensch gesagt, ich weiß nur nicht mehr wer. :) Und irgendwann werde ich am Meer leben. Weißt du, die Nacht gestern, dieser Moment allein am Strand – das will ich haben können, wann immer ich das Bedürfnis danach verspüre. Denn da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, mich meinen Dämonen stellen zu können. Sie besiegen zu können. Und genau das hab ich dann ja auch geschafft. Endlich. Und ich werde am Meer leben, weil ich 27


tief in mir spüre, nein, weiß, dass es der einzige Ort ist, an dem ich mich wirklich finden kann. Oder einfach nur, weil es gigantisch war … Liebe Grüße deine „neue“ Freundin Sonja

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